Reality Check

Einwanderungspolitik und migrantische Proteste in den USA

DruckversionEinem Freund oder einer Freundin senden

Ein Migrationsgesetz mit Schwachstellen sei besser als gar kein Gesetz. Darin waren sich – trotz vorangegangner Kontroversen – demokratische wie republikanische US-Senatoren einig, als der US-amerikanische Senat im Frühjahr dieses Jahres mit dem Gesetzesentwurf S 2611 seine Version einer »umfassenden Einwanderungsreform« vorstellte. Migrantische Gruppen, Community-Organisationen sowie Vertreter anderer kirchlicher und sozialer Gruppen in den USA sind da anderer Ansicht: Sie meinen, gar kein Gesetz sei besser als eines, das S 2611 und die Vorlage für eine neue Migrationsgesetzgebung mit dem militaristischen Titel »Border Protection, Antiterrorism and Illegal Immigration« (kurz HR 4437) kombiniert, die im Dezember 2005 vom Repräsentantenhaus verabschiedet worden war.
Die Coalition for Human Rights of Immigrants, eine landesweit agierende Organisation, die sich für die Rechte von MigrantInnen einsetzt, kommentierte S 2611: »Die Eile, ein parteiübergreifendes Übereinkommen bezüglich der Migrationgesetzgebung zu schließen, hat zu einem Kompromiss geführt, der tiefe Gräben innerhalb der MigrantInnen-Community aufwerfen und Millionen von nicht-legalisierten MigrantInnen ins Abseits stellen wird.« Mehr als zwölf Millionen Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere leben in den USA – Tendenz steigend. Die meisten von ihnen kommen aus dem Nachbarland Mexiko. Sie und ihre Familien sind bereits jetzt der Gefahr der Abschiebung und der Ausbeutung am Arbeitsplatz ausgesetzt. Einige Bestimmungen des so genannten Kompromisses S 2611 würden ihre Lage weiter verschlechtern.
So wäre es erstens möglich, nicht legalisierte MigrantInnen, die nicht nachweisen können, seit mindestens zwei Jahren in den USA zu leben – und das betrifft Schätzungen zufolge etwa eine Million Menschen – umgehend zu deportieren. Eine »Zwischenlösung« gälte hingegen für jene drei bis vier Millionen Menschen, die zwischen zwei und fünf Jahren in den USA leben: Sie müssten zunächst ebenfalls das Land verlassen, könnten aber dann durch ein bislang in den Einzelheiten völlig ungeklärtes Visa-Verfahren an der Grenze ihre Rückkehr in die USA beantragen. Dass an den Grenzposten mittelfristig ausreichend Kapazitäten geschaffen werden, um die Anträge hunderttausender Personen zu bearbeiten, ist stark zu bezweifeln – insbesondere angesichts der bereits jetzt üblichen mehrjährigen Bearbeitungszeit von Visaanträgen. Lediglich jene Minderheit von MigrantInnen, die nachweislich mehr als fünf Jahre in den USA leben, würden von S 2611 profitieren – sie könnten einen Antrag auf Legalisierung stellen Zweitens würde S 2611 ebenso wie HR 4437 den Druck und die Sanktionen gegen Unternehmen, die ArbeiterInnen ohne Aufenthaltserlaubnis beschäftigen, verstärken. Damit hätte die Sozialversicherungsbehörde quasi die Funktion einer Migrationspolizei: Sie erhielte die Aufgabe zu überprüfen, dass alle ArbeiterInnen über einen neuartigen Sozialversicherungsausweis verfügen, den nur erhält, wessen Aufenthaltspapiere in Ordnung sind. Auch würden die ArbeitgeberInnen verpflichtet, alle zu entlassen, deren Papiere fragwürdig erscheinen.
Drittens sieht der S 2611-Entwurf des Senats die Schaffung neuer »Gastarbeiterprogramme « vor, die es den Unternehmen erlauben, mit Hilfe zeitlich befristeter Visa Arbeitskräfte außerhalb der USA zu rekrutieren. Diese neuen VertragsarbeiterInnen könnten von den ArbeitgeberInnen leichter als bisher erpresst und unter Druck gesetzt werden, weil ihr Aufenthaltsrecht an den Arbeitsvertrag gekoppelt wäre. Zudem besteht die Gefahr, dass die geplanten Programme für MigrantInnen diejenigen verdrängen, die sich bislang in unbefristeten Festanstellungen befinden, wie Ana Avendaño vom größten US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO erklärt: »Die betreffenden Jobs haben bislang fest Angestellte, die über Arbeitsrechte verfügen und Sozialleistungen erhalten. Die Unternehmen würden mit Hilfe des Gastarbeiterprogramms versuchen, einen Großteil dieser Gruppe durch befristet angestellte migrantische VertragsarbeiterInnen zu ersetzen. Dadurch werden Millionen von Arbeitsplätzen aus dem Schutz des New Deal1 herausgenommen, der vor Jahrzehnten von den ArbeiterInnen erstritten wurde.«
Nicht zuletzt macht der Entwurf Dokumentenbetrug zu einer schweren Straftat und zu einem Abschiebegrund. Dies würde die Kriminalisierung mehrer Millionen migrantischer ArbeiterInnen bedeuten, die mit Hilfe gefälschter oder erfundener Sozialversicherungsnummern eine feste Anstellung erhielten. Deshalb befürchtet der »Asian American Legal Defense and Education Fund« (AALEDEF) aus New York eine »drastische Zunahme von Inhaftierungen und Deportationen sowie eine weitere Militarisierung der Grenze zwischen den USA und Mexiko«, wie es in einer Publikation der Stiftung heißt. Das einschlägig bekannte Halliburton-Unternehmen soll bereits den Auftrag für den Bau von Inhaftierungseinrichtungen nahe der mexikanischen Grenze bekommen haben.2

