Die Fehler der Linken und ihre Überwindung

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Die auf Cuba lebende Chilenin Marta Harnecker ist eigentlich nicht das, was man normalerweise als undogmatische Linke bezeichnen würde. Harnecker hat sich selber immer als Marxistin-Leninistin begriffen, die cubanische Revolution bedingungslos verteidigt und sich von den realsozialistischen Staaten nie prinzipiell losgesagt. Ihre Bedeutung für die revolutionäre, nicht an der UdSSR orientierte Linke Lateinamerikas war dennoch immer immens groß. Harnecker hat mit fast allen wichtigen revolutionären Bewegungen in den letzten 15 Jahren Projekte realisiert. Von ihr stammen mehrere Interviewbroschüren mit den unterschiedlichen Organisationen der FMLN, ein Buch über die uruguayische Frente Amplio, in der fast alle Führer der Koalition zu Wort kommen, zwei Bücher über die legale (UP und A Luchar) und die illegale Linke (UCELN) Kolumbiens, sie sprach mit der guatemaltekischen URNG und den SandinistInnen. Harneckers Interviewtexte sind dabei an strategischen, meist revolutionstheoretischen Fragestellungen orientiert. Viele ihrer Veröffentlichungen finden als Schulungstexte Verwendung. Es gibt wohl wenige TheoretikerInnen, die so eng mit der praktischen Arbeit der revolutionären Linken verbunden sind wie sie.

Noch ein weiterer Punkt an ihren Schriften ist bemerkenswert. Harnecker reflektiert durchaus auch, was in Cuba diskutiert wird. Aus diesem Grund finden wir es interessant, wenn im folgenden Text von der „Orthodoxen“ Marta Harnecker die Autonomie sozialer Bewegungen und eine Demokratisierung linker Organisationen eingeklagt werden.

An anderen Stellen sind wir nicht ganz ihrer Meinung; Begriffe wie Abweichung lehnen wir ab, auch müßte die Kritik am Realsozialismus grundsätzlicher ausfallen als bei ihr. Als Reflexion und Resümee revolutionärer Praxis in Lateinamerika schildert der folgende (bereits 1992 veröffentlichte) Text jedoch sehr gut, was Diskussionsstand im Großteil der dortigen Linken ist.

die red. 

I. Der historische Kontext der letzten 30 Jahre

Vor der Analyse der Fehler in den 60er und 70er Jahren werden wir, kurz kommentiert, die wichtigsten historischen Ereignisse nennen, die die lateinamerikanische Linke in den letzten 30 Jahren beeinflußten.

I. 1. 1960-1985

a) Triumph der cubanischen Revolution

Die cubanische Revolution beweist die Möglichkeit einer Revolution auf unserem Kontinent und ermutigt dadurch die sozialen Kämpfe. Der bewaffnete Kampf wird zum wichtigsten Weg für große Sektoren der Linken, in vielen Ländern kommt es zu fokistischen (1) Abweichungen. In Uruguay und Argentinien erleben die Stadtguerillas ihren Höhepunkt.

b) Der sowjetisch-chinesische Bruch und die Teilung im sozialistischen Lager

Es werden neue linke Positionen entwickelt. Die kommunistischen Parteien spalten sich, die bewaffneten Organisationen polarisieren sich in zwei Lager. Eines verteidigt die fokistischen Konzepte, ein anderes die These vom verlängerten Volkskrieg. Letztere bemühen sich stärker um Massenarbeit und begreifen die Guerilla als einen Krieg des ganzen Volkes.

c) Die Befreiungstheologie und die Basisgemeinden

Ein Sektor der ChristInnen beginnt eindeutig linke Positionen einzunehmen. Andere, mehrheitlich Abspaltungen von der Christdemokratie, organisieren sich in politischen Parteien. Im Fall Brasiliens und später auch in anderen Ländern, in denen Militärdiktaturen an die Macht kommen, werden Kirchen und Basisgemeinden zu den wichtigsten Sammlungspunkten der revolutionären Linken.

d) Die Unidad Popular in Chile (1970-73; Anm. d. R.)

