Anti-Opium
Ich hatte einen Traum. Die Dinge hatten sich geändert: Das Meer kam. Es kam
und überspülte alles, worauf sich meine Eifersucht richtete: Familien, Staaten,
Szenen, Clubs, Clans, Kartelle, die Männer, und die Frauen. Die Wasser schossen
übers Land und alles wurde weggerissen, alle hatten die Pässe und Passwörter
verloren, die Bindungen waren zerstört und ich konnte bei null anfangen. Denn
der Markt war frei. Jenseits jeder Heimat endlich, zählte die reine Leistung! Der
musikalische Mittelstand ging den Bach runter, Millionen Kopien von New York
und Paris waren in Umlauf und sie waren am Boden zerstört. Ich aber stürzte
mich in die Fluten und schwamm und nannte es Arbeit, und Glück, und wünschte
mir den Wettbewerb noch härter, Anarchie, Amnesie, Diversifikation bis zum
Verschwinden, jede Idee wurde in Echtzeit verwertet und es gab nichts Neues
unter der Sonne, das nicht binnen Sekunden zu Geschichte zerfiel, und niemand
tat mehr so, als wolle er etwas anderes retten als sich selbst und es schwebte ein
großer Geist der Wahrhaftigkeit über den Wassern: der Zweck heiligte die Mittel
und er heiligte sie ganz, denn der Markt war unendlich und der Wettbewerb vollkommen.
– Vierzig Tage und Nächte tobte das Wasser und nur eine Stadt ragte
aus ihm hervor: Chicago. Ich wurde ergriffen von Demut vor den Wundern dieser
Stadt und ihres großen Mechanismus, wurde ergriffen vom Rausch freier Preise,
Löhne, Innovationen, Teilchen tanzten vor meinen Augen und alles war einzeln
und nackt bis auf den Grund der nacktesten Zahlen, ja, es war die komplette
Pornografie der Tatsachen, Zitteraale zuckten hoch in den Himmel und Gott, der
Allwissende, Herr des idealen Gleichgewichts, gab Noah grenzenloses Wasser,
Wachstum, und wer keine Arche war, der ertrank und ertrank zu Recht. So wie
meine Konkurrentin, während ich mich rettete aus eigener Kraft, um dich zu erobern,
ja, ich eroberte dich und du liebtest mich und meine Eifersucht war endlich
Geschichte. Nach einhundertundfünfzig Tagen begannen die Wasser zu sinken.
Ich hatte einen Traum, der Markt war frei.
Der Markt war nicht frei und ist es nicht, entgegnet der logische Prediger. Die
Mutter deines Traumes ist dein Misstrauen gegen die direkte Rede. Du willst
es allein schaffen, aus eigener Kraft? Aber ist denn der Markt nicht immer der
Club der Clubs gewesen und sind seine Türsteher nicht gnadenlos? Kaum den
Gefängnissen der Heimat entronnen, wie wird es dir da gelingen, nun auch
den Gefängnissen der Freiheit zu entkommen? Der Markt ist nicht frei und
wird es niemals sein, sagt der logische Prediger. Du bekommst die gleichen
Startbedingungen wie jeder andere auch? Aber bist du denn wie jeder andere
auch? Ohne deine Geschichte bist du weniger als ein Zufall. Kaum der Logik der
Heimat entronnen, wie wird es dir da gelingen, nun auch der Logik der Freiheit zu
entkommen? Der Markt ist nicht frei und er kann es nicht sein, sagt der logische
Prediger, denn der Markt ist nichts als dein eigener Versuch, der Freiheit zu entkommen,
dein Versuch, indirekt zu sein, statt Auge in Auge zu leben, zu entscheiden,
zu handeln, nein, der Markt handelt nicht, er wandelt nicht einmal im
Schlaf. – Aber wieso, frage ich jetzt, fühlte ich mich so wach in meinem Traum?
Dein Misstrauen, sagt der logische Prediger, hat dich wachgehalten. Der Markt
ist das Anti-Opium des Volkes. Eines Volkes, das durch alte Religion nicht mehr
zu beruhigen ist. Und das nicht mehr beruhigt sein darf. Weil das Volk im Rausch
täglich neu sein soll. Merkst du denn nicht, wie müde du bist?
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Erschienen in arranca! #37
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