Das Unsichtbare sichtbar machen
Queer*feministische Perspektiven auf Organisierung
Feminismus hat eine lange politische Tradition. Er setzt da an, wo Frauen* aus dem gesellschaftlichen Leben und der Öffentlichkeit ausgegrenzt werden und materieller Abhängigkeit und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Feminismus hinterfragt eine homogene Klassenidentität, die ausblendet, dass es vergeschlechtlichte, unbezahlte Formen von Arbeit gibt, die „ganz natürlich“ Abhängigkeiten und Hierarchien erzeugen. Gemeinsam ist queeren und feministischen Ansätzen, unsichtbare gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar zu machen. Sie sind der alltägliche Widerstand und Kampf um das Öffentliche und begreifen Politik als ein Feld, das nicht vom Leben abgekoppelt ist. Während Feminismus eine Notwendigkeit im Hier und Jetzt ist, bietet der queer*feministische Ansatz darüber hinaus die konkrete Utopie jenseits der gesellschaftlichen Regeln zur biologischen Zweigeschlechtlichkeit. Queere Ansätze hinterfragen die Basis, auf der geschlechtliche Unterdrückung überhaupt passieren kann. Wie werden Geschlechter gemacht? Wen schließen sie aus? Wie kann die starre Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen werden? Der queere Ansatz ist für uns eine aktiv eingreifende Methode, scheinbare Selbstverständlichkeiten in alltäglichen Praktiken zu demontieren und darüber hinaus ein analytisches Werkzeug, um die kapitalistische Logik dahinter auseinander zu nehmen. Das ist unser gesamtgesellschaftliches Bemühen, aber auch unser Bestreben in der Organisierung zur Interventionistischen Linken (IL ). Daher ist dies keine Praxis, die wir auf Übermorgen verschieben, sondern jetzt erproben wollen.Vor mehr als drei Jahren wurde die erste IL -Queer_Feminismus-AG gegründet. Unter anderem dadurch wurde die Debatte und Auseinandersetzung über queer*feministische Praxis erstmals offensiv in die eigenen Strukturen hineingetragen. Seitdem hat sich einiges getan. Aus einer queer*feministischen Perspektive wollen wir in diesem Artikel die Kämpfe und Entwicklungen der letzten Jahre reflektieren und eine kritische Bestandsaufnahme der Organisierung in der IL machen.
Kein braver akademischer Zirkel
Noch viel zu oft verharren queere und feministische Ansätze in ihren braven akademischen Zirkeln, anstatt sich direkt da einzumischen, wo es nötig wäre: zum Beispiel zu Fragen der Ökonomie, Kapitalismus, Nationalismus, Arbeit oder Reproduktion. Doch das soll sich ändern! Als queerfeministische und linksradikale Gruppe steigen wir in einen politischen und sozialen Kampf ein, der einerseits die Kategorie „Geschlecht“ braucht, um die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten benennen zu können.
Andererseits greift unser Kampf geschlechtliche Kategorien in ihrer Bipolarität an. Wir betrachten die Wechselwirkungen und Verschränkungen verschiedenster Diskriminierungen und Ausschlüsse, wie race, Klasse, Gender und Körper, als Kampffeld: So kritisieren wir zum Beispiel die etablierte Selbstverständlichkeit heterosexueller Paarbeziehungen, über die ein Großteil notwendiger Reproduktionsarbeit kostengünstig in Familien abgewickelt wird. Silvia Federici schreibt dazu in ihrem Buch aus der Reihe kitchen politics: „Die im globalen Norden zunehmende neoliberale Entsicherung der Reproduktionsphäre (Kürzung sozialstaatlicher Leistungen, Individualisierung von Pflege und Gesundheit etc.) führt zu einem verstärkten Bedürfnis nach reproduktiver Sicherheit, das sich an traditionellen Vorstellungen von heterosexuellen Familien- und Versorgungsarrangements orientiert“. Also die Flucht aus der Unsicherheit in den „sicheren Hafen der Kleinfamilie“. Gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse anzugehen, sie zu dekonstruieren und queer*feministische Sichtweisen wirkmächtig zu verankern, ist auch in der eigenen Strukturarbeit ein notwendiger Schwerpunktder politischen Auseinandersetzung in Theorie und Praxis.
