"Wir müssen unsere Erfahrungen aufarbeiten"

Interview mit Kemal, Gründungsmitglied der Berliner ImmigrantInnengruppe Antifasist Gençlik

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¿In welchem politischen Klima entstand 1988/89 die Idee, mit Antifasist Gençlik (Antifaschistische Jugend) eine eigenständige ImmigrantInnenselbstorganisierung aufzubauen?

Antwort: In der Zeit verschärften sich die rassistischen Angriffe in Berlin. In Charlottenburg hatten z.B. Hooligans nach einem Spiel ein Baby aus einem Kinderwagen genommen, um damit Fußball zu spielen, was uns besonders erschreckte.
Sowieso gab es seit 1983/84 in Spandau, Wedding, aber auch in Kreuzberg immer wieder Parolen wie "Ausländer raus" auf Wänden zu lesen. Dazu kam 1988 die Wahl der Republikaner ins Abgeordnetenhaus. Das war der Grund, warum wir, einige ältere Immigranten, uns organisiert haben. Nachdem wir 6 Monate unabhängig von deutschen Gruppen oder anderen türkischen Linken in Kreuzberg aktiv gewesen waren, haben wir uns im Verlauf des Jahres 1989 an türkische und kurdische Linke gerichtet und gesagt, sie sollten sich mit uns als Immigranten in Deutschland organisieren. Das hieß, sie sollten weiterhin in ihren Organisationen zur Situation in ihrem Land arbeiten, aber daneben als Einzelpersonen Ali oder Ahmet auch in unserer parteiunabhängigen Gruppe mitmachen. Zur gleichen Zeit erfuhren wir, daß es in Neukölln und Wedding unabhängig von uns ähnliche Initiativen gab. Mit denen haben wir uns 1989 zusammengeschlossen und uns den gemeinsamen Namen
Antifasist Gençlik gegeben.

¿Schon vor dem Entstehen von Gençlik gab es in Berlin Jugendliche, die zum Teil in Banden organisiert waren und sich gegen den rassistischen Terror zur Wehr setzten. Zum 100. Geburtstag von Hitler am 20. April 1989 gingen ja viele Jugendliche spontan auf die Straße, nachdem der Senat ihnen geraten hatte, sich vor befürchteten Nazi-Angriffen lieber zu Hause zu verstecken.

A: Das war zeitgleich zum Entstehen von AG. Am 20. April waren wir zum ersten Mal den Jugendlichen auf der Straße, allerdings - das ist richtig - ohne da bereits den Namen Antifasist Gençlik zu verwenden. Nach diesem Tag ist uns bewußt geworden, daß sehr viele Jugendliche von sich aus Interesse haben, gegen den Rassismus aktiv zu werden.

¿Kannst du nochmal genauer sagen, aus was für Leuten Antifasist Gençlik damals hervorgegangen ist? Du hast ja gesagt, daß auch organisierte türkische und kurdische Linke angesprochen wurden. Auf der anderen Seite war das Entstehen von Gençlik durchaus auch eine Kritik an diesen Leuten, die mit den Jugendlichen der dritten Generation überhaupt nichts zu tun hatten und ausschließlich zur Situation in ihrer Heimat arbeiteten.

A: Ja, das stimmt. Wir waren 5 Leute, die selbst aus der türkischen Linken kamen und mit der Politik dieser Gruppen nicht mehr übereinstimmten. Wir sahen, daß die türkischen Leute in Deutschland andere Probleme hatten, und zwar genau deswegen, weil sie hier leben. Die türkischen Jugendlichen, hier groß geworden waren, hatten mit der Türkei fast keine Verbindungen mehr.
Sie interessierten sich nur am Rande für das, was in der Türkei passierte, sie lebten und fühlten die Realität in Deutschland.
Wir fanden es unmöglich, wie die türkische Linke in ihren Vereinen darauf wartete, daß die Jugendlichen zu ihnen kamen. Unserer Meinung nach mußte man mit den Jugendlichen auf der Straße sein, zu ihren Problemen arbeiten, wenn man sie politisieren wollte.
Eine andere Kritik an den türkischen Gruppen war ihr Verhältnis zur deutschen Linken. Die türkischen und kurdischen Organisationen gingen auf die deutschen Leute nur zu, wenn sie Unterstützung brauchten. Dann redeten sie von internationaler Solidarität. Aber wenn sie von deutschen Linken angesprochen wurden, wie z.B. bei der Anti-NATO-Bewegung oder der Anti-AKW-Bewegung in den 80er Jahren, dann waren sie nicht auf der Straße.

