Niemand steht außen
Eine Kritik an Agrotreibstoffen als radikale Gesellschaftskritik
„Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“
Karl Marx
Treibstoffe aus pflanzlichen Rohstoffen haben in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Boom erlebt. Die weltweite Ethanol-Produktion wurde zwischen 2000 und 2005 mehr als verdoppelt; die Herstellung von Biodiesel im globalen Maßstab sogar vervierfacht. Die politischen Rahmenbedingungen dafür haben nicht zuletzt die EU und die USA auf den Weg gebracht. So haben die USA die ehrgeizige Zielmarke von 15 Prozent Beimischquote für Agrotreibstoffe bis 2017 ausgegeben. Die steigenden Energiekosten und der dynamische Markt für Rohölpreise tragen ihren Teil dazu bei, dass die Energiegewinnung aus pflanzlichen Rohstoffen laut UN das landwirtschaftliche Segment ist, das auf dem Weltagrarmarkt die höchsten Zuwachsraten der letzten Jahre aufweist. Darüber hinaus wird der Pflanzensprit als saubere Alternative gepriesen, die den Ausstoß schädlicher Klimagase beträchtlich verringere und zur Erfüllung der Ziele des Kyoto-Protokolls beitrage. Agrotreibstoffe sind also kein Projekt einer neuen Ökologiebewegung, sondern ein industriepolitisches Programm einer politischen und ökonomischen Elite in den Industrie- und aufsteigenden Schwellenländern.
Mogelpackung Agrosprit
Studien zu Energiebilanz sowie ökologischen Langzeitfolgen der Agrotreibstoffe zeigen, dass die angebliche Alternative unter momentanen Produktionsbedingungen keinen Beitrag zur Verringerung des Schadstoffausstoßes oder zur Reduktion von Treibhausgasen leistet. Der Löwenanteil der Energie, die für die Herstellung des Agrosprits benötigt wird, fällt während der landwirtschaftlichen Biomasseerzeugung und der Umwandlung der Pflanzenbestandteile in Treibstoff an. Der Boden wird mit schweren Maschinen bearbeitet, unter intensivem Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, deren Bereitstellung selbst wieder Energie kostet.
Industrielle Landwirtschaft auf großflächigen Monokulturen ist energieaufwendig. Zudem wird die Agroindustrie von einem transnational agierenden Komplex aus Chemie-, Automobil-, Gentech- und Ölkonzernen dominiert. Das in Freiberg (Sachsen) ansässige Unternehmen Choren Industries beispielsweise forscht an neuen Verfahren zur Gewinnung von synthetischem Agrotreibstoff aus Restholz. Die Unternehmensvision, die „Sonne in den Tank zu holen“, hat anscheinend Wirkung gezeigt: Die Konzerne Shell, Daimler und Volkswagen haben bereits Interesse bekundet und gehören zu den Kooperationspartnern der Sachsen. Dieselben Konzerne haben an der energetischen Ressourcenverschwendung und den Treibhausgasemissionen einen wesentlichen Anteil.
Die Menge an Prozessenergie bei der Umwandlung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Treibstoff schwankt je nach Pflanzenart, Treibstoffoption (Ethanol, Gas oder Diesel) und Produktionsmethode. Insgesamt schätzt selbst der Direktor für Handel und Landwirtschaft der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit OECD, Stefan Tangermann, den Energiegewinn durch Biomassenutzung als relativ gering ein. Er erklärte, dass „unterm Strich in Europa oft rund 80 Prozent der gewonnenen Bioenergie vorher in Form fossiler Energie investiert werden“.
Und das ist noch eine recht positive Kalkulation! Sie verkehrt sich in eine negative Bilanz, sobald dynamische Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Form der Aneignung von Natur und den natürlichen Produktionsbedingungen in die Betrachtung einbezogen werden. Chemische und technische Hilfsmittel steigern die Produktivität in der Landwirtschaft enorm, mindern aber die Bodenqualität, was langfristig niedrigere Erträge verursacht. Dem wirken die Landwirte wiederum durch einen noch intensiveren Chemikalieneinsatz entgegen – ein Teufelskreis.