Die Debatte zwischen den BefürworterInnen des bewaffneten Kampfes und denen des friedlichen Wegs verschärft sich. Das Scheitern der Unidad bestärkt die Überzeugung, daß nur bewaffnete Lösungen möglich sind. Erst Jahre später diskutiert man den Widerspruch zwischen orthodoxen Parteien und einem heterodoxen Projekt wie der Unidad Popular sowie die Möglichkeit, den Sozialismus aus der Demokratie heraus aufzubauen.

e) Die Militärdiktaturen im Süden des Kontinents

Die politischen Führer der Massenbewegung werden regelrecht physisch vernichtet. Einige Gruppen, die den bewaffneten Kampf befürworten, um die Tyrannei zu stürzen, radikalisieren sich. Zahlreiche Kader müssen emigrieren, vor allem in die skandinavischen und sozialistischen Länder. Es gibt systematische Kampagnen zur Zerstörung einer revolutionären Ideologie und zur Förderung individueller Werte. Dennoch entwickelt sich eine tiefe Sehnsucht in der Bevölkerung nach Wiedererlangung der Demokratie. Jede Form von Diktatur und Autoritarismus wird abgelehnt.

f) Die sandinistische Revolution

Der Triumph der sandinistischen Revolution ruft große Sympathien hervor, weil man verschiedene Elemente miteinander kombiniert sieht: Revolution und Demokratie im Sinne eines ideologischen Pluralismus, Wahlen und gemischte Wirtschaft. Die nicaraguanische Revolution wird außerdem als näher an der Wirklichkeit unserer Länder wahrgenommen, die nicht mehr wie im Fall Cubas auf die Hilfe des sozialistischen Lagers zählen können.

I. 2. DIE ZWEITE HÄLFTE DER 80ER JAHRE

a) Ersatz der Militärdiktaturen durch Systeme der autoritären Demokratie

Der Wiederaufbau der Linken und des sozialen Geflechts ist dabei unterschiedlich schnell. Das Thema „Demokratie“ wird in der ganzen ideologischen Debatte zentral.

b) Die ersten Jahre der Perestroika

Verwirrung in der Linken: die Unfähigkeit, den Bruch der alten Schemen und Dogmen produktiv umzusetzen, ist vorhanden. Die Krise der kommunistischen Parteien, vor allem in den moskauorientierten, verschärft sich. Ihre Führer machen eine radikale Umkehr von Stalinisten zu „Perestroikos“, was von vielen als opportunistisch verurteilt wird. Dagegen wird die Veränderung in der UdSSR von jenen, die das Verhältnis Sozialismus – Demokratie bereits neu diskutiert hatten, sehr positiv eingeschätzt. Es gibt großen Druck auf revolutionäre Bewegungen, Verhandlungslösungen zu finden (2).

b) Sandinistische Wahlniederlage

Ein unerwarteter und schwerer Schlag: Die nicaraguanische Revolution war wie bereits erwähnt zum neuen Paradigma der lateinamerikanischen Linken geworden. Es wurde gezeigt, was die imperiale Politik machen kann, um eine linke Regierung zu stürzen. Zu nennen sind vor allem der Wirtschaftsboykott, die Unterstützung einer Contra, ein internationaler Propagandafeldzug, sowie die Ausnutzung der von der sandinistischen Führung begangenen Fehler. In einigen Analysen wird sogar von der Unmöglichkeit der antiimperialistischen Revolution in Lateinamerika im neuen weltweiten Kräfteverhältnis gesprochen. Die Konsequenz der SandinistInnen, die Verfassung zu respektieren und ihre Wahlniederlage zu akzeptieren, wird positiv bewertet; dies stärke die Glaubwürdigkeit der Linken, heißt es.

c) Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa

Eine der negativsten Folgen ist der Verlust jener Rückendeckung, die die sozialistischen Länder durch ihre Solidarität und das andere Kräfteverhältnis auf der Welt für die revolutionäre Bewegung darstellten. Dazu kommt, daß jene Theoretiker gestärkt werden, die von „einer neuen Mentalität“ reden. Sie behaupten, daß die Widersprüche mit dem Imperialismus verschwunden sind, daß in der neuen Welt die bewaffneten Kämpfe für die nationale Befreiung keinen Sinn mehr haben, und üben Druck aus, damit um jeden Preis verhandelt wird. Alles in allem gehen sie davon aus, daß Reformen und nicht die Revolution auf der Tagesordnung stehen. Man muß fragen, was diese Theoretiker heute nach dem Golfkrieg sagen, der ja die naiven Vorstellungen der Sowjetunion auf dem internationalen Parkett gründlich widerlegt hat.