¿Du hast gesagt, daß bei AG organisierte türkische und kurdische Linke als Einzelpersonen mitarbeiten konnten. Gab es da keinen Versuch, AG als Vorfeldorganisation für die eigene Organisation zu benutzen?

A: Ja, manche haben das versucht, obwohl wir immer gefordert haben, daß die Leute nicht als Dev Sol, Dev Yol oder eine andere türkische oder kurdische Organisation zu uns kommen, sondern als Einzelpersonen. Unsere Idee war es, eine gemeinsame Plattform zu der Situation von ImmigrantInnen in Berlin zu verfassen, in der die unterschiedlichen Leute sich hätten wiederfinden können. Das hat nicht geklappt, weil zu viele türkische Linke sich dogmatisch verhalten und weiterhin nur in den Maßstäben ihrer Organisation gedacht haben. Sie waren dem Land, in dem sie leben, und vor allem den Jugendlichen hier gegenüber völlig fremd.

¿Euer Verhältnis zu den türkischen und kurdischen Linken ist 1990/91 abgekühlt. Während die Resonanz der Jugendlichen auf eure Initiative sehr gut war, kam es zu offenen Konflikten mit den Linken.

A: Viele von den Linken haben uns als ideologielose Leute bezeichnet, die keine politische Linie verfolgen und im Endeffekt selber eine Art Bande sind. Die PKK hatte demgegenüber eine andere Position. Sie meinte, daß es besser sei, Jugendliche auf der Straße zu politisieren als im Blumentopf - also in irgendeinem Verein beim Teetrinken.
Es gab kurdische Jugendliche, die obwohl sie mit kurdischen Organisationen zusammenarbeiteten, auch mit uns Kontakt hielten. Wir haben auch mit älteren kurdischen Leuten darüber diskutiert, daß die ImmigrantInnen insgesamt für ihre Rechte wie Arbeit, Wohnraum, gegen den Rassismus usw. auf die Straße müßten. Es gab also durchaus Gruppen, die unsere Vorstellung von einem Immigranten-Widerstand gegen die Verhältnisse in Deutschland teilten.

¿Du hast jetzt immer "ImmigrantInnen" gesagt, aber AG beschränkte sich im Grunde genommen doch weitgehend auf türkische und kurdische Leute.

A: Am Anfang gab es griechische, später auch arabische, libanesische und chilenische Jugendliche, die mit AG zusammengearbeitet haben. Wir haben uns Antifasist Gençlik genannt, weil die Mehrheit der in Kreuzberg lebenden Jugendlichen aus der Türkei ist, aber wir hätten uns, wenn es z.B. mehr Griechen gegeben hätte, sicherlich einen griechischen Namen gegeben.

¿Was hat AG 1990/91 gemacht? Auf was habt ihr euch nach dem Mauerfall, nach dem sich der Rassismus unglaublich verschärfte, konzentriert und wie groß war euer Einfluß auf die Jugendlichen?

A: Wir hatten sehr schnell den Respekt von Jugendlichen im Kiez. Sie sind von sich aus zu uns gekommen und haben uns gefragt, was man machen kann. Unsere Vorschläge waren z.B. zusammen S-Bahn zu fahren, denn es kam in den Ostberliner S-Bahnen immer wieder zu rassistischen Angriffen, manchmal wurden sogar Leute aus den fahrenden Wagen geworfen, oder gemeinsam zum Alex zu gehen, um die dort versammelten Nazis zu vertreiben. Dieses selbstständige Handeln der Jugendlichen hat uns auf die Idee gebracht, daß wir die verschiedenen Jugendbanden, die es in Berlin gab, miteinander versöhnen könnten. Daraufhin sind wir auf die Black Panther aus dem Wedding, die 36 Boys aus Kreuzberg, die Barbaren aus Schöneberg usw. zugegangen.

¿...eure Orientierung an Banden hat sich also erst allmählich herausgebildet. Ihr habt bei eurer Arbeit im Stadtteil festgestellt, daß die Gangs eine große Rolle unter den Jugendlichen spielen, und daß man deswegen mit ihnen reden muß...