Darüber hinaus werden die ökologischen Gefahren auf die Länder des Südens abgewälzt. Denn die steigende Nachfrage nach Energiepflanzen bedingt auf Dauer eine Expansion an Nutzflächen. Je weiter die Preise steigen, desto mehr vormals funktionierende und für das Weltklima enorm bedeutende Ökosysteme werden urbar gemacht. Schon weil die Biosprit-Quoten der EU und der USA nicht allein mit dem existierenden Flächenpotenzial der Industrieländer erfüllt werden können, kommen die Länder des Südens ins Spiel. Sie verfügen über beträchtliche Nutzflächen und können Agrotreibstoffe insgesamt billiger produzieren. Immer intensivere Bodennutzung und die Abholzung von Regenwäldern sind in Ländern wie Kolumbien, Indonesien, Malaysia, Argentinien oder Brasilien bereits Realität. Allein deshalb verursacht die Agrotreibstoffproduktion mehr Klimagase als sie einspart. Regenwälder zählen wegen ihrer hohen Feuchtigkeit und ihrer Jahrtausende alten Humus- oder Torfschicht zu den wichtigsten Kohlenstoffspeichern der Erde. Indem der Boden entwässert und durch Brände ausgetrocknet wird, werden derart große Mengen an Kohlenstoffdioxid freigesetzt, dass es Jahrzehnte brauchen würde, um diese durch die Nutzung von Agrosprit zu amortisieren.
Als Anreiz für die Entwicklungs- und Schwellenländer werden die alten Versprechen der Modernisierungstheoretiker hervorgeholt: Stabile Exporteinnahmen und der Transfer moderner Technologien, wirtschaftliche Entwicklung und neue Arbeitsplätze würden den Lebensstandard dort anheben. Tatsächlich werden klassische Dependenzverhältnisse verfestigt. Die Entwicklungsländer bleiben von einigen wenigen landwirtschaftlichen Exportprodukten abhängig und können die eigene Ernährung auch künftig kaum sicherstellen.
Sprit statt Tortillas
Die starke Nachfrage nach Energiepflanzen, die teilweise als Nahrungsmittel dienen, führt außerdem zu einer Verknappung wertvoller Güter und treibt die Weltmarktpreise für Agrotreibstoffe wie für Nahrungsmittel in die Höhe. Am Beispiel von Brasilien zeigt sich, wie stark die Preise für Zucker und für Ethanol aneinander gekoppelt sind. Genauso machte die Tortillakrise in Mexiko deutlich, dass sich die Weltmarktpreise für Mais unmittelbar auf die Märkte in Mexiko niederschlagen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer sind von steigenden Lebensmittelpreisen besonders betroffen, weil die ärmere Bevölkerung einen Großteil ihrer Haushaltsausgaben für Nahrung aufwendet. So verschärft die Agrotreibstoffproduktion, die primär auf die Energieversorgung der Industrieländer abzielt, die prekäre Ernährungssituation der armen Weltbevölkerung zusätzlich.
Brasilien: Kleinbäuerliche Agrosprit-Produktion als Ausweg?