Fragen an uns selber
Teil unserer Thematisierung und Auseinandersetzung der eigenen Eingebundenheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihrer Ausübung war eine Selbstbefragung unserer Gruppen. Denn nach wie vor bedeutet das gemeinsame Voranschreiten in Richtung einer befreiten Gesellschaft leider nicht automatisch auch, selbst frei von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu sein. Wir wollten wissen, wie Wünsche nach emanzipatorischen Lebensweisen aussehen und konkret organisiert werden. Dabei mussten wir feststellen, dass es eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt, die oft an der Grenze zwischen der eigenen Politarbeit und der „privaten“ Gestaltung des eigenen Lebens verläuft. Damit meinen wir, dass es durchaus eine Grundhaltung gibt, das Private politisch zu denken. Im eigenen Leben fungiert das Private jedoch praktisch als Rückzugsraum, der frei von politischen Debatten ist. Das aktive Einbringen, Einfordern und die tatsächliche Auseinandersetzung mit queer*feministischenPerspektiven und Politik hängt oft noch am Engagement von Einzelpersonen oder einzelnen AGen, die sich dem Thema geöffnet und zugewandt haben.
Dies ist Ausdruck einer leider immer noch verbreiteten Auffassung von Geschlechterverhältnissen und anderen Hierarchien als eher zweitrangiges Thema oder Thema der Betroffenen. Dies zeigt auch die zögerliche Auseinandersetzung mit Transphobie innerhalb der IL. Bislang wurde das Thema nur schlaglichtartig beleuchtet, aber es gab keine weiterführende Auseinandersetzung über die strukturellenAusschlüsse. Dabei wäre es wichtig, dass Trans*-Personen sich der solidarischen Unterstützung sicher sein können und dieser Kampf nicht als individuelle Angelegenheit gesehen wird. Außerdem haben wir mit unserer eigenen geschichtlichen Auseinandersetzung mit der autonomen Bewegung zu kämpfen: Sobald wir von der Wichtigkeit der Bedürfnisse sprechen, bekommen einige Angst, wieder in alte selbstreferenzielle Muster zu verfallen. Für uns ist es das gerade nicht. Hierarchien und Diskriminierungen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus oder Klassismus sind immer noch Teil der Gesellschaft, in der wir leben, arbeiten und kämpfen. Eine antikapitalistische Perspektive auf Vergesellschaftung muss daher die eigenen Lebensverhältnisse mitdenken und von den Bedürfnissen und nicht nur von den Notwendigkeiten von Vergesellschaftung ausgehen. In allen privaten und politischen Lebensbereichen müssen die heteronormativen Aspekte einer neoliberalen Gesellschaft aktiv aufgebrochen und divers weitergedacht werden, um Ausschlüsse zu verhindern und nicht weiter zu reproduzieren. Und genau darum geht es in der queer*feministischen Theorie und Praxis: nämlich um emanzipatorische Selbstermächtigung, Sichtbarmachung sowie Umverteilung und Arbeitsteilung. Dieses Ziel und der Weg dahin sind keine Punkte, zu denen es in der IL einen Konsens geben würde. Dies bleibt für uns ein Problem, da eine solidarische Perspektive auf Ebene der Gesamt-IL fehlt.
Die IL ist mittlerweile eine so große Organisation, dass in Bezug auf Feminismen unterschiedliche Ansätze aufeinander stoßen. Allein durch die große Altersspanne kommen Personen zusammen, die in den verschiedenen Feminismus-Wellen politisiert wurden. Insofern existieren gleichheits-, differenz- und queer*feministische Vorstellungen nebeneinander und stehen teils in Konflikt zueinander. Wir wollen dies aber keineswegs als eine Schwäche sehen, sondern versuchen, diese Konflikte für uns produktiv zu machen. Es ist ein enormer Schatz unserer Organisierung, dass wir generationenübergreifend aufgestellt sind und damit ein enormes Archiv an historischem Bewegungswissen vereinen.