A: Die Banden waren der kämpferischste Teil der Kids im Stadtteil.
Uns war klar, daß wenn wir nicht mit ihnen zusammenarbeiten und sie politisieren würden, daß sie dann im Verlauf der Jahre zur Mafia gehen würden. Wenn du mit den 16-, 17jährigen geredet hast, dann haben dir ganz viele gesagt: Ich hab keine Chance auf einen Job, aber ich kann später vielleicht Drogen dealen, als Zuhälter arbeiten oder hehlen. Viele von den Jugendlichen hatten keine andere wirtschaftliche Perspektive als die Mafia. Dazu kam das Identitätsproblem, sie waren und sind weder in der Türkei zu Hause noch im Deutschland seit 1989. Es war völlig klar, daß wie deswegen mit ihnen politisch arbeiten mußten.
Die gemeinsamen politischen Aktionen richteten sich fast ausschließlich gegen Nazis. Das hatte mit der Wirklichkeit der Jugendlichen zu tun. Die Präsenz der Nazis war erdrückend, der Rassismus war noch alltäglicher geworden seitdem. Soziale Forderungen, wie z.B. nach einem Schul- oder Ausbildungsplatz hätten wir natürlich aufgegriffen, wenn die Jugendlichen sich dafür interessiert hätten. Aber das war noch nicht der Fall. Wir haben uns deswegen darauf beschränkt, als ersten Schritt mit ihnen gemeinsam Aktionen gegen Nazis zu machen.
Inzwischen sehe ich es als Fehler, daß wir uns nur mit irgendwelchen faschistischen Hohlköpfen auseinandergesetzt haben. Wir hätten auch die sozialen Forderungen diskutieren und auf die Straße bringen müssen. Nur so hätten die Jugendlichen ihre eigene Situation wirklich begreifen können.
 

¿Bevor Gençlik 1992 in die Krise gestürzt ist, hat sich das Verhältnis zur deutschen Linken immens verschlechtert. Vor allem nach der Hoyerswerda-Demonstration 1991, wo Jugendliche eine Bullensperre durchbrechen und deutsche autonome Linke sie daran hindern wollten. Es kam zu einer Schlägerei zwischen den beiden Gruppen und danach zu einem schweren Streit zwischen Autonomen und AG, wo sich Deutsche sehr arrogant verhielten. Wie siehst du das Verhältnis zur deutschen Linken im nachhinein?

A: Es gab am Anfang fast gar keine Beziehungen zu deutschen Linken. Nur über Einzelpersonen haben wir allmählich die antifaschistische deutsche Linke kennengelernt. Es gab gegenseitige Vorurteile, auf Seiten der Deutschen vor allem eine massive Arroganz. Eine konstruktive Kritik, die uns weitergebracht hätte, wurde nicht vorgebracht, sondern bis auf wenige Ausnahmen immer nur Angemache. Einige deutsche Autonome haben nicht begriffen, daß Antifasist Gençlik als Jugendgruppe mit Leuten zusammenarbeitete, die erst seit ein paar Monaten politisiert waren. Diese Jugendlichen haben auf das Pogrom sehr emotional, sehr wütend reagiert und hatten deswegen kein Interesse an einer politischen Demonstration. Sie wollten ihren Haß gegen den Rassismus in Deutschland einfach herausschreien.
Ein politischer Umgang damit hätte bedeutet, sich gemeinsam zu überlegen, welche Projekte man machen kann, um die Politisierung dieser Jugendlichen weiterzutreiben. Die deutschen Autonomen haben darüber aber nicht diskutiert. Es gab kein Interesse an der Entwicklung einer gemeinsamen Arbeit, wo deutsche und türkische Jugendliche zusammenkommen könnten. Manche Autonome haben die Krawalle verteidigt, weil das ihrem Politikverständnis entspricht, andere haben uns einfach nur als Brutalos angepöbelt. Und dann fiel der berühmte Satz eines bekannten Autonomen, der meinte "wir brauchen Euren Mut, wie ihr unsere Klugheit braucht". Diese Scheiße werde ich nie vergessen. Die Vorurteile bei Leuten von uns, bei Jugendlichen wie bei Älteren, haben sich dadurch noch einmal verstärkt.
Bei der Auseinandersetzung spielte auch eine wichtige Rolle, daß sich viele von uns auf Deutsch nicht richtig ausdrücken können. Die verstehen manche Sachen inhaltlich nicht, ober aber sie begreifen die Denkweise nicht. Wenn wir etwas gesagt haben, wurde das ignoriert oder belächelt. Das hat die Wut natürlich vergrößert.
Das ist die eine Seite des Problems. Die andere war, daß uns manche Gruppen funktionalisieren wollten. Sie meinten, Leute und politisches Profil gewinnen zu können, wenn, sie mit uns mehr zu tun hatten. Sie versuchten, mit einzelnen von uns zusammenzuarbeiten und haben dadurch die Streitigkeiten der autonomen Antifa in Berlin in AG hineingetragen. Es fehlte der Respekt gegenüber uns als selbstständiger Gruppe, es gab keine Solidarität mit unseren Aktionen, sondern entweder Vereinnahmung oder eben Ignoranz.