So weit, so schlecht. Aber könnte nicht eine kleinbäuerliche und nachhaltig produzierende Landwirtschaft, die sich dem agroökologischen Ansatz verpflichtet fühlt und einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität leistet, eine Alternative zu den verheerenden Konsequenzen des Agrobusiness darstellen? In Brasilien versucht die Siegelinitiative für Biodiesel seit 2005, Kleinbauern in die Produktion von Biodiesel einzubinden. Den Abnehmerfirmen des Pflanzenöls werden entsprechende Vergünstigungen garantiert, damit die Zusammenarbeit mit kleinbäuerlichen Strukturen attraktiver wird. Das Projekt zeigt, dass Ölpflanzen wie Rizinus durchaus mit Nahrungsmittelpflanzen (zum Beispiel Bohnen) kombiniert werden können und in aufeinander abgestimmten Mischkulturen gedeihen. Die brasilianischen Landarbeitergewerkschaften Contag und Fetraf begrüßen die Energieerzeugung aus nachwachsenden Rohstoffen und können sich eine Zusammenarbeit mit der Regierung und dem staatlichen Ölkonzern Petrobras durchaus vorstellen. Und auch das Kleinbauernnetzwerk Via Campesina, das ansonsten der agroindustriellen Exportlandwirtschaft den Kampf ansagt, gibt sich gesprächsbereit. Doch derartige Produktionsketten allein können den riesigen Bedarf an Rohstoffen für Agrosprit nicht decken. Denn die durch die Industrieländer angeheizte Nachfrage bedingt eben auch die industrialisierte und chemisierte Agrarwirtschaft von Großproduzenten. Eine Produktion von Biosprit, der diesen Namen verdient, könnte deshalb zwar einen gewissen Anteil des lokal gebundenen Energiebedarfs decken und zur lokalen Wertschöpfung beitragen, aber wohl kaum die Industrieländer mit bedienen. Insofern macht die Energieoption bei gleichzeitiger Nahrungsmittelsicherheit nur dort Sinn, wo eine Durchkapitalisierung der Landwirtschaft noch nicht eingesetzt hat.
Es geht ums Ganze
Eine Romantisierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft bietet keinen Ausweg. Stattdessen bleibt die Frage zu beantworten: Was ist ein angemessener Umgang mit der Natur, der den größtmöglichen Lebensstandard für alle auf dem Stand momentaner Produktivität gestattet? Eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise unter gegebenen Produktionsverhältnissen würde weder die Expansionskräfte noch das Streben nach Profit begrenzen und damit die bestehenden Probleme fortschreiben. Hier setzt eine radikale Kapitalismuskritik an, welche die Klimakatastrophe unmittelbar auf ein gestörtes Mensch-Natur-Verhältnis bezieht. Christoph Görg hat die „höchst selektive Bearbeitung ökologischer Probleme“ unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung untersucht. Wenn er von Ökologie und Naturschutz spricht, meint er nicht nur die Natur an sich, sondern die Gesellschaft in ihrer konkreten historischen Gestalt und ihrem Verhältnis zur Natur. Er kommt zu dem Schluss: Mit einer vernünftig angelegten Gesellschaft hat die existierende gesellschaftliche Praxis nichts gemein. Das herrschende Produktionsmodell unterwirft Mensch und Natur den Wertverhältnissen der Kapitalakkumulation. Den Menschen tritt es als ein selbstständiger Prozess entgegen, der von ihnen nicht mehr durchschaut wird. Dieses Naturverhältnis befreit zwar den Menschen von den Zwängen der Natur, leugnet aber zugleich dessen Vermitteltheit als natürliches Wesen. Die Naturaneignung unter kapitalistischen Bedingungen wird mit der Entfremdung des Menschen von der Natur erkauft. Die Menschen glauben, sie stünden außerhalb der Natur und damit außerhalb der ökologischen Krise.
Sind diese Zusammenhänge durchschaut, kommt die Kritik an den Konsequenzen der Agrotreibstoffproduktion nicht mehr ohne eine Kritik an der gesellschaftlichen Form der Naturaneignung aus. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, im Dialog mit fortschrittlichen Kräften aus Nord und Süd ein alternatives Projekt zu entwerfen, das ganz anders ist als die existierende destruktive Gesellschaftsformation. Das Forum Widerstand gegen das Agrobusiness aus Argentinien formuliert es so: „Die Zentralität der Energiekrise für den Kapitalakkumulationsprozess vermag eine weltweite Debatte über andere Produktionsweisen des Lebens im Rahmen eines radikal anderen Projekts in Gang zu setzen.“
Andreas Hetzer ist ehrenamtlich bei der Informationsstelle Lateinamerika e.V. in Bonn tätig und arbeitet als Lehrkraft im Fach Politikwissenschaft an der Universität Siegen.
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Erschienen in arranca! #38