FLT *-Räume
Konkret wurde in den letzten Jahren einiges erkämpft. Auf IL -Gesamttreffen gibt es nun eine FLT *(FrauenLesbenTrans*)-Vollversammlung (VV ), in der wir einen eigenen und empowernden Zugang zum Gesamtprozess und Debatten entwickeln. Auch dieser Raum musste innerhalb der Organisierung errungen werden. Gerade weil wir bewusst in gemischtgeschlechtlichen Gruppen organisiert sind, braucht es solche Räume, da FLT*s immer einen doppelten Kampf zu führen haben. Die Bedeutung von expliziten FLT*-Räumen als geschützten Räumen ist vielleicht der prominenteste Ansatz queer*feministischer Organisierung, die sich nicht den Stempel der „Genderpolizei“ aufdrücken lassen will. Idealerweise bietet ein geschlossener und geschützter Raum einen Ort, an dem verletzende und diskriminierende Verhaltensweisen nicht stattfinden, weil diejenigen, die oftmals aus einer privilegierten Position heraus ein solches Verhalten an den Tag legen, keinen Zugang dazu haben. Viele queer*feministische, trans* und inter*-Gruppen haben aus gutem und berechtigtem Grund diesen Ansatz gewählt – denn auch der Weg durch linke und linksradikale Strukturen ist und kann steinig, frustrierend und kraftraubend sein. Nach wie vor bleiben problematische Verhaltensweisen und reproduzierte Privilegien Themen der Reflexion und Konfrontation der jeweiligen Gruppe. Das mag bisweilen müßig sein, „kleinkariert“ gar, doch erscheint uns diese nötige Auseinandersetzung mit dem eigenen Wirken unausweichlich.Schließlich sollen queer*feministische Perspektiven mehr sein als eine bloße Blaupause für eine berechtigte Kritik an bestehenden Mechanismen gesellschaftlicher Machtstrukturen. Denn wenn uns der Widerstand darin zweifelsohne eint, die Reproduktion gelebter Privilegien wird eben und gerade auch in den eigenen Reihen immer wieder hinterfragt werden müssen.
Was also sind dann die Inhalte der FLT*-Vollversammlung? In der Debatte stellte sich schnell heraus, dass die unterschiedlichen Verständnisse von Feminismen in Konflikt zueinander stehen. Es kam beispielsweise die Diskussion auf, weshalb das T für Trans* in der Bezeichnung auftaucht. In unseren Augen sollte die Frage aber lauten, wieso andere geschlechtlichen Identitäten wie Inter* darin immer noch fehlen. Denn nach unserem Selbstverständnis sollten wir eine FLTI*- oder auch FLTIQ*-VV haben. Die Konsequenz war für einige, die FLT*-VV nicht mehr zu besuchen, weil einerseits nicht mehr an eine konstruktive Auseinandersetzung geglaubt wurde. Andererseits konnten einige Leute die FLT*-VV nicht mehr als einen solidarischen und geschützten Raum erfahren. Wir haben verschiedene Ansätze ausprobiert und überlegt, wofür wir die FLT*-VV nutzen wollen. Es mag wenig radikal klingen, aber momentan probieren wir uns darin aus, in diesem Raum verschiedene Themen der Gesamttreffen vorzudiskutieren und dabei – nicht zwangsläufig, aber oft – eine FLT*- bzw. queer*feministische Perspektive auf diese Themen zu entwickeln. Es ist klar, dass die Erfahrungen der dort anwesenden Personen diese Sichtweise prägen. Es sollte auch klar sein, dass die FLT*-VV nicht der einzige Ort bleiben kann, wo diese Perspektive entwickelt und diskutiert wird. Wenn im alltäglichen Betrieb diese Position aber tendenziell marginalisiert wird, ist es wichtig, dass sie dort erarbeitet und gestärkt wird.
Ganz konkret geht es außerdem um die Besetzung bestimmter Entscheidungsposten innerhalb unserer Strukturen. Linksradikale*r Leistungskader*in zu sein bedarf eine Ausstattung verschiedenster Kapitalien. Darüber verfügen FLT*s strukturell weniger als Nicht-FLT*s. Da wir eine plurale linksradikale Organisierung sein wollen, braucht es auch die materiellen Grundlagen dafür, Diversität in den Entscheidungsstrukturen abzubilden. Anfangs gab es parallel zur FLT*-VV kein Alternativprogramm. Diese Leerstelle stellt in der Konsequenz eine problematische Zuweisung der Verantwortung für Geschlechterverhältnisse an FLT*s dar. Auf einer als Pendant dazu stattfindenden Nicht-FLT*-Vollversammlung wird unter anderem eine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeiten und cis-männlichen Privilegien gesucht. Die Verantwortung für geschlechtsspezifische Hierarchien und Diskriminierung ist nämlich nicht das Problem der davon negativ Betroffenen, sondern aller, die sich in diesen Verhältnissen aufhalten und bewegen. Die Existenz dieser Schutzräume kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, das wissen wir. Denn auch in linksradikalen Zusammenschlüssen wie der IL werden Normen reproduziert und Leitbilder geschaffen, die dazu neigen, Ausschlüsse zu erlauben. Es muss jedoch möglich sein, den bestehenden Status zu überwinden und lösungsorientiert einen sensiblen Umgang miteinander zu finden. Dies sollte in unseren Augen nicht bloß als Gedankenmodell bestehen. Es braucht eine solidarische Atmosphäre, in der strittiges Verhalten nicht geduldet wird.
