Die Grosse Mauer des Kapitals
Über die Abschottung des Neoliberalismus durch neue Eiserne Vorhänge
Als die glückstrunkenen Massen 1989 die Berliner Mauer zu Fall brachten, erhofften sich viele eine Ära grenzenloser Freiheit, versprach doch die Globalisierung ein Zeitalter beispielloser Mobilität. In Wirklichkeit jedoch hat der Triumph des neoliberalen Kapitalismus die größte Welle von Mauerbauten in der Geschichte ausgelöst. Ein Dutzend Länder ist derzeit damit beschäftigt, seine jeweilige Version der Berliner Mauer oder des Eisernen Vorhangs zu errichten.
Saudi-Arabien beispielsweise hat entlang der Grenze zu Jemen eine „Trennmauer“ errichtet, die angeblich „Terroristen“, illegale Einwanderer und Khat-Schmuggler fernhalten soll. Indien zog eine Erdmauer durch Kaschmir. Botswana baut einen elektrischen Zaun entlang seiner Grenze zu Simbabwe. Und es wäre ein Leichtes, diese Liste zu verlängern. Eine Mauer von wahrhaft tragischer Ironie ist diejenige Ariel Scharons, da sie im Namen eines Volkes errichtet wird, das mehr als jedes andere in der Geschichte unter undurchlässigen Grenzen gelitten hat.
Doch derartige innere Grenzen verblassen neben der großen kapitalistischen Mauer, die heute die arme Bevölkerungsmehrheit des Planeten brutal von ein paar Dutzend reichen Ländern trennt. Diese Mauer zieht sich über den halben Planeten und riegelt mindestens 12.000 Kilometer Festlandsgrenze ab. Für die verzweifelten illegalen GrenzgängerInnen ist sie wesentlich lebensgefährlicher als einst der Eiserne Vorhang. Die große kapitalistische Mauer besteht aus drei kontinentalen Regimen der Grenzsicherung: der US-amerikanischen frontera, der Festung Europa und dem, was man die Howard-Linie nennen könnte, die das weiße Australien von Asien trennt.
Operation Gatekeeper
Wer von Tijuana nach San Diego einreist, sieht ein riesiges Plakat, das einen „Stopp der Grenzinvasion!“ fordert. Dieser Slogan findet in den USA immer mehr Zustimmung. So hat das Repräsentantenhaus beschlossen, die Grenze zu Mexiko auf einer Länge von 1.125 Kilometern durch einen Zaun zu befestigen. Bislang waren nur etwa drei Prozent durch Überwachungsanlagen gesichert. Seit der Operation „Hold the Line“ im Grenzabschnitt von El Paso 1992 und der Operation „Gatekeeper“ in San Diego haben die Grenzpatrouillen der illegalen Einwanderung den Krieg erklärt. Das bislang dramatischste Symbol dieser Politik befindet sich zwischen San Diego und Tijuana: eine dreifache, 4,5 Meter hohe Stahlmauer, zum Schutz vor Untertunnelungsversuchen tief in den Erdboden eingelassen und bewacht von einem Riesenaufgebot an GrenzpolizistInnen.
Im Unterschied zur restriktiven Grenzpolitik der EU hat die Grenze zwischen den USA und Mexiko stets wie ein guter Damm funktioniert, der den Strom überschüssiger ArbeiterInnen nach Norden reguliert, aber nicht unterbindet. So führte die US-Einwanderungsbehörde während der Rezession der frühen 1990er Jahre umfangreiche Razzien gegen Firmen mit Latino- Belegschaft durch. In den Boomjahren der späten 1990er Jahre hingegen wurden diese Kontrollen eingeschränkt, um der steigenden Nachfrage nach Niedrigstlohn-Arbeitskräften gerecht zu werden.