¿Meine Wahrnehmung ist ein bisschen anders. Mein Eindruck bis zum Streit um Hoyerswerda war, daß AG von den Autonomen unkritisch hochgejubelt wurde. Es gab fast keine Verbindungen zu AG, aber man freute sich darüber, daß endlich ein autonomes Subjekt in Sicht war: militante, selbstorganisierte Jugendliche.

A: Mag sein, daß es auch diesen positiven Rassismus gab. Auf jeden Fall waren es sehr wenige Leute, die ernsthaft und kritisch mit uns zusammengearbeitet haben. Für mich ist klar, daß ein Linker, egal wo er oder sie herkommt, keine Nationalität besitzt. Ich glaube aber, daß wir alle von den herrschenden Normen in unseren Ländern geprägt sind. Wir müssen versuchen, diese Normen, die ganzen negativen Verhaltensformen dadrin zu erkennen und abzubauen. Die deutsche Linke, wie ich sie kennengelernt habe, hat das nicht geschafft. Sie trägt kaputte Hosen, bunte Haare, oder andere haben theoretisch viel darauf, aber mit den Tabus und Denkarten der deutschen Kultur haben sie dadurch nicht gebrochen. Die sind in der Szene genauso da.

¿Das stimmt für die türkische Linke in anderer Form natürlich auch...

A: Klar, in bestimmten Teilen der türkischen Linken ist das richtig. Es gibt natürlich auch dort Rassismus. Auf der anderen Seite glaube ich, daß du, um in vielen kurdischen oder türkischen Organisationen an einer bestimmten Stelle zu sein, wirklich links denken und handeln können mußt. Viele GenossInnen dort haben sehr radikal mit den türkischen Verhaltensmustern gebrochen. Sie denken und handeln eben nicht feudal, wie die türkische Gesellschaft an sich ist. Ich glaube, daß die Flucht von vielen türkischen Linken aus ihrem Land auch dazu geführt hat, daß sie von anderen Kulturen lernen konnten. Viele von uns sind dadurch, daß sie in verschiedenen Ländern gearbeitet haben, wirklich InternationalistInnen geworden.
Bei der deutschen Linken dagegen bemerkt man den Wunsch, sich abzugrenzen von der Gesellschaft. Es ist ihnen peinlich, Deutsche zu sein. Das ist keine Lösung. Es gibt keinen Grund, stolz darauf zu sein, daß man Türke oder Deutscher ist. Anders herum gibt es aber auch keinen Grund dafür, daß einem das peinlich ist. Die Türkei hat 1918 Hunderttausende von ArmenierInnen niedergemetzelt und massakriert jetzt KurdInnen. Ich muß diese Sachen wissen und dagegen arbeiten. Mir ist es aber nicht peinlich. Vergangenheitsbewältigung funktioniert nicht durch Abgrenzung. Mein Eindruck ist, daß es in der deutschen Linken bis heute keine gemeinsame Vergangenheitsbewältigung gegeben hat.

¿Was sicherlich stimmt, ist, daß sich in keinem Land, das ich kenne, die Linke derart stark über Selbstabgrenzung definiert wie in Deutschland.

A: Es gibt eine Art Uniformierung der Linken. Sie glaubt dadurch von außerhalb der Gesellschaft für eine Veränderung agieren zu können. Das ist natürlich totaler Unsinn. Den größten Sprung hat die deutsche Linke 1968 gemacht, als sie durchaus noch Teil der Gesellschaft war. Die Selbstausgrenzung begann mit Subkulturen wie den Hippies in den 70er Jahren.

¿1992 gab es die Veranstaltung "Birlikte Güclüyuz" - Gemeinsam sind wir stark -, die ihr mit den Gangs organisiert habt. Den ganzen Abend haben die Leute, bestimmt 600-700 Jugendliche spontan gerappt und gebreakdanct. Dann ist eine Massenschlägerei ausgebrochen und alles, was ihr an Zusammenarbeit der Banden erreicht hattet, ist kaputt gegangen. Warum kam es zu dieser Auseinandersetzung zwischen den Gangs, und warum ist Gençlik daran zerbrochen? Die Gruppe löste sich danach ja auf.