Arbeit, Arbeit, Arbeit I: MigrantInnen als mobiler Arbeitskräftepool

Die Proteste mehrerer Millionen MigrantInnen, insbesondere der Latinos/as, in den vergangenen Monaten machen deutlich, dass es an der Zeit ist, die aktuelle US-Migrationspolitik einem Reality-Check zu unterziehen: Selbst wenn sich die Grenze zwischen Mexiko und den USA mit Hilfe von Unternehmen wie Halliburton in ein bewaffnetes Abwehrund Arbeitslager verwandelt, werden weiterhin täglich tausende von Menschen in die USA kommen. Und zwar solange, wie die USA die mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA begonnene Politik der hierarchischen ökonomischen Integration Mittel- und Zentralamerikas und damit auch die Verarmung eines großen Teil der Menschen dieser Lände weiter betreibt.
Die Arbeit der MigrantInnen ist für viele US-amerikanische Industriezweige unverzichtbar. Darüber hinaus schaffen Abschiebungen und Arbeitsverbote erfahrungsgemäß keine Arbeitsplätze für Nicht-MigrantInnen. 1986 beispielsweise unterstützte die AFL-CIO ein Sanktionierungsgesetz gegen Unternehmen, die migrantische ArbeiterInnen ohne Arbeitserlaubnis beschäftigten. Man übte Druck auf die ArbeitgeberInnen aus, die nicht dokumentierten Beschäftigten zu entlassen. Die Gewerkschaft argumentierte, dass einheimische ArbeiterInnen mit korrekten Papieren und mit Arbeitsrechten ausgestattet diese Jobs dann bekommen könnten. Doch de facto wurden keine Jobs frei oder neue geschaffen, denn die Unternehmen nutzten das Gesetz, um die Löhne zu drücken und jene zu bedrohen, die ihre Rechte einforderten. 1998 forderte die AFL-CIO schließlich die Aufhebung dieser Sanktionen.
Die Aussicht auf billige Arbeitskräfte hat die Essential Worker Immigration Coalition, zu deren Mitgliedern Wal-Mart, Tyson Foods und 40 der größten US-amerikanischen ArbeitgeberInnen gehören, dazu gebracht, ein Gastarbeiterprogramm in bislang jeden Entwurf einer Einwanderungsreform einzubringen. Den Unternehmen mit einem neuen Gastarbeiterprogramm die befristete Anstellung von migrantischen Arbeitskräften anzubieten, trägt ebenfalls zur Lohndrückerei, Erpressung sowie zur Spaltung einheimischer und migrantischer ArbeiterInnen bei. Dies zeigen die Erfahrungen mit dem so genannten bracero- Programm: Zwischen 1942 und 1964 wurden etwa drei Millionen mexikanische LandarbeiterInnen (braceros) mit offiziellen Arbeitsgenehmigungen ausgestattet und für die US-amerikanische Agroindustrie rekrutiert. Wenn sie streikten, drohte ihnen die Abschiebung. Und wenn einheimische Landarbeiterinnen versuchten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, setzten die Landwirte braceros für sie ein.
Die Menschen werden auf der Suche nach Arbeit weiterhin die Grenze zwischen Mexiko und den USA überqueren. Die weitere Militarisierung der Grenze wird sie nicht vom Grenzübertritt abhalten. Sie werden stattdessen in entlegene und schwer zugängliche Grenzgebiete wie die Wüste zwischen USA und Mexiko abgedrängt, wo die Anzahl der Todesfälle permanent steigt.

