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Zur Debatte um Männergesundheit

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Männer sterben früher als Frauen, betreiben zu wenig Prävention, leiden unter Wechseljahren-für-den-Mann – die Presse ist voll solcher Diagnosen. Das interessante und widersprüchliche Politikfeld Gesundheit wird durch die Geschlechterbrille noch interessanter und widersprüchlicher, zumal wenn diejenigen in den Blick geraten, die bisher gerade nicht als „Geschlechtswesen“ galten. Willkommen in der Debatte um Männergesundheit.

Das Thema Männergesundheit wird auf verschiedene Arten mit geschlechterpolitischen Zielen und (anti)feministischen Argumenten verknüpft. Die einen sehen im Thema Männergesundheit einen „Türöffner“, ein Thema, das Männern Gleichstellungspolitik näher bringen kann: es soll ihnen anschaulich machen, inwiefern „Geschlecht“ sie direkt betrifft und ihnen eine Beschäftigung damit etwas bringen kann. Die anderen verweisen auf Problemfelder der Männergesundheit und sehen darin Belege für die Benachteiligung von Männern. Dass nicht genug unternommen werde, diese Probleme zu beheben, rechnen manche mit den Benachteiligungen von Frauen auf – in Wahrheit seien Männer das diskriminierte Geschlecht.

In diesem Spannungsfeld stellt Männergesundheit ein zentrales Thema von Männerpolitik dar, weshalb eine Analyse politisch wichtig ist. In den letzten Jahren sind die Auseinandersetzungen um Gleichstellungspolitik und den Status von Männerpolitik generell intensiver geworden: So finden sich regelmäßig antifeministische Polemiken in der Mainstream-Presse. Die Gleichstellungsministerin Schröder entfernt sich noch weiter von jeglicher systematischer Gleichstellungsstrategie als ihre Vorgängerin von der Leyen und versucht sich gleichzeitig über eine angeblich neue „Jungen- und Männerpolitik“ zu profilieren. Um die Debatte um Männergesundheit besser verstehen zu können, lohnt es sich, einen Schritt zurück in die Geschichte der Verknüpfung von Geschlecht und Gesundheit zu gehen.

Das geschlechtslose männliche bürgerliche Subjekt

Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wird die Gesundheit der Bevölkerung zur politischen Größe – sie wird statistisch erfasst und beispielsweise durch Hygiene zu beeinflussen versucht. Diese Biopolitik ist zum einen ökonomisch funktional, zum anderen entsteht in diesem gesundheitszentrierten Bezug auf den eigenen Körper ein bestimmtes Subjekt: das bürgerliche Subjekt.

Bislang ist in diesem historischen Abriss Geschlecht nicht explizit genannt worden; das ist nicht zufällig so. Denn die zeitgenössischen Vorstellungen von Bürgern sowie Menschen waren androzentrisch, das heißt: Mensch bedeutete Mann und Mann bedeutete Mensch, und daneben gibt es noch Geschlechtswesen – Frauen. Die argumentativen Bemühungen, mit denen Frauen von den „Menschenrechten“ ausgeschlossen wurden oder ihnen aufgrund biologischer Merkmale bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden, fasst die Soziologin Claudia Honegger als „weibliche Sonderanthropologie“ zusammen.

Die Frau als wandelndes Risiko mit 150 Jahren Vorsprung

Während der bürgerliche Mann die Norm eines geschlechtlich unmarkierten autonomen Subjekts mit einem rationalen, funktionalen Körperbezug darstellt, gelten Frauen als irrational, schwach, abhängig, unfähig zu diesem und jenem etc. pp. Sie seien determiniert durch ihren Körper; ja Krankheit und Körperlichkeit generell wurde mit Weiblichkeit, das heißt Unmännlichkeit verbunden. Dieser Androzentrismus ist nicht allein patriarchal gegen Frauen gerichtet, wie die Philosophin Andrea Maihofer betont, sondern diszipliniert gleichzeitig den bürgerlichen Mann und dient der Abgrenzung gegenüber Männern aus Adel, Arbeiterklasse und Bauernschaft. Die Disability Studies betonen zudem, dass diese bürgerlichen Autonomienormen massiv Menschen und Erfahrungen ausschließen. Abhängigkeit wird abgewertet und tabuisiert, obwohl sie – nicht nur im Fall von Kindern und alten Menschen – zutiefst menschlich ist.