So gesehen handelt es sich bei den mittelalterlich anmutenden Befestigungsanlagen, die sich in San Diego und ähnlich auch in Arizona und Texas finden, um politische Kulissen. Die Operation Gatekeeper zum Beispiel wurde durch die Clinton- Regierung ins Leben gerufen, um den kalifornischen Republikanern die Grenzthematik aus der Hand zu schlagen. Die Verdreifachung der Mauer unter George W. Bush hingegen ist den Konservativen zu verdanken, die ihre noch größere Rigorosität in der Grenzfrage unter Beweis stellen wollten. Wohlgemerkt: Für dieses politische Theater haben Einwanderer ihr Leben lassen müssen. Schätzungen zufolge sind in den letzten zehn Jahren 3.000 bis 5.000 Menschen ums Leben gekommen – in Güterwagen erstickt, in Kanälen ertrunken, an Hitzschlag gestorben oder in den Lagunabergen östlich von San Diego erfroren. Andere starben bei Verfolgungsjagden mit der Grenzpolizei bzw. – wie MenschenrechtsaktivistInnen berichten – sie wurden von Bürgerwehren in Arizona ermordet.
Dieses offiziell nicht verzeichnete Gemetzel ist der Preis für das Gleichgewicht zwischen dem wählerwirksamen Bild strenger Grenzkontrollen und einem heimlichen Markt für billige Arbeitskräfte. In Washingtoner Denkfabriken favorisiert man derzeit eine Kombination aus verstärkten Grenzschutzmaßnahmen und einem legalen Gastarbeiterstatus für mexikanische Einwanderer. Der Plan der Republikaner, papierlosen Einwanderern einen befristeten Gastarbeiterstatus anzubieten, könnte fast als Geste des Mitgefühls gedeutet werden. Doch tatsächlich dient dieses Angebot als Köder, um Papierlose aus der Anonymität zu locken und sie noch systematischer überwachen zu können.
Die äußerste Ironie besteht jedoch darin, dass – fast unbemerkt – tatsächlich so etwas wie eine „Grenzinvasion“ im Gang ist. Denn während sich all die Kindermädchen, Köche und Dienstmädchen gen Norden aufgemacht haben, um den luxuriösen Lebensstil wütender Republikaner aufrechtzuerhalten, sind Horden von Gringos in Richtung Süden gestürmt, um ihren Ruhestand unter der mexikanischen Sonne zu genießen. Schätzungen des US-Außenministeriums zufolge hat die Zahl der in Mexiko lebenden AmerikanerInnen im Lauf der letzten zehn Jahren sprunghaft von 200.000 auf eine Million zugenommen. Unterdessen wird in der Region San Diego/Tijuana im Border Research and Technology Center an der Optimierung der High- Tech-Erkennungsysteme der Grenzpolizei gearbeitet. Auch das Pentagon hat in Fort Bliss die so genannte Joint Task Force 6 aufgestellt, eine ursprünglich gegen Drogenschmuggel eingesetzte Einheit. Ihren erweiterten Aufgabenbereich genießt die Truppe, weil „es keinen besseren Ort in Amerika gibt, um die Art von Ausbildung zu erhalten, die auf einen Einsatz in Afghanistan oder Irak vorbereitet“. Schritt für Schritt und ohne Kontrolle seitens des Kongresses ist der Kampf gegen die Einwanderung mit dem Antidrogen- und Antiterrorkrieg verschmolzen und hat die US-mexikanische Grenze in einen permanenten Kriegszustand niedriger Intensität versetzt. Ein vergleichbarer Prozess zeichnet sich in der EU ab, wo die Verbindung der Komplexe Einwanderung und Terrorismus für tödliche Grenzen gesorgt hat.
Festung Europa
Im Juli 2001 druckte eine spanische Zeitung ein Foto ab, auf dem sich Badegäste am Strand von Tarifa sonnen – unbekümmert von dem nur wenige Meter entfernten Leichnam eines ertrunkenen marokkanischen Einwanderers. Der Fotograf betitelte sein Bild „Die Gleichgültigkeit des Westens“. Jedes Jahr werden in Europa zwischen 600 und 1.000 Leichen an Land gespült. Und auch bei der Festung Europa geht es zuallererst darum, die Ängste der WählerInnen vor einer Überschwemmung durch die Dritte Welt zu zerstreuen.
