Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen

Zur IL nach dem Zwischenstandspapier - Zugleich eine Antwort auf dsan1

DruckversionEinem Freund oder einer Freundin senden

Vier Freund_innen auf einer Terrasse in den Bergen. Alle kommen ursprünglich aus derselben Stadt. Nur eine ist wieder dort, die anderen hat es in andere Orte verschlagen. Alle sind (noch oder wieder) in der IL aktiv. Eine hat ein einjähriges Kind, zwei studieren, eine lohnarbeitet mehr als 40 Stunden pro Woche, eine war viele Jahre nicht organisiert und hat jetzt den Wiedereinstieg gewagt. Was haben wir an der Zwischenstands-IL?

Strukturen für einen langen Atem

Lässt man auf IL-Treffen den Blick schweifen, ist Tocotronics Jugendbewegungs-Hit nicht die Melodie, die in den Ohren klingelt. Nicht Jugendliche, sondern jugendlich gekleidete „Mid-Ager“, dazwischen Genoss_innen mit grauen Haaren oder gar grauen Bärten. Linksradikale Politik ist nicht bloß eine Phase auf manchem Weg zum Erwachsensein, könnte die Bildunterschrift lauten. Man kann – man muss! – das machen, bis die Scheiße aufhört,und das dauert dieser Tage wahrscheinlich das ganze Leben. Aber wie kriegen wir sie in den Griff, diese Lebensaufgabe? Kann es eine Balance geben mit dem was wir sonst noch begehren, unserem individuellen Möglichst-Gücklich-Sein und den Zwängen, denen wir uns – noch – mehr oder weniger fügen? Die Realität der linken Szene in der BRD schreit: Nein, es gibt keine Balance. Den meisten Leuten bleibt der Zugang zu ihr von vorne herein verschlossen und die anderen treten scharenweise zwischen 25 und 35 den mehr oder weniger geordneten Rückzug an. Manche bleiben, oft berufsmäßig, im linken Milieu, in Teilbereichsprojekten oder als kritische Journalist_innen, Gewerkschafter_innen, Lehrer_innen und ringen dort um Hegemonien. Einen gemeinsamen Ort ihrer Erfahrungen linksradikaler Praxis aber gibt es nicht mehr. Diese Erfahrungen verschwinden. Die ursprüngliche Verbindung dieser Leute, das antagonistische Projekt, existiert nicht mehr. Frisch Hinein- und längst Hinausgewachsene der Szene erfahren nichts voneinander, sie sind sich fremd, wenn sie sich doch einmal begegnen.

Dieser Zustand, den es Anfang der 1990er Jahre genauso zu beklagen gab wie heute, ist einer der Ausgangspunkte unseres „postautonomen“ Ansatzes. Dass es der IL ein wenig gelingt, mit dieser „Tradition“ zu brechen, ist nicht nur die offenkundige Notwendigkeit auf dem Weg zu einer besseren, ganz anderen Gesellschaft. Es ist auch angenehm. Es (be)stärkt, beruhigt, motiviert, es macht Organisation und Einzelne schlauer und stärker. Wir glauben, dass das nur mit genau der „Vereinsmeierei“ geht, der dsan1 die ausschließende Wirkung zuschreibt. Wollen wir Entscheidungen und Teilhabe nicht dem Zufall überlassen, sie zu Abstimmungen mit den Füßen degradieren, in denen sich diejenigen durchsetzen, die aufgrund ihrer zeitlichen und kulturellen Ressourcen omnipräsent sein können, dann müssen wir über schnöde Fragen der praktischen Organisierung reden. Mehr Demokratie (ihr wisst, wie wir das meinen ...) gibt’s nicht als einzigen erfreulichen Punkt zur Vereinsmeierei dazu, sondern nur durch sie. Sonst regieren die informellen Hierarchien, bei denen diejenigen bestimmen, die laut und gut vernetzt sind. „Den“ Autonomen haben wir das immer entgegen gehalten: Wenn wir wollen, dass unsere politische Arbeit nicht nur von wenigen Unersetzlichen abhängt, müssen wir über die Verteilung von Wissen, Fähigkeiten und Arbeit sprechen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir nicht nur ein paar Jahre, sondern unser ganzes Leben politisch arbeiten werden, dann wird die Gestalt dieser Arbeit sich wandeln. Dann gibt es Jahre, in denen Verpflichtungen oder andere Bedürfnisse mehr Raum einnehmen und andere, in denen der politische Aktivismus an erster Stelle stehen kann. Das geht aber nur, wenn der Faden der politischen Arbeit nicht abreißt, sobald man einen Schritt zurücktritt. Wenn nicht alle Erfahrungen, all das Wissen verpufft. Wenn die Zusammenhänge, die den Rahmen der politischen Arbeit bilden, nicht verschwinden. Wenn nicht die kulturelle Kluft so tief ist, dass der Weg zurück undenkbar wird. Wenn man nicht das Gefühl hat, der kleine Beitrag den man leisten kann, sei angesichts der anstehenden Aufgaben ein sinnloser Tropfen auf den heißen Stein. All das geht nur mit verbindlichen, dauerhaften und arbeitsteiligen Strukturen.

Organisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein Experiment

Aber, um Missverständnissen vorzubeugen: Ein Organisierungsprozess steht und fällt mit der Frage, ob es gelingt, ihn zu beschränken, ihn flexibel zu halten und ihn nur als Mittel zum eigentlichen Zweck zu begreifen. Konkreter: Zu glauben, wir könnten für alle möglichen Situationen auf dem Reißbrett formale Lösungen aushecken, ist der Anfang vom Ende. Zu meinen, es gäbe auf die Organisierungsfrage eine abschließende, ultimativ richtige Antwort, missachtet die Dynamiken in der Gesellschaft und tut so, als hätten wir die Weisheit mit Löffeln gefressen.

Wollen wir nicht nur über ferne Zukünfte reden, brauchen wir jetzt eine unfertige, wandelbare, fragmentarische, aber dennoch verbindliche Struktur, die uns handlungsfähig macht. Handlungsfähig zu sein heißt, Kapazitäten und Energie dafür zu haben, das zu machen, was uns verbindet: in der Gesellschaft für eine bessere, menschliche Form des Zusammenlebens zu kämpfen. So verstehen wir das Zwischenstandspapier. Es enthält einige wenige, aber wichtige Festlegungen, von denen wir hoffen, dass alle sie ernst nehmen werden. Alles andere würde dem kollektiven Prozess spotten, in dem dieses Papier entstanden ist und einer Kultur Vorschub leisten, in der es sich nicht lohnt, politische Dispute auszutragen, weil das Ergebnis ohnehin einerlei ist.
Auf welche Art und Weise, mit welchen individuellen Lebenslagen und Arbeitsschwerpunkten es möglich ist, Teil unserer politischen Strukturen zu sein, ist auch in unseren Augen ein wesentlicher Punkt. Die bisher verbreitete Dichotomie von Ortsgruppen und thematischen Arbeitsgruppen mit ein bis zwei wöchentlichen Treffen ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Im Zwischenstandspapier wird deshalb zu Recht nicht mehr von Ortsgruppen, sondern von Basiseinheiten gesprochen. Es ist der zaghafte Abschied von der Selbstbeschränkung auf die wenigen Formen politischer Organisierung, die wir kennen, und das dringend nötige Einfallstor für Experimente: wie können sich Leute in der IL organisieren, die auf dem Land wohnen, ohne Genoss_innen weit und breit? Kann es virtuelle Basiseinheiten geben? Welchen Raum haben berufliche Erfahrungen und die damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen in der IL? Brauchen wir Lehrer_innen-Basiseinheiten? Wie können Genoss_innen Teil der IL sein, deren politischer Aktivismus hauptsächlich außerhalb der IL stattfindet, in einer Stadtteilinitiative, einem Ärzt_innen-Kollektiv, einem sozialen Zentrum? Wie sieht es mit Künstler_innen oder Zeitungskollektiven aus, die kein Zentralorgan sein wollen? Lasst uns experimentieren!