Auf der anderen Seit verschwindet der grundlegende Orientierungspunkt der Linken, den der Sozialismus in der UdSSR und in Osteuropa darstellte. Es gibt heute keinen praktischen Bezugspunkt mehr. Der direkteste wäre Cuba, das immer noch ein Paradigma für die unterdrückten Völker des Kontinents darstellt, aber keine enthusiastischen Unterstützung unter den Intellektuellen und in den Mittelschichten Lateinamerikas mehr hervorruft. Diese interessieren sich mehr für die repräsentative politische als für die soziale Demokratie.

Als positiven Aspekt können wir begreifen, daß der Zusammenbruch des auf etatistischen Modellen aufbauenden Sozialismus hilft, ein sehr viel glaubwürdigeres Projekt aufzubauen. Ob man will oder nicht, war die Linke, und besonders die marxistische-leninistische Linke, einem zentralistischen, bürokratischen und antidemokratischen Sozialismus verbunden, der den Parteienpluralismus ablehnte und keine Meinungsvielfalt duldete. Auch wenn nur die wenigsten diese Aspekte ausdrücklich verteidigten, machte ihr Schweigen sie dennoch zu Komplizen.

Nur diejenigen revolutionären Bewegungen, denen es gelang, sich aus diesen Schemen zu befreien, oder gar nicht erst auf sie zurückgriffen, waren in Lateinamerika erfolgreich. Dies war der Fall der Bewegung 26. Juli, die vor allem auf das Denken Martis (3) zurückgriff, und der FSLN, die von Sandino beeinflußt wurde. Später jedoch, bei der schwierigen Aufgabe, die Grundlagen einer neuen Gesellschaft aufzubauen, verfielen auch sie dem Irrtum, das verbreiteste Modell des existierenden Sozialismus zu kopieren. Es war notwendig, Kader für das neue Projekt auszubilden. Aber wo? Die sozialistischen Kaderschulen waren, wie ich glaube, einer der katastrophalsten Einflüsse, die es überhaupt gab.

Heute weiß die lateinamerikanische Linke, daß sie die realsozialistischen Erfahrungen nicht studieren muß, um sie zu kopieren, sondern um aus ihren Fehlern zu lernen.

Zusammengefaßt trug die Identifikation von Sozialismus und Demokratie, wie sie mit den Veränderungen in der UdSSR möglich wurde, dazu bei, daß die Linke sich die Fahne der Demokratie wiederaneignen konnte. Aus verschiedenen Gründen war die Forderung nach Demokratie von der Rechten vereinnahmt worden. Sie verstand es, die antidemokratischen Aspekte der politischen Regime in den sozialistischen Staaten propagandistisch zu benutzen.

Unter Berücksichtigung dieser Einflüsse, die sich in den letzten 3 Jahrzehnten auf die Linke auswirkten, werden wir jetzt die wichtigsten Veränderungen, die wir allgemein in den Organisationen der marxistisch-leninistischen Tradition wahrgenommen haben, aufzeigen. Am Schluß werden wir dann spezifischer auf die bewaffnete Linke eingehen.

II. Veränderungen in der Linken im Allgemeinen

II. 1. VOM MARXISMUS ALS KOSMOVISION ZUM MARXISMUS ALS INSTRUMENT DER ANALYSE

Eines der Dinge, das sich am stärksten gewandelt hat, ist sicherlich das Verständnis vom Marxismus. Von einer dogmatischen Lesart, in der der Marxismus als Kosmovision oder Philosophie begriffen wurde, die alles umfaßte und auf alle Fragen Antworten zu bieten hatte, ist man dazu übergegangen, ihn als ein nützliches Instrument der Gesellschaft zu betrachten. Das bedeutet:

  • erstens, daß die Kenntnis der marxistischen Theorie, die konkrete Kenntnis des Landes, in dem man lebt, nicht ersetzen kann;
  •  zweitens, daß der Marxismus als wissenschaftliches Instrument als Folge des jahrzehntelangen Stillstandes, der ihm durch den Stalinismus und die darauffolgenden Regime bis zum Beginn der Perestroika verordnet wurde, absolut zurückgeblieben ist.
  • drittens, daß auch wenn der Marxismus einen ideologischen Orientierungspunkt für den größten Teil der lateinamerikanischen Linken darstellt, dies nicht mehr für den Leninismus stimmt. Viele sozialistische Parteien – zum Teil solche, die sich auch so nennen, zum Teil welche, die sich als Abspaltung der mit der III. Internationale (4) verbundenen marxistischen Parteien gründeten, stärker in der eigenen nationalen Wirklichkeit verankert waren und von Anfang dem Stalinismus und der internationalen sowjetischen Politik (die Intervention in der Tschechoslowakei und Afghanistan, um nur die neuesten und gewichtigsten zu nennen) kritisch gegenüberstanden –, neigen heute dazu, sich als „nicht-leninistisch“ zu bezeichnen. Dies ist meiner Ansicht nach vor allem der Tatsache geschuldet, daß der Leninismus auf unserem Kontinent in seiner stalinistischen Variante verbreitet wurde. Ich behaupte, daß das Konzept der marxistisch-leninistischen Partei, das von einem Teil der Linken verteidigt und umgesetzt wurde, der stalinistischen Verdrehung leninschen Denkens und nicht dem ursprünglichen Konzept geschuldet ist.