A: Vor der Veranstaltung gab es in AG Diskussionen darüber, ob wir die Veranstaltung gleich machen oder aber noch warten sollten, um vorher mit den Jugendlichen intensiver zu diskutieren und mehr gemeinsame Erfahrungen auf der Straße zu sammeln. Es gab ja gewalttätige Konflikte zwischen den Banden, und einige von uns meinten, daß wir deswegen mit einer Veranstaltung für alle Gangs noch warten sollten. Der andere Teil von AG meinte dagegen, daß wir so schnell handeln müßten wie möglich, daß wir die Chance nicht verstreichen lassen dürften. Tatsächlich begannen damals die Streetworkerprogramme des Senats, mit denen die Jugendlichen entpolitisiert und gespalten werden sollten. Am 1. Mai wurden Flugblätter verteilt: "Geh nicht auf die Demo, komm zu unserer Fete" usw. Es gab daher die Befürchtung, daß die Jugendlichen so massiv beeinflußt werden könnten, daß unserer politischen Arbeit damit der Boden entzogen werden würde.
Wir haben uns für ein schnelles Handeln entschieden. Am Vorabend der Veranstaltung haben wir mit den Bandenchefs diskutiert und alle haben gesagt, daß der Kampf untereinander aufhören muß und daß von nun an der Faschismus der gemeinsame Gegner sei. Bei den Vorbereitungen gab es überhaupt keine Probleme.
Am Abend war zunächst auch alles in Ordnung, dann jedoch gab es diesen Bullenfunkspruch, der von Leuten mitgehört wurde: "Von uns können wir niemanden reinbrigen, aber wir können einen von ihnen reinschicken". Als die Nachricht von dem Funkspruch zum Veranstaltungsort kam, war der Streit schon losgegangen. Einige von uns haben sich dann falsch verhalten, sie haben hin- und herlaviert...
 

¿Du meinst, sie haben sich auf eine Seite geschlagen?

A: Nein, sie haben sich nicht eindeutig genug verhalten. Wir hätten sagen müssen: "Wer hier Streit anfängt, kriegt von uns eine aufs Maul". Die Verantwortlichen für den Streit hätte man rausschmeißen können. Das haben wir nicht gemacht, wir haben die Vermittler gespielt und Bedingungen der Banden erfüllt. Dadurch ging der Respekt, den wir als AG bei ihnen hatten, verloren. Die Banden sind aufeinander losgegangen und der Krieg untereinander war größer als vor der Veranstaltung.
Danach griffen Bandenjugendliche Leute von uns an, in unserem Treffpunkt wurden die Scheiben eingeschmissen usw. Es stellt sich also heraus, daß es tatsächlich für die Veranstaltung zu früh gewesen war. Zumindest hätten wir uns überlegen müssen, wie wir auf eine Provokation, die von den Bullen eingefädelt wurde, reagieren. Die Debatte darüber und der Streß, den wir durch die Situation hatten, führte dazu, daß wir uns als AG zerstritten haben.
Die Gruppe zerfiel in Splitter, die Gemeinsamkeiten unseres Handelns, die wir ins unseren 15 Grundsatzpunkten vereinbart hatten, gingen verloren und einzelne von uns begannen, sich mit deutschen autonomen Gruppen zu identifizieren. Es wurde also auch noch der Streit von außerhalb in uns hineingetragen. Unsere ursprüngliche Position, daß nämlich Leute aus anderen Gruppen und Organisationen bei uns nur als Einzelpersonen mitarbeiten dürften, wurde aufgegeben. Ich halte das für einen Fehler, wir hätten diejenigen die sich in
Antifasist Gençlik als Mitglieder einer Organisation, Partei oder Gruppe verhielten, rauswerfen müssen.

¿Meinst du wirklich, die Veranstaltung damals endete nur deswegen in einer Schlägerei, weil die Bullen mit einem Provokateur arbeiteten, oder hatte das nicht auch mit eurem Umgang mit den Jugendlichen zu tun? Also gab es nicht grundlegende Fehler in der Arbeit mit den Banden?

A: Das ist auch ein Grund gewesen, sicher. Die Jugendlichen in den Banden sind sowieso ein bißchen ausgeflippt, sie fühlen sich bei Aktionen besonders stark und denken wenig über ihr Verhalten nach. Sie müssen sich gegenüber den anderen ständig beweisen, wollen immer die stärksten sein. Wir haben im Verlauf unserer Arbeit vergessen, daß diese Jugendlichen absolut unpolitisch sind, wie haben auch nicht gesehen, welche Scheiße sie da machen, daß sie nämlich dealen oder irgendwelche anderen Dinger drehen. Wir haben die Lumpen, denn viele dieser Bandenjugendlichen sind eine Art "Lumpen" überschätzt.