Für die Betreuung der Körper ist die Medizin zuständig – und der bürgerliche Männerkörper galt als quasi geschlechtslose Norm, während der Frauenkörper zum Objekt der Medizin gemacht wurde. Durch diese „asymmetrische Medikalisierung“, wie es der Soziologe Torsten Wöllmann nennt, ist das gesamte Themenfeld Gesundheit bis heute stark vergeschlechtlicht. Doch es gab auch Widerstand.

Soziale Bewegungen rund um Gesundheit und Geschlecht

In den Sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren wurde aus verschiedenen Perspektiven Kritik am Medizinsystem geäußert. Die Gesundheitsbewegung kritisierte Fremdbestimmung durch eine bürokratische, kontrollierende, ökonomisierte Medizin. Sie setzte dem klassisch biomedizinischen Gesundheitsverständnis als „Abwesenheit von Krankheit“ ein ganzheitlicheres Verständnis von Gesundheit entgegen, das Selbstbestimmung und Partizipation einschloss. Im Rahmen der feministischen Bewegungen skandalisierte die Frauengesundheitsbewegung die androzentrischen Traditionen der Biomedizin. Sie setzte dem pathologisierenden Blick des Experten eine auf Selbsterfahrung und Selbstbestimmung basierende Wiederaneignung des weiblichen Körpers entgegen. Sie baute Unterstützungsstrukturen wie Frauengesundheitszentren auf, die sich über die Jahre professionalisierten und ausdifferenzierten. Die Frauengesundheitsforschung untersuchte beispielsweise geschlechtsspezifische Krankheitsverläufe wie frauenspezifische Symptome bei Herzinfarkt, die häufig unerkannt geblieben waren. Auf diesem Weg gelang es, Geschlechterfragen in Medizin und Gesundheitswissenschaften einzubringen, bis hin in die staatliche Gesundheitsberichterstattung, so dass seit Ende der 1990er Jahre Frauengesundheitsberichte erarbeitet wurden. Dadurch öffneten sie zudem Türen, auch die gesundheitliche Lage von Männern durch die Geschlechterbrille zu betrachten.

Jetzt neu: Männer als Geschlechtswesen

In den 1970ern entstanden Männerbewegung(en) und Männergruppen als Reaktion auf die Frauenbewegungen, die Fragen des Geschlechterverhältnisses politisiert und dabei auch Kritik und Forderungen an Männer artikuliert hatten, sowie auf die Schwulenbewegung, die besonders die unhinterfragte Heterosexualität und Homophobie als Element von Männlichkeit kritisiert hatte. Manche Teile dieser Männerbewegungen verstanden sich als antisexistisch und (pro)feministisch, während andere sich unter dem Label „Maskulinismus“ gegen Feminismus verwehrten. Unterstützt und über den kleinen Kreis von Männergruppen hinaus verbreitet wurde dieser Diskurs durch das Genre der „Männerverständigungsliteratur“, wie es der Soziologe Michael Meuser nennt. Diese teils sehr erfolgreichen Bücher boten den Betroffenen Orientierungshilfe und Rat. Betroffene waren diejenigen Männer, denen „Fraglosigkeiten zumindest tendenziell abhanden“ kamen, und die sich deshalb darüber verständigen, was es heißt, nun Geschlechtswesen Mann zu sein. Dabei ging es zentral auch um Unzufriedenheit über Aspekte der traditionellen Männerrolle“. Dieser rollentheoretische Rahmen und die oft vereinheitlichenden Vorstellungen von Männern sind aus heutiger Sicht wenig überzeugend. Die Soziologin Raewyn Connell, eine der global bekanntesten Männerforscher_innen, betont dennoch den Einfluss dieser Bücher: „Einer der wenigen überzeugenden Aspekte der Männerrollenliteratur [...] ist die Auflistung der Probleme mit dem männlichen Körper, von Impotenz und Altern bis zu beruflichen Gesundheitsrisiken, Verletzungen durch Gewalttätigkeit, dem Verlust sportlichen Könnens und frühem Tod. Warnung: Die männliche Geschlechtsrolle kann Ihre Gesundheit gefährden.“ Auch diese Quelle speist also die Debatte um Männergesundheit.