Zudem sollte man auch nicht übersehen, daß sich in nicht wenigen Fällen eine große Portion Opportunismus hinter der Distanzierung vom Leninismus versteckt. Ich schäme mich nicht zuzugeben, daß das Denken Lenins mich sehr stimuliert hat, obwohl ich seine theoretische und politische Produktion niemals als Leninismus zu bezeichnen würde. Dieser Begriff stammt aus der stalinistischen Periode. Außerdem steht fest, daß auch wenn Lenin wichtige Beiträge für die Nach-Marxsche Theorieentwicklung leistete und einer der außerordentlichsten politischen Führer seiner Zeit war, er dennoch große Fehler beging. So betonte er z.B. bestimmt durch den ideologischen Kampf gegen die sozialdemokratischen Abweichungen und die schwere innere Situation seines Landes, die Notwendigkeit, die Konterrevolution niederzuschlagen sehr viel mehr als den Aspekt der politischen Demokratie einer neuen Gesellschaft (…).

Ich glaube, daß es sehr interessant wäre, z.B. das Verhältnis Sozialismus – Staat im Denken Lenins genau zu untersuchen. Es ist offensichtlich, daß in seinem Klassiker Staat und Revolution Sozialismus und Staatseigentum gleichgesetzt werden. Sobald das Proletariat die Kontrolle über den Staat ausübe, würden soziales und Staatseigentum zusammenfallen. Die sozialistische Gesellschaft wird im Denken Lenins zu einem großen Staatsunternehmen und die Bürger zu Angestellten dieser Firma. Später als Folge der praktischen Erfahrungen und der neuen unvorhergesehenen Realitäten verändert sich sein Staatsmodell zunehmend: er fing an zwischen Sozialisierung und Verstaatlichung zu unterscheiden, und gab mit der NEP (5) der Kooperativenwirtschaft größere Bedeutung. Außerdem stellte er fest, daß das existierende Staatsmodell sehr wenig mit den Vorstellungen vor der Revolution zu tun hatte. Die bürokratischen Verkrustungen waren so groß, daß er zu der Einsicht kam, das Modell des zaristischen Staates habe sich kaum verändert. Es sei deswegen richtig, wenn ArbeiterInnen gegen die Bürokratie kämpfen und streiken würden. Dennoch hielt Lenin den Staat weiterhin für einen proletarischen.

Meine Hypothese hierzu lautet: Die Veränderungen im Staatskonzept sind mit der strategischen Wende, die 1921 einsetzte, eng verknüpft. Die Erkenntnis, daß man nicht schnell zum Sozialismus gelangen werde, führte dazu, daß man die Notwendigkeit wirtschaftlicher Entwicklung in Mittelpunkt rückte, wobei der Staat eine stärkere, aber weniger allumfassende Rolle einnehmen müsse. Außerdem müßten die Gewerkschaften größere Selbständigkeit erlangen

II. 2. VON DER PARTEI ALS ZIEL ZUR PARTEI ALS INSTRUMENT

Obwohl Lenin die Partei immer als Instrument begriff, um politische Führung ausüben zu können und deswegen voraussetzte, daß sich die organische Struktur der Partei jedem Land und dessen Bedingungen anpassen müsste, verwandelten sich die kommunistischen Parteien und andere Organisationen dieses organische bolschewistische Modell mit seinen stalinistischen Verformungen in ein Dogma. Das Instrument wurde zum Ziel.

Vorstellungen wie die der Partei-Front (6) wurden abgelehnt. Parteien, die solch einen Charakter besaßen, wurden dazu gezwungen, sich dem Schema der klassischen Partei anzupassen (7). Flexibilität und Kreativität wurden aufgegeben.

