Religion als Auslaufmodell im Neoliberalismus
Ein Interview mit Christoph Deutschmann
¿ Was ist für Sie Religion?
Ich gehe von dem vor allem durch Durkheim und Luhmann geprägten soziologischen Verständnis der Religion aus. Danach kann man die Religion als den Versuch der Gesellschaft bzw. ihrer Mitglieder interpretieren, sich ihre eigene Einheit – Durkheim spricht von „kollektiver Identität“ – zu vergegenwärtigen. Die Gesellschaft ist ja nicht einfach die Summe einzelner Menschen – so, wie ein Sack Kartoffeln eine „Einheit“ bildet, sondern ein durch Kommunikation, genauer: durch Arbeit hergestellter Zusammenhang eigener Art, der über die heute lebenden Menschen hinaus die gesamte Geschichte einbezieht. Die Gesellschaft ist nach Luhmann die Gesamtheit des „kommunikativ Erreichbaren“. Diese Gesamtheit ist aber von außen gar nicht zu beobachten, so wie auch das Auge sich nicht selbst sehen kann. Beobachtungen sind nur innerhalb der Gesellschaft möglich, aber die Gesellschaft als Ganze kann sich nicht selbst beobachten. Die Totalität kann nur durch Chiffren oder Bilder repräsentiert werden. Daraus ergibt sich der kryptische Charakter religiöser Vorstellungen: Wir können sie nur glauben, nicht beweisen. Nahezu alles – Naturobjekte, physische oder symbolische Artefakte, soziale Institutionen und Rituale – kann zum Träger religiöser Bedeutungen werden.
¿ Was ist unter Ihrer These vom Kapitalismus als Religion zu verstehen?
Die Soziologie steht auf dem Boden der modernen Religionskritik des 19. Jahrhunderts von Hegel, Feuerbach, Marx und Nietzsche, derzufolge die Menschen nicht Geschöpfe eines metaphysischen Supersubjekts sind, sondern sich und ihre Geschichte selbst machen. Arbeit ist das Prinzip der Geschichte. Hinter diese Erkenntnis können wir nicht mehr zurückfallen, aber auch sie löst das Problem der Unerkennbarkeit der Geschichte als Totalität nicht. Es wird nie eine wissenschaftliche Theorie geben, die die Gesamtheit der Möglichkeiten gesellschaftlicher Arbeit erschöpfend bestimmen könnte. Eine solche Theorie müsste ja „klüger“ sein nicht nur als alle vergangenen und gegenwärtigen, sondern auch als alle zukünftigen Erfinder. Das würde auf einen Selbstwiderspruch hinauslaufen.
Was sich im modernen Kapitalismus verändert, ist nicht die prinzipielle Unbestimmbarkeit der Einheit der Gesellschaft, sondern die Art der Bilder und Chiffren, in denen die Gesellschaft sich gegenüber sich selbst repräsentiert. Der moderne Kapitalismus entstand als Ergebnis des Übergreifens des Geldnexus von fertigen Gütern und Dienstleistungen auf die menschliche Arbeitskraft, d.h. mit jenen von Karl Polanyi als „Great Transformation“ bezeichneten gesellschaftlichen Umwälzungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die – zunächst in Europa, dann nach und nach überall in der Welt – einen Markt für freie Lohnarbeit, nicht Sklavenarbeit, die es immer gab, entstehen ließen. Die menschliche Arbeitskraft ist aber nicht irgendein „Gut“ und auch nicht irgendein „Produktionsfaktor“ neben anderen. Sie ist auch keine bloß „ökonomische“ Größe, sondern vielmehr wie schon erwähnt diejenige Kraft, die die spezifisch menschliche, d.h. geschichtliche Wirklichkeit erst hervorbringt. Wenn diese Kraft objektiv und subjektiv unter das Regime des Geldes gerät, verändert auch das Geld selbst seinen Charakter: Es wird zum Geldvermögen, zum Kapital, das in seiner Dynamik als sich selbst verwertender Wert die Unbestimmbarkeit der Möglichkeiten menschlicher Arbeit chiffriert. Geldvermögen ersetzt die traditionellen Religionen als Chiffre der Einheit der modernen Weltgesellschaft. Die Transzendenz wird damit, wie Benjamin es formulierte, „auf die Erde“ herabgeholt: Die im Geldvermögen enthaltene Utopie der Kontrolle über die Totalität menschlicher Möglichkeiten lässt sich niemals einlösen. Genauer: Die Einlösung ist nicht als Zustand, sondern nur als ein unendlicher Prozess immer neuer Überschreitung der irdischen Grenzen der Menschheit denkbar. Das permanente Ungenügen den eigenen Ansprüchen gegenüber treibt die Menschen zu immer neuen schöpferisch-zerstörenden Leistungen an. In diesem Sinne verstehe ich den Kapitalismus als Religion, nicht bloß als ein profanes „ökonomisches“ System.
