Der Grosse Sprung auf den fahrenden Zug
China als globaler Akteur
Der rasante wirtschaftliche Aufstieg der Volksrepublik China wird im Westen in allen politischen Lagern mit einer gewissen Ratlosigkeit verfolgt: Während die Wirtschaftseliten die Chancen der Kooperation und die Gefahren der Konkurrenz erörtern, tut sich die Linke schwer mit dem Verständnis einer Entwicklung, die sie an das Scheitern eigener Hoffnungen und Träume erinnert. Erinnert sei an das Jahr 1971: Selten gab es auf einer UN-Vollversammlung so lebhaften Applaus wie bei der Aufnahme der Volksrepublik China. Vielen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt galt die chinesische Revolution als Vorbild, und auch in den Metropolen des Westens genoss das von Mao Zedong geführte Land nicht nur in der radikalen Linken Sympathien, sondern bis weit in den damaligen linksliberalen Mainstream der entwicklungspolitischen Diskussion hinein.
In Anknüpfung an die Imperialismusanalysen von Lenin und Mao vertraten namhafte neomarxistische TheoretikerInnen wie Samir Amin, Charles Bettelheim, Paul M. Sweezy und andere die Auffassung, dass in der zum Rohstofflieferanten degradierten Dritten Welt „Entwicklung“ überhaupt nur unter der Bedingung einer konsequenten „Abkopplung“ vom imperialistisch beherrschten Weltmarkt zugunsten einer „autozentrierten Entwicklung“ möglich sei. Im maoistischen Jargon hieß das „Sich auf die eigene Kraft stützen“. China galt als Erfolgsmodell eines alternativen sozialistischen Entwicklungswegs.
Machthaber auf dem kapitalistischen Weg
Entsprechend groß war die Irritation, als nach Maos Tod 1976 im Handumdrehen diejenigen ans Ruder gelangten, die in der vom „Großen Steuermann“ Mao zehn Jahre zuvor initiierten Kulturrevolution als „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ gebrandmarkt worden waren. Nach und nach wurde bekannt, dass die Realität in der Mao-Ära weitaus größere Schattenseiten aufwies, als man zuvor angenommen hatte. Mit Blick auf die in manchen Regionen tatsächlich immer noch prekäre Ernährungslage setzte der neue starke Mann Deng Xiaoping auf Pragmatismus: Sozialismus dürfe nicht die egalitäre Verteilung der Armut sein, sondern man müsse zunächst einige Leute reich werden lassen, damit dann alle reich werden. Die neue Politik der „Reform und Öffnung“ setzte auf Zusammenarbeit mit dem Westen und Lernen vom Kapitalismus.
Dieser Kurswechsel ist im Kontext von Entwicklungen zu verstehen, mit denen die Linke nicht gerechnet hatte: Gegen Ende der 1970er Jahre war einigen kapitalistischen Ländern Ostasiens, den so genannten Tiger-Staaten, ein unerwarteter wirtschaftlicher Aufschwung gelungen. Neue Technologieentwicklungen und Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung machten das bislang Unmögliche möglich: Einzelne Entwicklungsländer konnten mit exportorientierten Ökonomien, die neben Dosenspargel zunehmend High-Tech- Produkte anzubieten hatten, eine erfolgreiche Integration in den Weltmarkt vollziehen. Zur gleichen Zeit begann im Westen der Siegeszug des Neoliberalismus. Durch diese Entwicklung wurde um 1980 der Grundstein der kapitalistischen Globalisierung gelegt.
Die Volksrepublik China ist auf diesen Zug aufgesprungen. Frühkapitalistische „Sonderwirtschaftszonen“ wurden zum Versuchsballon für die Zusammenarbeit mit westlichen InvestorInnen und die Entstehung eines neuen Unternehmertums. Die Umstellung des Akkumulationsmodells ging einher mit einer Entkollektivierung der Landwirtschaft durch das neue „Haushalts-Verantwortlichkeitssystem“, das die bäuerlichen Familien als Wirtschaftssubjekte zur Bestellung des staatseigenen Ackerlands reaktivierte und zugleich die Grundlagen für eine Freisetzung neuer industrieller Arbeitskraft schuf.
Chinas Weg auf den Weltmarkt kulminierte um die Jahrtausendwende mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation. Die Resultate der marktorientierten Reformpolitik übertrafen die kühnsten Erwartungen. Dennoch ist bei allen Prognosen über die künftige Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft Vorsicht angebracht. Eine Hochrechnung der bisherigen Entwicklung legt zwar nahe, dass China in absehbarer Zeit zur zweiten Wirtschaftsmacht nach den USA und vor der Europäischen Union aufsteigen könnte. Jedoch sind solche Extrapolationen in Anbetracht zahlreicher Unwägbarkeiten kaum mehr als Kaffeesatzleserei: Niemand weiß zur Stunde, wie China beispielsweise sein demographisches Problem lösen wird (die zwingend notwendige Drosselung des Bevölkerungswachstums führt zu einem Umkippen der Alterspyramide).