¿Würdest du sagen, daß die Orientierung an den Banden insgesamt falsch war? Du hast ja schließlich auch erzählt, wie es dazu kam, daß nämlich diese Jugendlichen diejenigen waren, die sich auf der Straße am kämpferischsten Verhalten haben...

A: Die Fixierung war zum Teil falsch, aber was richtig daneben war, war unsere ideologische Arbeit mit den Jugendlichen. Es gab keine linke Erziehung. Wir haben uns darauf beschränkt, sie emotional anzusprechen, mit ihnen Aktionen zu machen, gemeinsam auf der Straße zu sein. Darüber hinaus gab es nichts. Aktionismus ohne politische Erziehung ist niemals sinnvoll.
Wir haben uns nicht als Vorbilder für die Jugendlichen verhalten. Einzelne von uns haben sich ihnen angepaßt, haben ihre Sprache und ihr Verhalten übernommen. Wenn du dich aber auf die völlig gleiche Ebene begibst, dann geht der politische Respekt verloren.

¿Was meinst du mit "gleicher Ebene"? Die Unfähigkeit, selber bei Aktionen bedacht zu handeln?...

A: Mit "gleicher Ebene" meine ich z.B., die gleichen Späße zu machen oder genauso zu reden wie sie. Es muß in manchen Punkten deutlich werden, daß sich Linke von Lumpen unterscheiden. Du mußt zeigen, daß du denkst und daß du anders handelst als sie.

¿Das stimmt, stimmt aber auch wieder nicht. Damit du überhaupt miteinander handeln kannst, mußt du auf sie zugehen. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, rede ich natürlich anders als auf einem politischen Treffen. Ich will nicht den Fremden spielen, der über ihnen steht - von solchen Autoritäten haben sie genung -, ich bin genauso einer wie sie, trotz der Unterschiede.

A: Ich meine nicht, daß man sich arrogant oder abgehoben verhalten sollte. Ich meine, daß wir bei jeder Aktion eine politische Sprache benutzen sollten. Schon das erzieht sie, sie sehen, daß politisches Handeln nicht aus dem Bauch kommt, daß du mehr willst, als deine Wut abzureagieren. Du erziehst also vorher, während und nach der Aktion, du planst, besprichst nach, handelst mit deinem Kopf. Natürlich mußt du auch ein Freund werden, mußt du die Dinge teilen mit ihnen: mit ihnen weggehen, mit ihnen auch andere Sachen machen als nur politische.
Aber du darfst nicht anfangen, die gleiche sexistische Sprache zu verwenden und dich völlig anzupassen. Du hast weiterhin deine Rolle als Linke/r. Es ist völlig falsch, aus Angst, man könnte die Jugendlichen verlieren, mit Kritik zurückzuhalten. Wenn sie menschenverachtende Sprüche machen, ist es deine Aufgabe als Linker, dazu etwas zu sagen.
 

¿Wenn du dich bedächtig zeigst, wenn du bei einer Demo klar machst, daß es besser ist, sich in einer bestimmten Situation nicht mit den Bullen zu schlagen, hast du natürlich ein neues Problem: du gilst als Laberkopf. Die Reaktion ist durchaus verständlich: so viele Linke sind Kaffeehausrevolutionäre, sie trinken Tee und planen den Umsturz. Der Respekt, den sich Gençlik unter den Jugendlichen geholt hat, hatte dagegen sehr viel damit zu tun, daß Gençlik eingegriffen hat. P { margin-bottom: 0.21cm; }

A: Klar müssen auf der Straße mit den Jugendlichen Präsenz zeigen. Aber es gab Erfahrungen, wo bei einer Aktion gegen Nazis zwei Jugendliche eingefahren sind, und danach kamen ihre Freunde zu uns und meinten, wir hätten sie ausgenutzt. Das kam daher, weil wir nicht politisch genug mit ihnen geredet haben. Du mußt die Gefahren von Aktionen im Vorfeld darstellen. Wenn die Jugendlichen dann nicht mitkommen wollen, ist das ihre Entscheidung.
Ich bin unbedingt dafür, daß wir mit den Leuten auf der Straße sind. Es bringt überhaupt nichts, nur Seminar mit ihnen zu machen und herumzusitzen. Wir müssen draußen handeln, aber wir müssen dabei überlegen. Wir müssen bei Aktionen zeigen, daß es nicht unsere Aufgabe sein kann, irgendwelche anpolitisierten Fascho-Jugendlichen zu bestragen. Unsere Aktionen müssen sich gegen organisierte Kader richten. Die rein emotionale Reaktion, jeden Jung-Nazi anzugreifen, den man sieht, ist politisch nicht sinnvoll. Wir haben gegenüber unseren Jugendlichen nicht vermittelt, daß es nicht um emotionales, sondern um politisches Handeln geht.
Der gleiche Fehler ist im Übrigen auch von Linken in der Türkei begonnen worden. Sie haben den Bauernsohn Mehmet umgebracht, weil er mit den Faschisten arbeitete, aber wir haben die Verantwortlichen ausgespart.