Arbeit, Arbeit, Arbeit II: Die Forderungen der MigrantInnen-Lobby

1999 schlug die AFL-CIO eine so genannte Freiheitsagenda vor. Sie sah die Legalisierung von MigrantInnen, die Aufhebung der Sanktionen gegen Unternehmen, die Familienzusammenführung sowie die Stärkung und Durchsetzung von ArbeiterInnenrechten vor. Landesweit brachten Home Town Associations (HTA) und andere migrantische Organisationen Vorschläge ein, die die Rechte von MigrantInnen stärken sollten, ohne sie an Gastarbeiterprogramme oder betriebliche Sanktionierungsmaßnahmen zu binden. Die Indigenous Front of Binational Organizations beispielsweise forderte eine »Generalamnestie « nicht-legalisierter MigrantInnen. Diese Art der Legalisierung hat es in der Geschichte der USA mehrmals gegeben, das letzte Mal 1986 unter Präsident Ronald Reagan. Sie führte dazu, dass vier Millionen Menschen einen legalen Aufenthaltsstatus erhielten und sich als aktive Mitglieder in unseren Communities integrieren konnten. Viele von ihnen sind heute eingebürgert.
Die gemeinsame Basis für eine Einwanderungsreform muss also der Kampf um Jobs für alle sein. Auf Arbeitslosigkeit und die Konkurrenz um Arbeitsplätze mit Gastarbeiterprogrammen und Zwangsmaßnahmen zu reagieren, erzeugt jedoch Unsicherheit und Lohndrückerei. Stattdessen sollte erstens die Anzahl der Green Cards (Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen) erhöht werden. Dies würde auch den Druck zum illegalen Grenzübertritt vermindern.

Zweitens könnte eine Veränderung der kontinentalen US-amerikanischen Wirtschaftsund Handelspolitik den Migrationsdruck mindern. Abkommen wie NAFTA und das geplante zentralamerikanisch-dominikanische Freihandelsabkommen CAFTA fördern Armut und Niedriglöhne. Stattdessen sind Kleinkreditprogramme für mexikanische und zentralamerikanische KleinbäuerInnen vonnöten, insbesondere aber ein Stopp der durch NAFTA erleichterten billigen US-Maisexporte, sowie ein Ende der Privatisierungen in den Bereichen verarbeitende Industrie und Dienstleistungen, die zu Niedriglöhnen und Massenentlassungen geführt haben.
Vor allem aber benötigen wir ein breites Bündnis zwischen MigrantInnenrechtsgruppen, Bürgerrechts- und ArbeiterInnenorganisationen – ein Bündnis, das sich neben dem Kampf um Arbeitsplätze und höhere Löhne für alle auf die Forderungen nach einem legalen Aufenthaltsstatus und nach Bürgerrechten für MigrantInnen konzentriert. Das ist es, was jene Hunderttausende Menschen wollen, die im Frühjahr dieses Jahres im ganzen Land gegen beide Gesetzesentwürfe auf die Straßen strömten und es weiter tun: Wir haben eine Million Protestierende in Los Angeles gesehen, 500 000 in Chicago sowie Zehntausende, die in New York die Brooklyn Bridge überquerten. In San Francisco und in Bundesstaaten und Städten, in denen MigrantInnencommunities bisher praktisch unsichtbar waren, wie in North Carolina und Tennessee, in der Grenzstadt Tucson und in Arbeiterstädten wie Santa Rosa und Omaha gab es Hungerstreiks und Demonstrationen.