Projektionsfläche Volksrepublik China
Exakte Vorhersagen über Chinas quantitatives Gewicht im kapitalistischen Weltsystem sind deshalb kaum möglich. Unabhängig davon bedarf seine politische Rolle als globaler Akteur der Klärung. Lässt man die verbliebenen Subkulturen der Realsozialismus-Nostalgiegemeinschaft beiseite, die heute China als neues sozialistisches Vaterland feiern, so dominiert in der westlichen Linken ein tiefes Misstrauen: China wird als turbokapitalistisches Billiglohnland wahrgenommen, das mit harter Hand von einer völlig verkommenen Politbürokratie regiert wird. Und zugleich dient China Alt-TrotzkistInnen und Neo-OperaistInnen als Projektionsfläche für den Traum von einem dort vermeintlich heranwachsenden wahrhaft internationalistisch- revolutionären Proletariat, das die neokapitalistische Bürokratie stürzen müsse. Die linken Regierungen Lateinamerikas dagegen betrachten China als wichtigen Bündnispartner, und der größte Teil der ungebrochen starken und populären kommunistischen Bewegung Indiens sieht in Chinas Reformpolitik nach wie vor ein Vorbild.
Die zwischen China und dem Westen (insbesondere den USA) schwelenden Konflikte sind kaum zu übersehen. Es fragt sich, wie sie zu bewerten sind. In den 1960er Jahren propagierte China eine durch „Volkskriege“ voranzutreibende Revolution der Dritten Welt gegen die imperialistischen Metropolen. Davon kann längst nicht mehr die Rede sein: Chinas internationale Politik kann kaum als „antiimperialistisch“ bezeichnet werden. In vielen Konflikten spielt China eine deeskalierende und vermittelnde Rolle. Die Spannungen zwischen China und den westlichen Blöcken sind andererseits aber auch nicht einfach als klassischer zwischenimperialistischer Konflikt zu bestimmen. China bekennt sich zu Marktwirtschaft und Freihandel und wirft den westlichen Machtblöcken vor, durch Protektionismus gegen ihre eigenen Prinzipien zu verstoßen. Das Ziel besteht nicht mehr in „Abkopplung“ der Entwicklungsländer vom Weltmarkt, sondern darin, der Dritten Welt im Rahmen des Weltmarkts faire Chancen einzuräumen.
Zwischen Kooperation und neuen Abhängigkeiten
Natürlich ist Chinas Engagement nicht uneigennützig, sondern es geht vor allem um die Deckung des wachsenden Energiebedarfs, sprich: um Öl. Wenn Chinas Kooperation mit Entwicklungsländern, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, von den ehemaligen westlichen Kolonialmächten als „Neokolonialismus“ gescholten wird, liegt die Heuchelei auf der Hand; allerdings bietet das Verhalten chinesischer Unternehmen oft genug Anlass zu solchen Assoziationen. Dennoch betonen afrikanische Regierungen, dass China ihnen gerechtere und vorteilhaftere Handelsbedingungen bietet als die USA und die EU, denn – China schottet seinen Markt viel weniger gegen Industrieprodukte aus der Dritten Welt ab. So ist Chinas Rolle in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen ambivalent. Sie umfasst Chancen einer eigenständigen Kooperation ebenso wie die Gefahr neuer Abhängigkeitsverhältnisse.
Welche Tendenz die Oberhand gewinnen wird, hängt nicht zuletzt von Chinas innenpolitischer Entwicklung ab, die im Westen kaum wahrgenommen wird. In den zwei Jahrzehnten unter der Führung von Deng Xiaoping und Jiang Zemin setzte Chinas Regierung auf Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Die sozialen und ökologischen Folgen waren katastrophal. Unter Staats- und Parteichef Hu Jintao und dem als „Populist“ geltenden Ministerpräsidenten Wen Jiabao führten wachsende soziale Unruhen in den letzten Jahren zu einer deutlichen Kurskorrektur: Es geht um einen neuen sozialen Ausgleich und die Herausbildung eines ökologisch nachhaltigen Wachstumsmodells.
Insbesondere wurde deutlich, dass die Probleme der Landbevölkerung nicht durch weitere Arbeitsmigration in die Städte gelöst werden können, sondern der Staat den ländlichen Gebieten eine eigene Entwicklungsperspektive bieten muss. Dabei spielen kooperative und genossenschaftliche Wirtschaftsformen eine wichtige Rolle. Das vielleicht typischste Charakteristikum des „Sozialismus chinesischer Prägung“ besteht in einem für Entwicklungsländer einzigartigen Industrialisierungsgrad ländlicher Räume. Hier liegt trotz aller Brüche eine wesentliche Kontinuität von der Mao-Ära bis in die Gegenwart mit Modellcharakter für die Dritte Welt.
Weiterhin Modellcharakter für die Dritte Welt
Aus weit in die Geschichte zurückreichenden Gründen ist Chinas politische Elite von einer tief sitzenden Furcht von „Unruhe“ und „Chaos“ besessen. Ihr Handeln bleibt paternalistisch. Hu Jintaos Programm einer „harmonischen Gesellschaft“ entspringt dem Geist des Konfuzianismus. Eine auf der kommunalen Ebene ansetzende kontrollierte Demokratisierung soll der Bevölkerung Möglichkeiten konstruktiver Partizipation ermöglichen. Im Bereich der Gesetzgebung sind signifikante Fortschritte in Richtung auf Rechtsstaatlichkeit erzielt worden; dem steht jedoch in der Praxis nach wie vor die Willkürherrschaft korrupter lokaler Machteliten gegenüber. Deutlich geworden ist inzwischen auch die tiefe Gespaltenheit der allmächtigen KP: Den technokratischen und neoliberalen Kräften tritt ein linker Flügel mit wachsendem Selbstbewusstsein entgegen, den die zentristische Führung ernst nehmen muss.
Abzuwarten bleibt, ob die unaufhaltsame Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen Handlungsräume für autonome soziale Bewegungen schaffen wird. Chinas künftige Rolle als globaler Akteur wird nicht zuletzt davon abhängen, welche lokalen Akteure in China auf den Plan treten werden.
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Erschienen in arranca! #36
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