Material Girl in an Immaterial World

Warum Angela Merkel mit ihren Kollegen an der Ostsee über Geistiges Eigentum sprechen will

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Wenn demnächst MarathonläuferInnen auf Hamburger Sportplätzen ihre Runden drehen, kann es sein, dass sie nicht nur in, sondern auch auf Nike-Turnschuhen laufen. Auf gefälschten. Die zu Bodenmaterial geschredderten Markenimitate waren Teil der Produktfälschungen, die der Zoll Ende 2006 im Hamburger Hafen entdeckt hat. Plagiate in 117 Containern mit einem Gegenwert von mehr als 383 Mio. Euro wurden „sichergestellt“. Was nicht zu Bodenplatten verarbeitet werden konnte, wurde verbrannt. Mit dieser und ähnlichen medienwirksamen Aktionen sollen nicht nur die Plagiate aus dem Verkehr gezogen werden, es soll auch ein Zeichen gesetzt werden gegen Herstellung und Vertrieb von gefälschten Produkten, die Marken, Patente, Gebrauchsmuster, Designrechte oder Urheberrechte verletzten.

Der Handel mit solchen Produkten konzentriert sich vornehmlich auf so genannte Entwicklungs- oder Schwellenländer und bereitet den Industriestaaten schon längere Zeit Bauchschmerzen – seit der Verbreitung des Internet zunehmend mehr. Laut Angaben des Bundesjustizministeriums entfallen fünf bis neun Prozent des Welthandels auf gefälschte Produkte. Seit 1998 hat sich die Zahl der Plagiate, die an den Grenzen der EU abgefangen werden, verzehnfacht. Weltweit wird der Umsatz auf rund 350 Mrd. Euro geschätzt. Dabei wird das Internet nicht nur für den unautorisierten Transfer urheberrechtlich geschützter geistiger Schöpfung genutzt, sondern zunehmend auch als Vertriebskanal für stoffliche Produkte. Rund ein Drittel der Waren, die der Zoll heute beschlagnahmt, wurden im Internet bestellt.

Konfliktfeld im globalen Kapitalismus

Wahrscheinlich sind es vorrangig diese Phänomene, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kopf hat, wenn sie in ihrer gegenwärtigen Doppelfunktion als EU-Ratspräsidentin und Vorsitzende der G8 ankündigt, in Heiligendamm den Dialog suchen zu wollen über „die zentrale Bedeutung von Innovationen in wissensbasierten Gesellschaften und Verstärkung des Schutzes von Innovationen gegen Produkt- und Markenpiraterie“. Im Januar fand sie auch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos klare Worte und betonte, dass Innovationen als „Schlüssel für Wachstum und Wohlstand“ unterstützt werden müssten und dass der „effektive weltweite Schutz des Geistigen Eigentums spürbar vorangebracht werden soll“.
Geistiges Eigentum steht schon seit Jahren auf der Agenda der Gipfeltreffen und ist in der jüngsten Vergangenheit zu einem der meist umkämpften Schauplätze des gegenwärtigen globalen Kapitalismus geworden. Kein Wunder: Schätzungen zufolge soll der Anteil der durch Geistiges Eigentum geschützten Güter am internationalen Handel von früher 10 bis 20 Prozent auf 60 bis 80 Prozent in den kommenden Jahren steigen. Nach Angaben der International Intellectual Property Alliance (IIPA) ist die Rechte-Industrie der USA in den letzten 20 Jahren mehr als doppelt so schnell gewachsen wie der Rest der Wirtschaft.

Geistiges Eigentum: Ein weites Feld

Geistiges Eigentum ist ein Oberbegriff und bezieht sich auf ein sehr breites und unübersichtliches Anwendungsgebiet. Jedes Wissen, was verwertet werden soll, ist von den Auseinandersetzungen um Geistiges Eigentum betroffen: geistig-kreative Tätigkeiten im künstlerischen Bereich (Musik, Literatur, Grafikdesign, Kunst), Bereiche der Wissenschaften (Biologie, Medizin, usw.), aber auch Bereiche der Industrie (technische Erfindungen, Produktdesign), der Werbung (Marken- und Wortschöpfungen), und „traditionelles Wissen“, was bislang außerhalb jeglicher Verwertungssphäre existierte. So verschieden die stofflichen Felder sind, so verschieden sind auch die Rechtsinstitute, die darauf Anwendung finden (Patentrecht, Markenrecht, Urheberrecht, Sortenschutzrecht, usw.).
Auch die Auswirkungen der Durchsetzung Geistigen Eigentums sind auf den verschiedenen Gebieten entsprechend unterschiedlich. Die Bäuerin kann aufgrund eines Eigentumstitels eines Saatgutkonzerns auf eine bestimmte Sorte ihrer traditionellen Züchtungspraxis nicht mehr zurückgreifen und muss daher jedes Jahr neu dafür bezahlen, dass sie das patentrechtlich geschützte Saatgut benutzen „darf“. Anders betroffen ist die europäische Netznutzerin, die aufgrund des Urheberrechts bei digitalen Gütern den Kopierschutz einer Musik-CD nicht brechen darf und die CD daher nicht so oft kopieren kann, wie sie möchte.
Gemein ist diesen Phänomenen ihre gar nicht so neue Ursache: Kapital ist stets auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, und mit den neuen Technologien sind nicht nur neue Ausdrucksmöglichkeiten geistig-kreativer Schöpfungen entstanden („digitale Güter“ wie z.B. Musik-, Film- oder Software-Dateien), die ohne Qualitätsverlust kopiert und via Internet verbreitet werden können. Es kann auch neues Wissen erschlossen und vielfach verwertbar gemacht werden. Bekannt hierfür ist vor allem die Forschung im Bereich der Bio- und Gentechnologie.