¿Wie schätzt du die Möglichkeiten für einen neuen Versuch der ImmigrantInnenselbstorganisierung ein? In Berlin ist ja ziemlich offensichtlich, daß die Idee von Antifasist Gençlik so nicht mehr funktionieren würde. Auf der anderen Seite merkt man unter Jugendlichen - Jungs wie Mädchen - eine große Unruhe. Nicht nur wegen der deutschen Nazis, sondern vor allem wegen des Erstarkens der türkisch-faschistischen Grauen Wölfe und der islamistischen Refahcilar.

A: Ich sehe Perspektiven für neue Versuche. AG hat ein Vakuum hinterlassen. Die Jugendlichen der dritten Generation haben die Schnauze weiterhin voll, ihre Diskriminierung hat nicht abgenommen. Bevor wir einen neuen Anfang machen, müssen wir aber erst einmal die Erfahrungen von AG selbstkritisch aufarbeiten. Außerdem müssen wir eine Kritik an der deutschen Linken formulieren. Zur Zeit ist es noch zu früh, erneut auf die Straße zu gehen. Solange es keine Klarheit über die begangenen Fehler gibt, wäre so etwas fatal. Wir müssen zum Beispiel ein anderes Verhältnis zur Militanz entwickeln. Mein Eindruck ist, daß AG in diesem Punkt sehr stark von den militaristischen Denkmustern der türkischen Linken beeinflußt war.

¿Aber die Notwendigkeit einer selbstständigen ImmigrantInnenorganisierung, unabhängig von der deutschen Linken, siehst du weiterhin?

A: Wir brauchen natürlich Auseinandersetzungen mit der deutschen Linken. Aber ich finde es wichtig, daß diese Kontakte nur von einzelnen aus der Gruppe gemacht werden. Unsere Erfahrung war ja, daß sich die Konflikte der deutschen Linken zunehmend bei uns niedergeschlagen haben. Leute von uns, die keine klare eigene Position hatten, haben sich von den deutschen Linken mal so und mal anders beeinflußen lassen. Um das zu vermeiden, sollten nur solche Leute die Diskussionen mit den deutschen Linken führen, die einen eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung auch formalisieren können. Ansonsten wird das eigenständige an unserer Organisierung verloren gehen.

¿Ich verstehe nicht, warum du - wenn du einen antinationalistischen Standpunkt hast - es so betonst, daß ImmigrantInnen sich abgeschottet organisieren wollen. Du forderst ja nicht einfach autonome Organisierung, du verlangst die Reduzierung der Kontakte...

A: Wir wollen ganz einfach nicht wieder das Prestigeobjekt von manchen deutschen Linken werden, die sich darüber profilieren, daß sie mit uns zusammenarbeiten.

¿Aber das Problem ist doch dann nicht das "deutsche" an der Gruppe. Instrumentalisierung hat etwas mit dem Politikverständnis zu tun, und das kann es bei allen Gruppen und Organisationen geben, egal ob sie deutsch, türkisch, arabisch oder sonst was sind. Ich finde, die richtige Schlußfolgerung wäre, mit allen Gruppen den Kontakt abzubrechen, die einen instrumentellen Umgang mit euch haben.

A: Natürlich müssen wir unser Verhältnis zu verschiedenen Gruppen unterschiedlich bestimmen. Damit das möglich ist, sollten nur bestimmte Leute - d.h. nicht irgendwelche Jugendlichen, sondern Leute mit politischen Erfahrungen - diese Auseinandersetzungen führen. Wir wollen nie wieder als Teil einer bestimmten Fraktion der deutschen autonomen Linken betrachtet werden. Wenn wir als unabhängige Gruppe anerkannt sind, können wir frei zusammenarbeiten. Solange das nicht der Fall ist, müssen wir das irgendwie einschränken.

¿Sag doch etwas zum Kaindl-Fall. Gençlik ist ja immer wieder kriminalisiert worden, im Berliner Verfassungsschutzbericht 1991/92 wurden eure Kontakte zu den Gangs als eine der gefährlichsten Entwicklungen eingeschätzt, und im Kaindl-Fall (wegen des Todes des Nazi-Funktionärs Kaindls sind in Berlin im Augenblick 5 Personen wegen Mordes und 6-fachen Mordversuchs angeklagt; 6 weitere Personen werden von Interpol gesucht) wurde von Anfang an gegen euch ermittelt. Meinst du, der Fall ist auch ein Versuch, ImmigrantInnenorganisierung durch Einschüchterung ein für alle Mal unmöglich zu machen?

