Irak verstehen
Von Eliten, die nicht regieren können, und von einer herrschenden Klasse, die nicht herrschen kann
Keine sehr provokative, wohl aber eine realistische These: Es gibt keinen Bürgerkrieg im Irak. Die BesatzerInnen suggerieren: Die Spirale der Gewalt ist hausgemacht, die Verantwortung für den Krieg tragen seine Opfer. Richtig ist: Es gibt einen Konflikt zwischen intern zerstrittenen regierenden Eliten und ihren außerparlamentarischen Widersachern. Die These vom Bürgerkrieg wird jedoch von den regierenden Eliten propagiert, um die Besatzung und die Anwesenheit von immer mehr ausländischen Truppen im Land zu legitimieren. Denn auf der Anwesenheit dieser Kräfte basiert die Machtstellung der Eliten. Es gibt also sehr wohl einen Krieg im Irak, und zwar seit März 2003. Dieser Krieg hatte mehrere Etappen und erfuhr diverse Verschiebungen in der Zusammensetzung der Kräfteverhältnisse sowohl innerhalb wie außerhalb des Staatsapparates. Einige interessante Momente dieser turbulenten Zeit seien nun dargestellt.
Ebenso wie nach dem zweiten Golfkrieg im Jahre 1991 waren im Irak seit Beginn des Krieges 2003 mehr als 100 Gruppen, Parteien und Organisationen unterschiedlicher Couleur aufgetaucht. Alte, längst für tot erklärte Kräfte wurden reaktiviert. Kräfte, die unterschiedliche politische Projekte artikulierten, miteinander konkurrierten, Allianzen und Zweckbündnisse eingingen und politisches und ökonomisches Kapital aus der umkämpften Situation schlagen wollten. Damals wie heute verwandelte sich die anfängliche Euphorie über den Neubeginn schnell in herbe Enttäuschung.
Boom and the Bubble
Die Anwesenheit von Besatzungstruppen, von internationalen Akteuren und die Vielfalt der politischen Kräfte im Irak haben zur politischen, territorialen und sozio-ökonomischen Fragmentierung des Landes geführt. Die politischen Kräfte im Irak haben wenig Regierungserfahrung und meist ein sehr enges, instrumentelles Staatsverständnis und bleiben deshalb zersplittert. Die wirksamsten dieser Kräfte verfügen über diverse Machtnetzwerke (tribale, konfessionelle, kommunale, familiäre etc.), über Milizen und paramilitärische Einheiten. Alle diese Akteure waren früher privilegierte NutznießerInnen des Saddam-Regimes, profitierten vom Arrangement mit dem Regime und/oder repräsentieren reiche und mächtige Familien (Clans). Jede dieser Gruppen beansprucht heute die alleinige Vertretung der jeweiligen Teile der irakischen Bevölkerung bzw. erhebt Anspruch auf einen Teil des Staatsapparates. Der Staat verkümmert zu einer Beute partikularer Interessen. Die wichtigsten politischen Akteure im Irak sind heute Abkömmlinge von mächtigen Familien aus alten herrschenden sozialen Klassen des Landes, die seit der osmanischen Ära bis zum Fall der Monarchie 1958 regierten (z.B. al-Hakim, Barzani, Chaderchi, Chalabi, Jabr, Khöi, Pachachi, Sadr, Shirazi, Rubaai, al-Saadun u. a.). Dabei handelt es sich hauptsächlich um Familienclans, die dem feudalen, vorrepublikanischen Regime damals ihren sozialen, ökonomischen und/oder politischen Aufstieg verdankten und heute ihr Comeback feiern. In aktuellen politischen Bündnissen zählen deshalb Claninteressen häufig mehr, als – wie auch immer konstruierte – religiöse oder ethnische Identitäten. Diese Klassenpolitik nimmt jedoch die Form nationaler, ethnischer, kultureller und/oder konfessioneller Identitätspolitik an.
Politogramm des Irak
Ein anderer, nationalistisch orientierter Typ politischer Führungsgruppen entstammt der Mittelschicht, die ihren sozialen und politischen Aufstieg dem Saddam-Regime verdankte. Vor allem die ehemaligen BaathistInnen haben gute Kontakte zum aufgelösten Sicherheitspersonal, zu den Resten der Baath-Partei in Syrien und im Irak und zu anderen säkularen Kräften wie KommunistInnen, PanarabistInnen, Liberalen etc. Eine dritte Kategorie bilden die Embargo- und KriegsgewinnlerInnen, die von dem Zusammenbruch der Ökonomie während der Embargojahre profitiert und sich enormes Kapital in diversen Formen angeeignet haben. Und schließlich gibt es noch die regionalen Tribalmächte, die ebenfalls bereits unter dem gestürzten Regime aufgestiegen waren.
Auch wenn diese Gruppierungen alle untereinander zerstritten sind, ist die politische Landkarte doch nicht so verwirrend, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Die tatsächliche Verwirrung stiftet die Besatzung.