Privateigentum im informationellen Kapitalismus

Wenn nun Merkel proklamiert, dass Investitionen mittels Geistiges Eigentum gesichert werden müssten, da dies Wirtschaftswachstum nach sich ziehe, dann hat dies seine Ursache in genau diesen Entwicklungen. Außerdem sind diese Entwicklungen auch materiale Basis für die nicht totzukriegende, Herrschaftsverhältnisse verschleiernde Rede von der „Wissensgesellschaft“. Merkel hat mit ihrem Credo aber insofern recht, dass Privateigentum erst die Voraussetzung dafür ist, dass vorgeschossenes Kapital verwertet werden kann. Warentausch setzt das spezifisch bürgerliche Privateigentum voraus, denn dies ist exklusiv und absolut in seinem Ausschluss. Wenn sich andere Menschen die Produkte, die verkauft werden sollen, aneignen – und zwar ohne Kauf – und diese dann kopieren oder nachmachen, um sie umsonst zu verbreiten oder billiger zu verkaufen, dann ist der Verkauf und damit die Realisierung von Wert gefährdet oder zumindest erschwert. Wenn Warentausch dem Zweck dient, vorgeschossenes Kapital zu verwerten, dann ist Privateigentum unabdingbare Voraussetzung.
Nun weiß jedes Kind, dass die Sicherung von privaten Eigentumsrechten nur hinreichende Bedingung für Kapitalakkumulation ist – die Verwertung ist damit noch nicht gesichert. Aber die Voraussetzungen wollen Merkel und Konsorten schaffen – und zwar weltweit. Dabei ist das Ziel, das durch gleiche Rahmenbedingungen für alle erreicht werden soll, keine harmonische oder gerechte Weltwirtschaftsordnung. Vielmehr kann erst auf dieser Basis der mit höchst ungleichen Machtmitteln ausgestattete globale Konkurrenzkampf richtig losgehen.
Warum aber ist Geistiges Eigentum nicht nur im Prozess der Etablierung, sondern auch danach so umkämpft? Dies liegt an der stofflichen Beschaffenheit der Inhalte, auf die sich das Recht jeweils bezieht. Produkte aus geistiger Schöpfung haben eine Eigenschaft, die sie von materiellen Dingen unterscheidet: Sie verbrauchen sich nicht durch ihren Gebrauch. Sie sind nicht endlich und können ohne Qualitätsverlust beliebig oft kopiert und benutzt werden. Damit nun Wissen den Marktteilnehmenden durch eine vollständige Eigentumsübertragung nicht entzogen bleibt, das Wissen aber dennoch der Verwertung dienen kann, gibt es lizenzrechtlich kodifizierte Zugangsschranken (Schaffung künstlicher Knappheit), die andererseits aber wiederum eingeschränkt werden müssen – etwa durch zeitliche Begrenzung von Nutzungsrechten. Geistiges Eigentum ist die adäquate „marktwirtschaftliche“ Lösung für die Kommerzialisierung von Informationen, Wissen, Ideen usw.

Ökonomie der künstlichen Verknappung

Nun zeigt sich am Patentstreit, dass die Rechte an Geistigem Eigentum traditionell ein gesellschaftlich immer schon sehr umkämpftes Feld waren und bleiben werden. Das heißt auch, dass zwar neue Technologien den Grad verändern können, der bestimmt, wie Wissen zwecks Verwertung eingeschlossen wird oder auch nicht – letztlich entscheiden darüber aber gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Sacheigentum hingegen ist in der bürgerlichen Gesellschaft nahezu unangefochten. Das schlägt sich auch in der Kritik am Geistigen Eigentum nieder, wenn z.B. von „künstlicher Verknappung“ gesprochen wird. Der Begriff „künstlich“ meint, dass geistig-kreative Schöpfung, da sie sich im Gebrauch nicht verbraucht, nicht knapp ist. Das heißt aber nicht, dass der Umkehrschluss, nämlich dass materielle Güter knapp sind, richtig ist.
Die Annahme einer Knappheit der Güter ist eines der wesentlichen Dogmen der bürgerlichen Ökonomie und zugleich Vorannahme ihrer Eigentumstheorie. Ressourcen sind demzufolge, gemessen an den unendlichen Bedürfnissen der Individuen, immer schon knapp. Knappheit wird nicht als Resultat einer spezifischen Vergesellschaftungsweise aufgefasst, sondern als quasi-natürlicher Ausgangspunkt, der dann Privateigentum überhaupt erst legitimiert. Der spezifisch kapitalistische Aneignungsprozess hat aber zur Voraussetzung, dass Produkte, sofern sie Warenform annehmen sollen, „knapp“ sein müssen, dass sie also nur der zahlungsfähigen Nachfrage zugänglich sein dürfen. Das bedeutet, dass die kritisierte künstliche Verknappung nicht nur bei geistig-kreativer Schöpfung, sondern grundsätzlich bei allen Gütern erfolgen muss, wenn sie für den Warentausch produziert werden. Die bürgerliche Eigentumsordnung ist daher generell Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das auf Ausschluss der Mehrheit der Menschen vom gemeinsam produzierten Reichtum basiert. Das ist keine Besonderheit von Geistigem Eigentum.
Die Proteste gegen den G8-Gipfel, insofern sie Proteste gegen Geistiges Eigentum sind, können die Chance nutzen, diese Eigentumsordnung anhand des Geistigen Eigentums zu kritisieren, zeigt sich doch der Zweck von Privateigentum dort so deutlich wie kaum anderswo. Schließlich laufen nicht nur Menschen ohne Schuhe rum, während diese woanders vernichtet werden. Es hungern auch Menschen, während woanders Nahrungsmittel vernichtet werden. Und die sind ganz materiell.

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Erschienen in arranca! #36

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