Diversität und Konzentration

Die von dsan1 im Zusammenhang mit dem (Selbst-)Bild der_s linksradikalen Aktivist_in skizzierten Gefahren avantgardistischer Stellvertreter_innenpolitik und einer sozialen wie biografischen Homogenisierung linker Strukturen sind unbestritten real. Sie bestehen noch viel stärker in einer subkulturellen linken Szene. Und sie existieren in vielerlei Hinsicht weniger stark bei linkssozialdemokratischen (Volks-)parteiprojekten, deren Mitgliederstatistik gegenüber dem linksradikalen Szenedünkel mit großer Diversität glänzt. Anders formuliert: Die IL, egal ob Netzwerk oder Organisation, muss ihr Verhältnis zu sozialen Kämpfen in der Gesellschaft und die Positionierung der einzelnen darin unter die Lupe nehmen (vgl. Was ist interventionistische Basisarbeit). Sie muss sich fragen, welchen Aktivist_innentypus sie zum Ideal erhebt und was das für ihre Diversität bedeutet. Das gilt aber für alle anderen uns bekannten linksradikalen Zusammenhänge auch. Gegenüber deren Mehrzahl hat die IL den Vorteil, dass sie transparente Strukturen schafft, in denen derartige Debatten überhaupt geführt werden und vor allem auch Folgen haben können. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit, unterschiedliche Lebensrealitäten anzuerkennen, wollen wir uns dennoch nicht von der Idee verabschieden, dass die politische Arbeit zumindest für einen gewissen Zeitraum biografisch im Mittelpunkt steht. Ohne dies wird es nicht gehen. Kein Kampf wird gewonnen werden, wenn wir alle mal hier und mal da eine halbe Stunde aufzubringen bereit sind. Wir brauchen die Leidenschaft und eine gewisse Portion Aufopferung und Größenwahn. Nicht von allen gleichzeitig und immer, gerade das ist ein Mehrwert einer Organisation.Defätistisch festzustellen, dass die gesellschaftlichen Freiräume, die hierzulande eine materielle Basis für den Aktivismus eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus darstellten, in den letzten Jahrzehnten drastisch geschrumpft wurden (Bologna, Hartz etc.) und wir deswegen unsere Ansprüche an linksradikale Arbeit entsprechend zurecht stutzen müssen, ist nicht die Lösung. Immerhin ist die radikale linke der BRD in den letzten Jahren keineswegs kleiner geworden. Wenn auch langsam, sie wächst. Wir sollten angesichts dieser widersprüchlichen Lage unsere Strukturen nicht versehentlich auf der unreflektierten Annahme aufbauen, dass früher oder später jede_n von uns Vollzeitarbeit und Kleinfamilie, einem Naturereignis gleich, ereilten. Es ist das eine, den Zwangscharakter kapitalistischer Ausbeutung anzuerkennen und zur Kenntnis zu nehmen, dass auch in linksradikalen Zusammenhängen viele sich irgendwann in recht konventionellen Lebensformen wiederfinden. Natürlich gilt zu verhindern, dass ein (stummer) Zwang zum biografischen Nonkonformismus Genoss_innen der radikalen Linken entfremdet und so befördert, dass der Linksradikalismus eine kurze biografische Episode bleibt. Auch gesellschaftsanalytisch wäre es absurd, unser eigenes Verwobensein in Strukturen und Ideologien dieser Gesellschaft zu unterschätzen, indem man von den eigenen Genoss_innen erwartet, dass sie das richtige Leben im falschen führen. Die Widersprüchlichkeit von Kritik und Lebensform, von revolutionären Zielen und konkreten Bedürfnissen anzuerkennen darf aber nicht zur Verkehrung führen: linksradikale Organisierung muss auch Räume eröffnen, es im falschen richtiger zu machen. Solidarische Lebensformen jenseits von Kleinfamilie, Vollzeitlohn und unsichtbar gemachter Care-Arbeit zu finden und zu erpr ben. Sie muss so oft es geht Vorgeschmack sein auf das, was jenseits kapitalistischer Verwertung möglich ist.

Kurzum: Der IL entgegen zu halten, der mit einer Organisation verbundene Aufwand übersteige die Möglichkeiten, die Aktivist_innen heutzutage angesichts von Verwertungsdruck und Familiengründung hätten, verengt den Blick auf diejenigen, die – im Moment – wenig Zeit und Kraft für politische Arbeit haben. Gerade denen wird aber nur eine verbindliche Struktur ermöglichen, sich jetzt wenig und vielleicht eines Tages wieder stärker in ein Projekt einzubringen, dessen Ziel nicht nur ist, in einem Teilbereichskampf Boden gut zu machen, sondern die Gesamtscheiße in Frage zu stellen.
Der auch in der IL vorherrschenden Einfallslosigkeit beim Erfinden neuer Formen des politischen Aktivismus wohlklingende linksradikale Allgemeinplätze entgegenzuhalten, hilft nicht. Die vollständige Revolutionierung unseres Alltags verspricht uns schon jede neue Smartphonegeneration, ohne es je einzuhalten. Das Zwischenstandspapier jedenfalls hindert mit seinen wenigen Festlegungen niemanden daran, vereinsmeierische Langweiler_innen wie uns mit einer Praxis herauszufordern, die weder vereinsmeierisch ist, noch das linksradikale Szeneunwesen repetiert, das zu überwinden einer unserer Minimalkonsense ist. Oder war?

Trackback URL für diesen Artikel

https://arranca.org/trackback/727

Erschienen in arranca! #48