Nachholende Medikalisierung der Männer

Hinzu tritt eines der beliebtesten Spiele im Spätkapitalismus der gesättigten Märkte: die Zielgruppenausdifferenzierung. Warum nicht das gleiche Auto, das gleiche Telefon, das gleiche kalorienreduzierte Colagetränk nochmal rausbringen für eine geschlechtlich bestimmte Zielgruppe? Das klappt besonders überzeugend dort, wo an das alte Argument der aufgrund der Anatomie grundlegend unterschiedlichen Geschlechter angeknüpft werden kann, also besonders mit den Produkten, die irgendwie körpernah sind, wie Pflege- und Pharmaprodukte. Der Erfolg von Viagra hat es vorgemacht, und weitere Produkte wie Hormonersatztherapien für die männlichen Wechseljahre oder Anti-Aging-Präparate streben auf diesen Markt. In den Gesundheitswissenschaften wird bereits vor der Kommerzialisierung des Themas Männergesundheit gewarnt, und Wöllmann bilanziert: „Mit gut 150jähriger Verzögerung und unter gründlich gewandelten Bedingungen erobert die Biomedizin nach dem Frauenkörper nun den Männerkörper.“

Männergesundheitsbewegte sollten entsprechenden Markterschließungsstrategien kritisch gegenüberstehen, statt die Versorgung auf diesem „Stand der Medizin“ zu fordern. Auffällig ist, wie diese Strategien an bestimmten Männlichkeitsnormen anknüpfen; sie schlagen Profit aus der Angst, ihnen nicht zu genügen. So geht es oft um das Altern, Nachlassen von Kräften, Potenzverlust, Autonomieverlust, bzw. das Versprechen, all dies medizinisch verhindern zu können. Hier wird genau die Medikalisierung von Prozessen des Lebens nachgeholt, der Frauen in der androzentrischen Medizin unterworfen waren.

Amalgam aus Biopolitik, (Anti)Feminismus und Selbstsorge

Die Lage der Männergesundheit ist also von unterschiedlichsten politischen Entwicklungen beeinflusst: jahrhundertealte Androzentrismen, biopolitische Interessen, feministische Politisierung von Geschlechterfragen, Männerbewegungen verschiedener Couleur, kommerzielle Markterschließung. Entsprechend finden sich in den Bestandsaufnahmen und der Debatte die interessantesten Mischformen von Argumentationen. Die Überschneidungen dieser verschiedenen historischen und politischen Prozesse müssen für eine Kritik auf der Höhe der Zeit mitbedacht werden.

Das bedeutet, die historischen Hintergründe des Androzentrismus und seine heutigen Auswirkungen ernst zu nehmen. Sollten sich beispielsweise Männer am häufigeren Arztbesuch, an der niedrigeren „Arztschwelle“ von Frauen orientieren, oder ist diese nicht eher eine Folge von Medikalisierungen? Ist für die Ignoranz gegenüber bestimmten Problemen der Männergesundheit tatsächlich der Feminismus verantwortlich zu machen – oder nicht eher das Fortbestehen der dargestellten Männlichkeitsnormen, die die Thematisierung von Krankheit, Verletzlichkeit, Schwäche, Abhängigkeit verhindern? Diese Männlichkeitsnormen sind direkt mit Normen von Klasse, Behinderung/ Befähigung, Heterosexualität verbunden. Essentialisierende Diagnosen über „die Männer“ sind deshalb kaum überzeugend. Die geringere Lebenserwartung von Männern beispielsweise ist extrem stark durch ihre Klassenzugehörigkeit beeinflusst. In einem binären Verständnishorizont, in dem Benachteiligung nur als Nullsummenspiel zwischen zwei biologisch definierten Hälften der Bevölkerung gedacht werden kann, können solche Probleme weder benannt noch angegangen werden.

Die kritische Perspektive auf das neoliberale Aufgreifen der gesundheitsbewegten Forderungen nach Selbstbestimmung darf auch nicht vergessen werden. Die Gesundheits-Unternehmer ihrer selbst unterstehen teils neuen, teils aus der Tradition bürgerlicher Subjektivität bekannten Normen der Eigenverantwortlichkeit, Rationalität und Autonomie. Dass Selbstsorge durchaus emanzipativ sein kann, sollte uns nicht über unser Misstrauen hinweggehen lassen, wenn sie von uns gefordert wird.

Zum Weiterlesen

Sebastian Scheele: Geschlecht, Gesundheit, Gouvernementalität – Selbstverhältnisse und Geschlechterwissen in der Männergesundheitsförderung, Sulzbach, 2010

Mechthild Bereswill, Michael Meuser, Sylka Scholz (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, Münster, 2007 (darin insbesondere die Artikel von Michael Meuser und Torsten Wöllmann)

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Erschienen in arranca! #43

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