Bei einer Befragung in der IL über die eigene kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen und den Einbezug in Strukturen und Arbeitsweisen ist deutlich geworden, dass längst noch nicht alle IL-Gruppen eine kritische Haltung zu ihrer eigenen Praxis entworfen haben. Allein der Fakt, dass weniger als ein Drittel der in der IL organisierten Gruppen überhaupt auf diese Fragen geantwortet haben, bestätigt uns, dass dem Thema schlichtweg mangelnde Aufmerksamkeit und Priorität zugestanden wird. Nicht zuletzt, weil anstehende Kampagnen dann doch oft wichtiger erscheinen als die Reflexion unserer eigenen Arbeitsweisen. Welchen Unterschied bestimmte Strukturen und Methoden machen können, zeigen verschiedene Beispiele aus unseren Gruppen. Neben der Frage nach der Art und Zusammensetzung von Treffen wie der FLT*-VV muss es immer wieder darum gehen, allgemein die soziale Interaktion untereinander bewusst zu verändern.
Aufschlussreich sind die Normen und Leitbilder, die auch unsere Strukturen prägen. Zu nennen sind hier allgemeine Kapazitäten für die Politarbeit. Dazu zählen neben zeitlichen Ressourcen und einer bestimmten Fitness auch Durchsetzungsvermögen, das mit einem gestärkten Selbstbewusstsein einhergeht. Zudem gehören das Verständnis von politischen und soziologischen Theorien dazu, auf die sich die politische Praxis stützt. Die Dekonstruktion solcher Normen mag vorerst abstrakt klingen. In der Praxis kann sie beispielsweise so aussehen, dass quotierte Redner*innenlisten für Leute eingeführt werden, die sich allgemein eher weniger in Debatten einbringen. Die Beobachtung des allgemeinen Redeverhaltens und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen können erste Schritte sein, um nach wirksamen Mitteln und Wegen zu suchen, Räume zu öffnen, in denen eine vertrautere Atmosphäre herrscht als in großen Runden. Auch das Bewusstsein für einen kritischen und vor allem sensiblen Umgang mit dem eigenen Redeverhalten muss allen abverlangt werden und darf zudem nicht vor informellen Strukturen, wie dem Gespräch in der Rauchpause, haltmachen. Die Weitergabe von Wissen über formelle wie informelle Strukturen, Praxen und Begrifflichkeiten muss als Aufgabe jeder*s einzelnen begriffen und praktiziert werden, um Empowerment praktisch werden zu lassen. Mangelnde zeitliche Ressourcen sind immer wieder ein Problem und für viele ein Grund dafür, die politische Arbeit aus dem Kalender zu streichen. Vor dem Hintergrund der bereits genannten Ungleichenverteilung von Arbeiten und Ressourcen zwischen FLT*s und Nicht-FLT*s müssen Möglichkeiten der Beteiligung für mit weniger Ressourcen ausgestattete Menschen gefunden werden. Damit meinen wir geteilte Verantwortungen und Positionen, wie die Aufteilung von Reproduktionsarbeiten, Kommunikation, Kinderbetreuung während der treffen und von repräsentativen Aufgaben. Die Grundlage für die Entwicklung und das Weiterdenken solcher Methoden und Strukturen ist und bleibt ein queer*feministisches Bewusstsein. Denn es ist klar, dass es bei den bloßen Forderungen nicht bleiben kann. Die von uns postulierten Räume, Verhaltensweisen, Positionen und Strukturen müssen wir uns praktisch aneignen. Die aktive Mitgestaltung und Nutzung tragen dazu bei, Strukturen mit zu prägen und weiter zu entwickeln. Das ist unser queer*feministischer Appell an eine IL, die sich in ihrer Praxis plural, divers und solidarisch im antikapitalistischen Widerstand bewegt.
Zum Weiterlesen
Silvia Federici: Aufstand aus der Küche, editionassemblage, 2012
Prager Frühling Nr. 14: Selbstermächtigung organisieren! Radikale adikale queer-feministische Praxis und Theorie, 2012
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Erschienen in arranca! #48