¿ Welche Rolle spielt dann Religion im Kapitalismus?
Der Kapitalismus ist den traditionellen Religionen in zweifacher Hinsicht überlegen: Zum einen ist er zu einem wirklich globalen System geworden, das die Erde heute – noch immer nicht ganz vollständig, aber fast – bis in ihre letzten Winkel ergreift. Die Reichweite der traditionellen Religionen, auch der sog. Weltreligionen, ist demgegenüber nur noch partikular, d.h. auf einzelne Regionen oder Erdteile beschränkt. Zweitens bindet der Kapitalismus die Menschen nicht bloß moralisch oder durch gemeinsame Glaubensvorstellungen aneinander, sondern sehr viel handfester, nämlich in Form finanzieller Schulden. Finanziellen Schulden kann man heute wohl noch weniger entrinnen als der religiösen Schuld im Mittelalter. Die traditionellen Religionen repräsentieren die gesellschaftlichen Identitätsbilder vergangener Zeitalter, in denen die Menschen in stärker voneinander getrennten Kulturen gelebt haben. Mit der heutigen Wirklichkeit stimmen sie nicht mehr überein, erst recht dann, wenn sie sich gegeneinander feindselig zur Totalität aufzuspreizen versuchen. Die Religionen leben teils nur noch kraft des bloßen Beharrungsvermögens der Tradition fort, teils wegen der politischen, ideologischen und therapeutischen Sekundärfunktionen, die sie übernommen haben. Ich halte nicht viel von der These von der angeblichen „Wiederkehr der Religion“ und den angeblich „neuen“ religiösen Bewegungen, bei denen es sich vielfach um Schwindel und Selbsttäuschung handelt.
¿ Warum halten Sie die These von der „Wiederkehr der Religionen“ für falsch? Ist Religion also ein Auslaufmodell?
Ich denke hier vor allem an die neuere Entwicklung in den USA, auf die sich die These von der „Wiederkehr der Religion“ ja zum großen Teil bezieht. Auch in den USA ist es zu einem Niedergang der etablierten christlichen vorwiegend protestantischen Glaubensrichtungen gekommen. Anders als in Europa freilich lässt sich ein spektakulärer Aufschwung neuer Sekten, von Scientology bis hin zu dem sogenannten „Pentecostalism“ beobachten, wie sie z.B. Kevin Phillips in seinem neuen Buch „The American Theocracy“ beschrieben hat. Diese Sekten mobilisieren mit ihren meist recht schlichten Lehren eine erstaunliche Anzahl Menschen und saugen beträchtliche finanzielle Mittel aus ihnen heraus. Unterstützt durch einen meist sehr professionellen Medieneinsatz werden Massentaufen und -bekehrungen inszeniert. Die Religion ist hier selbst zu einem großen Geschäft geworden. Nicht zufällig ist ja von einem „Markt der Religionen“ die Rede.
Auch der aktuelle Aufstieg des Islam stellt nur ein Rückzugsgefecht gegen das Vordringen des modernen Kapitalismus auch in dessen Kernländern dar. Es mag Menschen geben, die sich durch die Zumutungen der modernen Gesellschaft überfordert fühlen und moralischen Halt gegen diese Zumutungen im religiösen Glauben suchen. Der Preis dafür ist jedoch Wirklichkeitsverlust.