A: Zwischen 1965 und 89 gab es in Deutschland praktisch keine Selbstorganisierung von ImmigrantInnen, die eigene Interessen selbstbewußt vertreten hätten. Ab 1989 dann waren zum ersten Mal junge ImmigrantInnen auf der Straße. Daraus hätte eine neue Opposition entstehen können. Der Kaindl-Fall ist natürlich auch als eine Lektion gegen Widerstand leistende ImmigrantInnen gedacht...

¿...Betroffen sind aber auch 3 Deutsche...

A: Ja, die Kriminalisierung richtet sich nicht spezifisch gegen Antifasist Gençlik. Aber es geht sehr wohl hauptsächlich gegen ImmigrantInnen. Daneben geht es gegen den Antifa-Widerstand überhaupt. Die Leute sollen Angst bekommen, auf Aktionen zu gehen. Man will verhindern, daß Antifas zu Nazi-Treffen mobilisieren. Außerdem soll eine Distanzierung zwischen deutschen Linken und ImmigrantInnen erreicht werden. Vorurteile sollen gestärkt werden.

¿Was meinst du zu dem Vorwurf, es gebe bisher kein klares Verhältnis zu den beiden Jugendlichen, die Aussagen gemacht haben? Bazdin und Erkan haben die anderen ja schwer belastet. Sollte man sie in der Öffentlichkeit als Verräter darstellen?

A: Wenn anpolitisierte Jugendliche sich so auf die andere Seite schlagen, sollte das vor allem Anlaß zur Selbstkritik sein. Ich weiß natürlich nichts über den Fall, aber wenn 16-, 17- oder 18jährige zu Aktionen mitgenommen werden, ohne daß sie selber wirklich ein gefestigtes politisches Bild von den Sachen haben, dann ist das unverantwortlich. Ich finde, daß sich die Linke kritisieren lassen muß, warum sie so wenig politische Erziehung macht, warum sie so wenig Erfahrungen an jüngere vermittelt, und vor allem, wie anpolitisierte Jugendliche zu Aktionen mitgenommen werden.
Natürlich kann bei jedem Vorgehen gegen Nazi-Treffen ein Faschist liegen bleiben. Aber es muß erstens klar sein, daß das nicht unser Ziel ist. Und zweitens kann man nur solche Jugendliche zu Aktionen mitnehmen, mit denen man vorher politische Erfahrungen gesammelt hat. Man muß mit ihnen z.B. Flugblätter verteilt haben und wissen, wie sie psychisch drauf sind, wie sie Streßsituationen reagieren, ob sie sich kontrollieren können usw. Erst dann kann man überlegen, was man mit wem unternehmen kann und was nicht.
Wenn wir das als Linke nicht berücksichtigen, dann haben wir auch kein Recht, sie als Verräter abzustempeln. Wir sollten versuchen, sie davon zu überzeugen, daß ihre Zusammenarbeit mit den Bullen für niemanden von Vorteil ist. Die Möglichkeit, ihre Meinung zu ändern, muß ihnen offen gehalten werden.

¿Das ist aber auch eine Frage der Struktur. Wenn Gruppen so locker sind, daß man bei ihnen schnell mitmachen, aber auch leicht wegbleiben kann, wie das in den meisten autonomen Gruppen der Fall ist, dann sind solche Katastrophen vorgezeichnet. Verantwortlicher Umgang kann nur dort entstehen, wo man den Jugendlichen auch ein wenig Selbstdisziplin abverlangt.

A: Das sehe ich genauso. Natürlich gibt es auch immer wieder Aktionen, die man mit Leuten macht, die man nur locker kennt. Dann aber, z.B. bei den S-Bahnfahrten, die wir mit Jugendlichen gemacht haben, muß die Aufgabe der Erfahreneren darin bestehen, den Jugendlichen ihre Messer abzunehmen. Du als politischer Mensch mußt bestimmen, wo die Wahl der Mittel aufhört. Ansonsten kannst du das Geschehen überhaupt nicht beeinflussen.
Außerdem ist es wichtig, ihnen klar zu machen, daß antifaschistischer Kampf nicht hauptsächlich im Schlagen besteht. Die Auseinandersetzung, die politischen Argumente sind wichtiger. Die Glatzen sind nicht unser Hauptfeind.

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