Dadurch wandten viele Parteien Organisationsformen an, die mit der Entwicklung der revolutionären Bewegung im Land nichts zu tun hatten. Z.B. gründeten noch die kleinsten Parteien Kommissionen für Propaganda, politische Erziehungsarbeit, internationale Beziehungen, Finanzen usw., so als ob sie bereits große Organisationen wären.

Eine weitere Konsequenz dieses Dogmas war die Vorstellung, daß eine revolutionäre Führung sich nur in der organischen Einheit herstellen ließe, daß also erst eine einzige revolutionäre Partei (8) gegründet werden müsse.

II. 3. VON DER AUSNUTZUNG DER SOZIALEN BEWEGUNGEN ALS TRANSMISSIONSRIEMEN (9) ZUM RESPEKT IHRER EIGENSTÄNDIGKEIT

Die Rolle der sozialen Organisationen im Sozialismus war eindeutig; vor allem bei den Gewerkschaften, die die vielleicht einzige mächtige Organisation in Rußland darstellen. Ihnen kam im politischen Konzept einzig und allein die Rolle der „Transmissionsriemen“ zu. Dies setzte eine völlige Gleichsetzung von Arbeiterklasse, Arbeiterpartei und Staat voraus. Also genau das, was von Lenin allmählich abgelehnt wurde, als er zu akzeptieren begann, daß Streiks und Kämpfe gegen den bürokratischen Charakter des proletarischen Staates legitim seien. Dieser Wandel im Leninschen Denken ging an den marxistisch-leninistischen Parteien völlig vorüber. Die kommunistischen Parteien und die Linke im Allgemeinen behandelten die Gewerkschaften und später die sozialen Bewegungen als Instrumente. Die Führung der Bewegung, die Posten, die Kampfplattform usw. wurden in den Parteizentralen ausgehandelt und dann als Weisung nach unten durchgegeben.

Die Krise der linken Parteien und das Entstehen vieler sozialer Bewegungen hat dazu beigetragen, daß sich dies inzwischen verändert hat. Die sozialen Bewegungen reiften, sie bemerkten, daß ihre Ziele leichter durch eigene Initiativen verwirklicht werden konnten als mit solchen, die von politischen Führern am Schreibtisch entworfen worden waren.

Die politischen Führer mußten außerdem feststellen, daß der vertikale Führungsstil immer weniger funktionierte. Es setzte sich die Einsicht durch, daß der Rhythmus sozialer Bewegungen nicht völlig einem politischen Projekt untergeordnet werden kann, weil es eigene Bewegungsdynamiken gibt und diese respektiert werden müssen. Eine von oben vorgegebene Linie ist von den Wünschen der Bewegung weiter entfernt als die aus der Basis heraus entwickelte.  Deswegen kann eine Führung nie so mobilisieren wie die Initiative von unten. Die Wiederbelebung der sozialen Bewegungen und das Verständnis, daß die Führung in einer Bewegung gewonnen werden muß und nicht aufgezwungen oder eingefordert werden kann, haben zu neuen Konzepten von politischer Front geführt. Mit diesen Konzepten sind nicht mehr nur Parteienbündnisse gemeint, sondern es ist auch Platz für die sozialen Bewegungen geschaffen worden.

II. 4. VON DER DIKTATUR DES PROLETARIATS ZUR AUFWERTUNG DER DEMOKRATIE

Während langer Jahre waren die marxistisch-leninistischen Organisationen von der Sichtweise Lenins geprägt, daß angesichts einer Konterrevolution, die keinerlei Spielregeln respektierte und auf internationale Unterstützung zählen konnte, die für die Revolution charakteristische weitreichende proletarische Demokratie eingeschränkt werden muß. Bis vor wenigen Jahren bezeichneten sich die Führer dieser Linken selbst als Revolutionäre, während sie andere fortschrittliche linke Kräfte als Demokraten bezeichneten. Das war ideologisch und politisch Unsinn, denn die Perestroika machte offensichtlich, daß die Revolution eine demokratische sein muß und umgekehrt die radikale Demokratie nur durch die Revolution umsetzbar ist.

Besonders die sogenannte „neue Linke“ begriff nicht, daß die Demokratie eine Forderung der Bevölkerungsmehrheit war, und daß deswegen, solange sie diese Forderung nicht aufnahm, die Bevölkerung auch nicht für ein sozialistisches Projekt gewonnen werden konnte. Umgekehrt verfielen viele kommunistische Parteien, die in ihrem Parteiprogramm ebenfalls die Diktatur des Proletariats anstrebten, in der politischen Praxis jedoch vor allem demokratische Positionen unterstützten, dem Reformismus. Ihnen gelang es nicht, eine Brücke von demokratischen Forderungen zum Kampf für den Sozialismus zu schlagen.