Trotzdem sehe ich die alten Religionen nicht nur als eine Macht der Vergangenheit, als ein Auflaufmodell. Auch der Kapitalismus bedeutet gewiss nicht das Ende der Geschichte. Auch mit seiner „Entzauberung“ muss gerechnet werden. Bei der Suche nach einer neuen, angemesseneren Sicht unserer kollektiven Identität bieten die alten Religionen vielleicht eine Hilfe, insofern sie uns davor bewahren können, unsere eigene Kreativität zu fetischisieren. Auch die Ökologieproblematik erinnert uns ja immer stärker daran, wie sehr wir auf dem Boden der Natur stehen und uns keineswegs in dem Maße selber „machen“ wie wir glauben. Eine solche weiterführende Rolle können die alten Religionen aber nur dann spielen, wenn sie nicht hinter den Kapitalismus zurückfallen, das heißt, wenn sie die Realität der Weltgesellschaft anerkennen. Gegenseitige Toleranz ist das oberste Gebot.
¿ Worin sehen Sie die zentralen Veränderungen im Zuge des Epochenbruchs Fordismus-Postfordismus-Neoliberalismus?
Auch der Kapitalismus ist wie die traditionellen Religionen auf Propheten, Priester und Institutionen angewiesen, die den Menschen die Wege richtigen Handelns weisen. Sowenig, wie die meisten Menschen die unmittelbare Gegenwart Gottes aushalten können, wären sie auch durch die unmittelbare Konfrontation mit den Verheißungen des Geldes überfordert. Das Charakteristikum des Kapitalismus ist freilich, dass er mit den Institutionensystemen, die ihn als soziale Ordnung stabilisieren, immer nur temporär leben kann. Er unterhöhlt und zerstört sie, setzt neue an ihre Stelle. Der Fordismus war ein solches Institutionensystem, dessen Zerstörung wir in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlebt haben. Bisher ist freilich nicht erkennbar, dass ein neues, ähnlich kohärentes Institutionensystem an seine Stelle tritt. Man könnte von einer Tendenz zur Entinstitutionalisierung sprechen, die nicht unbedingt mit „Deregulierung“ gleichzusetzen ist. Der heutige Finanzmarkt-Kapitalismus, der den finanziellen Erfolg zum unmittelbaren Ziel und Inhalt des Handelns macht, überfordert die Akteure, keineswegs nur die auf abhängige Arbeit Angewiesenen, sondern sogar auch die Eigentümer und Manager. Er erzeugt einen Zustand allgemeiner Unsicherheit, der den Kapitalismus nicht voranbringt, sondern lähmt.
Das heißt nicht, dass es keine Konsum- und Technologiepropheten mehr gäbe: Sie sind ja fast täglich im Fernsehen zu sehen, von Matthias Horx bis Ray Kurzweil. Das Problem ist: Es gibt zu viele davon. Ihre Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wird immer heftiger, ihre Botschaften veralten immer rascher und können daher auch keine stabilen wirtschaftlichen Entwicklungspfade mehr begründen. Das gilt jedenfalls für die alten Zentren des Kapitalismus in Europa und Nordamerika, nicht für die neuen in Ost- und Südasien, wo die alten kapitalistischen Botschaften – vorläufig jedenfalls – noch eine ungebrochene Anziehungskraft zu haben scheinen. Und diese Anziehungskraft reicht dank der modernen Medien auch weit in die Länder der „Peripherie“ hinein, womit ich keineswegs bestreiten möchte, dass die Migrationsbewegungen aus den „peripheren“ Regionen auch durch die durch den Kapitalismus angerichteten ökologischen und sozialen Zerstörungen bedingt sind.
¿ Welche Rolle spielen dann religiöse Heilsversprechen in der Ökonomie und in der Politik?
An die Heilsversprechen der traditionellen Religionen glaubt heute kaum mehr jemand. Die eigentlichen religiösen Heilsversprechen gehen heute von der Ökonomie selbst aus. Man denke nur an die quasi-religiöse Aufladung der Konsumsphäre, an die Mythen des Internet, der New Economy oder der Biotechnologie. Die Versprechungen, die hier gemacht werden – Allwissenheit, grenzenlose Kommunikation, ewiges Leben – sind unverkennbar religiös grundiert. Die Politik hat gegenüber diesen Heilsversprechen fast nur noch eine dienende Funktion.
Vielen Dank für das Interview!
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Erschienen in arranca! #37
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