Die entfesselten schiitischen Parteien plus Identitätspolitik könnten, so die neokonservativen Erwartungen der Bush-Administration, eine weitreichende geopolitische und kulturelle Wirkung über den Irak hinaus entfalten – und somit eine mächtige Konkurrenz zur prominenten iranischen Doktrin des Wilayat al-Fagih (Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten) als auch zu sunnitisch-wahabitischen Orientierung auf Saudi- Arabien aufbauen. Najaf und Kerbela könnten, so die Erwartungen von schiitischem Klerus und schiitischen Institutionen, nicht nur als Pilgerfahrtstädte für Millionen SchiitInnen weltweit fungieren, was einen enormen ökonomischen Aufschwung für die schiitischen Institutionen und deren Klientel in Handel, Dienstleistung, Industrie und Handwerk bedeuten würde, sondern auch eine prominente politisch-kulturelle Stellung des irakischen Klerus forcieren. Die gezielte Aufwertung der irakisch-schiitischen Kultur durch eine Interessenidentität zwischen den Besatzungsmächten und den regierenden schiitischen Parteien ist geopolitisch außerdem auch ein Affront gegen nationalistische, sozialistische und panarabische Kräfte, da diese stets mit Sunnitentum assoziiert werden.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtig offen umkämpften Situation und bedingt durch die wachsende Konkurrenz schiitisch-politischer Gruppen haben sich die religiösen Institutionen und deren Würdenträger andererseits inzwischen deutlich politisch positioniert. Sie fungieren als Mehrheitsbeschaffer für regierende schiitische Parteien. Diese wiederum erhoffen sich von der nominellen schiitischen Mehrheit eine politische Mehrheit, die sie sich mit Hilfe religiöser Institutionen zu sichern können glauben.
Historischer Wahlsieger?
Die irakischen WählerInnen hatten bei den zwei vergangenen Wahlen im Januar und im Dezember 2005 tatsächlich keine Wahl: Die Wahl-Veranstaltung, so wie sie formal und organisatorisch durchgebombt wurde, war ein weiterer Schritt im Rahmen der Institutionalisierung der Macht von mit der Besatzung verbündeten Kräften in Kurdistan und der ehemaligen irakischen Exilopposition im Rest des Landes. Der Wahlmodus wirkte fraktionierend auf die Kräfteverhältnisse im Parlament und schwächte die Zentralregierung. Insofern diente er als Kontrolltechnik. Die Ethnifizierung und Konfessionalisierung des Wahlsystems blockierte Regierungs-, Entscheidungsfindungs- und Kompromissbildungsprozesse sowie Entscheidungen von strategischer Bedeutung (die Besatzungsfrage, noch nicht gelöste Fragen der Verfassung, des Föderalismus, der Privatisierung, der Geschlechterverhältnisse etc.).
Auf diese Weise wurde es für die irakische Regierung so gut wie unmöglich, den Abbau von Militärbasen und Truppenabzug zu fordern. Im Gegenteil, „aus Furcht vor einem Bürgerkrieg“ baten die regierenden Eliten die Besatzungstruppen, „noch eine Weile“ im Land zu bleiben.
Auch die am 15. Oktober 2005 qua „Referendum“ angenommene, so genannte Verfassung ist ein Meisterstück der demokratischen Missachtung: Denn dieser Verfassungsentwurf ist in dreierlei Weise nicht nur bedenklich, sondern illegitim:
- Die von der so genannten provisorischen Verfassung vom März 2004 vorgeschriebene, formale Frist vom 15. August 2005 wurde nicht eingehalten.
- Der zur öffentlichen Debatte vorgelegte Entwurf ist nicht der, der einige Tage vor diesem Termin verabschiedet wurde. Im Entwurf wurden einige Veränderungen vorgenommen, die im ursprünglichen Text nicht enthalten waren.
- Über diese Veränderungen am Text wurde im Parlament nicht abgestimmt, sondern partikularistisch und klientelistisch dekretiert. Insofern ist die ganze Veranstaltung rechtlich-formal absurd. Politisch ist das natürlich höchst problematisch, denn immerhin geht es hier um grundsätzliche Fragen der Regimeund Staatsbildung, die die Zukunft des Landes und damit die gesamte Region betreffen.
Außerdem ist der Text in einem patriarchalisch-theologischen Diskurs verfasst, in dem „das andere Geschlecht“ historisch wie politisch abwesend ist. Die Konstruktion islamische Demokratie ist der Hauptwiderspruch, der den gesamten Text durchzieht und der für Konfliktstoff auf allen Ebenen und in unterschiedlichen Dimensionen sorgt und sorgen wird.
Die irakische Verfassung ist nur provisorisch, denn nach den Wahlen am 15. Dezember 2005 wurde ein Ausschuss gebildet, der Verfassungsänderungen erarbeiten und vorschlagen soll. Über den neuen Entwurf soll dann ein neues Referendum abgehalten werden. Der Übergang in Permanenz ist der politischen Situation also immanent.
Des Kaisers alte Kleider!
Regierungsfähigkeit konnten bislang weder der ehemalige Ministerpräsident Allawi, noch seiner Nachfolger al-Jaafari und schon gar nicht der jetzige al-Maliki unter Beweis stellen. Je mehr die Regierung ihre Handlungs- und Ratlosigkeit demonstriert, desto heftiger wird der Widerstand und desto weniger werden ihre Machtstützpunkte in der von ihr geschaffenen politischen Gemeinschaft sein.
Die Gegentendenz ist das zunehmende Rekurrieren auf ziellose Gewalt. Genau dies kennzeichnet die gegenwärtige Phase: 600.000 Tote, doppelt so viel Verletzte und Versehrte, viermal so viel Flüchtlinge und Migrierte. Das ist das Resultat von vier Jahren Befreiungsimperialismus und von einer der Bevölkerung in den Leib gebombten Demokratie.
Die gegenwärtige Dreieckskonstellation in der Regierung – Vereinigte Irakische Allianz, PUK (Patriotische Union Kurdistans) und DPK (Demokratische Partei Kurdistans) – bildet ein schreckliches Gleichgewicht von unzähligen Partikularinteressen, auch mit und durch die Besatzung. So bleibt es dabei: Das Sicherheitsthema, präziser, die Ver-Unsicherung der Bevölkerung ist die Trumpfkarte in den nächsten, turbulenten Zeiten der Übergangsphase bis zur nächsten Wahl oder aber einem internen Putsch!
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Erschienen in arranca! #36
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