Überall im Land verurteilen MigrantInnen und ihre UnterstützerInnen die vom Repräsentantenhaus im vergangenen Dezember verabschiedeten drastischen Maßnahmen, die der Gesetzesentwurf HR 4437 vorsieht – insbesondere jene Bestimmung, die in den USA erstmals Menschen ohne gültige Ausweis- und Aufenthaltspapiere kriminalisiert. Die ungezählten DemonstantInnen weisen die Vorstellung zurück, dass die jahrelange Arbeit als billige/r und rechtlose/r Bracera/o – als Vertragsarbeiter/in – der einzige Weg sein soll, einen legalen Status für sich oder ihre illlegalisierten Freunde und Familienmitglieder zu erreichen. Sie schlagen eine andere Alternative vor: gleiche Rechte.
Die Proteste sind jedoch mehr als nur eine Reaktion auf die beiden Gesetzesinitiativen. Sie sind auch eine Antwort auf die jahrelanges Diskriminierung von MigrantInnen im Allgemeinen und Latinos/as im Besonderen. Die Proteste wirkten spontan. Sie sind aber gleichzeitig das Resultat jahrelanger – dezentraler – Organisierung und politischer Bewusstseinsarbeit, die den MigrantInnen Selbstvertrauen gegeben haben.

Insbesondere die Proteste am 1. Mai haben die wirtschaftliche Bedeutung der migrantischen Arbeitskräfte hervorgehoben: Nicht dokumentierte ArbeiterInnen haben bereits ihren Beitrag für das Wohl der Gesellschaft geleistet und sie haben für ihre Arbeitserlaubnis bereits gezahlt. Allein deshalb haben sie einen legalen Status verdient. So wird im Gegensatz zu den migrantischen ArbeiterInnen selber der von ihnen geschaffene Mehrwert nicht als »illegal« bezeichnet und niemand denkt daran, ihn den Unternehmen, die davon profitieren, wegzunehmen. Zudem ist der von nicht dokumentierten migrantischen ArbeiterInnen geschaffene Mehrwert besonders profitabel, weil diese Menschen entweder nicht sozialversichert arbeiten oder aber – wie im Fall der falschen Sozialversicherungsnummern – die von ihnen eingezahlten Beiträge nie erhalten können.
Durch die migrantischen Proteste im Frühjahr haben die ArbeiterInnen es geschafft, in die US-amerikanische Einwanderungsdebatte zu intervenieren und ihren gesellschaftlichen Beitrag sichtbar gemacht: Der »día sin immigrante « – der Tag ohne Immigrant – am 1. Mai, eine Art Generalstreik und kollektiver Konsumverzicht, bei dem die MigrantInnen von ihren Arbeitsplätzen, aus den Schulen und aus den Läden wegblieben, haben die Botschaft vermittelt, dass sich die MigrantInnen nicht aus der Migrationsdebatte ausschließen lassen.

Der vorliegende Beitrag ist eine übersetzte, leicht bearbeitete und gekürzte Version des Textes »Getting no Bill at all is better than Senate Bill,« von David Bacon, der im Mai 2006 in New American Media erschien.

 

Anmerkungen

1 Mit dem »New Deal« wurde von Präsident Roosevelt in den 1930er Jahren ein soziales Sicherungssystem eingeführt.

2 Der multinationale Ölkonzern baute beispielsweise das berüchtigte Gefängnis auf Guantanamo. Halliburton gehört nicht nur z.T. dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Dick Cheney, sondern ist in den vergangenen Jahren immer wieder wegen unlauteren Geschäftsmethoden, Korruption und katastrophalen Arbeitsbedingungen in die Schlagzeilen und ins Visier internationaler Ermittler geraten.

Trackback URL für diesen Artikel

https://arranca.org/trackback/453

Erschienen in arranca! #35

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
CAPTCHA
Diese Frage dient dazu, zu testen, ob sie ein Mensch sind. Auf diese Weise werden automatisch generierte Postings (Spam) vermieden.
Image CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild zu sehen sind.