Die Festung Europa setzt sich grob aus drei Elementen zusammen: einem panoptischen Gehirn, einem gemeinsamen System der Grenzkontrolle und einer sich derzeit bildenden Pufferzone von Klientelstaaten. Das Schengener Informationssystem (SIS) stellt das Gehirn. In ihm sind die Daten von acht Millionen „unerwünschten“ Personen gespeichert, denen der Zutritt zur EU verwehrt ist. Als gravierendste Schwachstellen der Festung gelten Spanien und Italien. Unter Einsatz von EU-Geldern hat die spanische Regierung mittlerweile ihre nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla mit doppelten Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen befestigt. So wurde ein Teil des Flüchtlingsstroms auf die noch gefährlichere Überfahrt zu den Kanarischen Inseln abgedrängt.
Die Antwort der EU auf das Sterben im Mittelmeer besteht nun darin, die Grenzschutzmaßnahmen des weißen Europa im Inneren der Dritten Welt beginnen zu lassen. So schlug Tony Blair vor, „Schutzzonen“ in Konfliktregionen Afrikas und Asiens einzurichten, in denen sich potenzielle Flüchtlinge in Quarantäne halten ließen. „Freundliche Nachbarschaft“ lautet der Euphemismus für den Vorschlag, einen Cordon sanitaire rund um die EU zu bilden. In dem von Großbritannien, Deutschland und Italien befürworteten Idealmodell würden Einwanderer bereits lange im Vorfeld ihrer verzweifelten Reisen in die EU abgefangen. Die Folgen für die Menschenrechte in den Pufferstaaten wären gravierend, und manche KritikerInnen haben die Aufenthaltslager bereits mit Guantánamo verglichen. Aber es gibt noch ein anderes Vorbild, nämlich Australien, wo Premierminister John Howard den Flüchtlingen offen den Krieg erklärt hat.
Australiens Howard-Linie
Australiens rechter Premierminister John Howard ist zum Idol der GegnerInnen einer offenen Einwanderung geworden. Howard ließ die australische Marine Schiffe in internationalen Gewässern aufbringen und Flüchtlinge in Internierungslagern in der Wüste einsperren. Auch befleißigt sich seine Regierung einer finsteren Rhetorik, die muslimische Flüchtlinge mit terroristischer Bedrohung gleichsetzt. In jüngster Zeit haben Flüchtlinge mit einer Welle von Hungerstreiks, Aufständen und Massenfluchten aus Internierungslagern auf sich aufmerksam gemacht. Besonders die Internierung von Minderjährigen hat der Regierung Howard die Kritik der UN eingetragen. Trotz ihres international schlechten Rufs ist Howards brutale Behandlung von Flüchtlingen bei den WählerInnen extrem beliebt. Die Verdammten der Erde sind gewarnt: Haltet euch von Australien fern.
Die vermauerte Zukunft
Eine vermauerte Welt ist voller Ironien. Zwar ist die Grenzsicherung weit vor die eigene Küste verlagert worden, sie hat aber auch Einzug in jedermanns Hinterhof gehalten. Schon seit geraumer Zeit müssen sich die BürgerInnen im Südwesten der USA mit den Staus an der „zweiten Grenze“ weit im Landesinnern abfinden und verdachtsunabhängige Kontrollen, zuerst in Ostdeutschland erprobt, werden in der EU zum Allgemeingut. Sogar die Unterscheidung zwischen Grenzsicherung und innerer Sicherheit löst sich in den einzelnen Staaten zusehends auf. Gegentendenzen zu dieser verheerenden Entwicklung sind nicht auszumachen. Mauern erzeugen Mauern. Imperien erzeugen Barbaren und Antiterrorkriege Terroristen. Der Tribut an Menschenleben wächst derweil unerbittlich. Die utopische Hoffnung von 1989 hat sich in das tägliche Sterben in der Wüste von Arizona und an den Mittelmeerstränden verwandelt.
Aus dem Englischen von Michael Adrian
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Erschienen in arranca! #36
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