Die Linke bemüht sich heute, die Forderung nach Demokratie wieder auf die eigenen Fahnen zu schreiben. Ich glaube, daß das Konzept der Demokratie drei fundamentale Aspekte umfaßt: a) Repräsentation, Bürgerrechte und politische Demokratie, b) soziale Gleichheit und c) direkte Beteiligung und Protagonismus der Bevölkerung.

  • Im ersten Fall redet man von der repräsentativen oder formalen Demokratie. Das bezieht sich darauf, daß die Bevölkerung das Recht hat, eine Regierung zu wählen, und über bürgerliche Rechte verfügt. Diese Demokratie, die sich selbst dadurch charakterisiert, daß es zu einer von der Bevölkerung legitimierten Regierung kommt, vertritt häufig nur die Minderheiten. Es gibt BürgerInnen erster und zweiter Klasse, weswegen diese Demokratie häufig als formal bezeichnet wird.
  • Der zweite Aspekt, der der sozialen Demokratie, läßt sich unter dem Stichwort „Regierung für das Volk“ zusammenfassen. D.h., es werden Antworten auf die schwerwiegendsten Probleme der Bevölkerung gesucht. Brot, Land, Arbeit, Erziehung, Wohnung, also alles, was eine gleichere Gesellschaft ermöglicht. In der Praxis kann diese Demokratie in einer Form funktionieren, die nicht dem traditionellen, westlichen Modell der repräsentativen Demokratie entspricht.
  • Der dritte Aspekt kann als partizipative Demokratie oder eine Regierung, die von der Bevölkerung ausgeübt wird, bezeichnet werden.

Ich glaube, daß das Gesellschaftsprojekt der Linken, d.h. der Sozialismus, diese drei Arten von Demokratie miteinander kombinieren muß. Es muß eine Regierung aus der Bevölkerung, für die Bevölkerung sowie die direkte Regierung durch die Bevölkerung selbst geben.

Eine Gesellschaft kann nicht völlig auf ein System der Vertretung verzichten. Ohne bestimmte Regierungsaufgaben auf Repräsentanten zu delegieren, kann kein gesellschaftliches System funktionieren. Die direkte Demokratie funktioniert lokal, aber bis auf wenige Ausnahmen (Plebiszit, Referendum) nicht auf nationaler Ebene.

Die Linke muß in diesem Zusammenhang garantieren, daß Minderheiten durch den Staat repräsentiert und geschützt werden. Aus diesem Grund halte ich die Reflexionen über die technischen Aspekte von Repräsentativität, wie sie in der lateinamerikanischen Soziologie im letzten Jahrzehnt entwickelt wurden, für sehr wertvoll. Das Problem liegt nicht in den Überlegungen an sich, sondern im Mangel einer sozialen Charakterisierung dieser Modelle.

Um nur auf die institutionellen technischen Aspekte von Repräsentativität einzugehen, erscheint mir wichtig, daß die neue Gesellschaft sich klar von der Demagogie der bürgerlichen Wahlkampagnen verabschiedet. Es müssen Mechanismen gefunden, um ein Mandat abzuberufen, wenn Repräsentanten ihre Wähler nicht mehr vertreten. Außerdem besteht die Notwendigkeit, die Mandate zeitlich zu begrenzen, damit nicht wieder das passiert, was in den sozialistischen Ländern der Fall war. Dort entstand das Phänomen einer Gerontokratie (10), was mit den Klassikern des Marxismus absolut unvereinbar ist. Diese hatten die bürokratischen Aufgaben als rotierende Tätigkeiten betrachtet. Heute dagegen erscheint es als Trauma, einen führenden Kader auszutauschen. Eine Ablösung aus den bürokratischen Funktionen wird als Bestrafung für den Kader angesehen.

Der Sozialismus muß außerdem die Bedingungen für die maximale Entwicklung der Individuen gewährleisten. Schaffensfähigkeit und –initiative müssen gestärkt werden. Eine Regierung für das Volk muß tiefe soziale Veränderungen einleiten, die die soziale Gleichheit ständig größer werden lassen.

Das wichtigste Element des Sozialismus ist dabei die partizipative Demokratie, in der die Bevölkerung zum wirklichen Akteur im Aufbau der neuen Gesellschaft wird, in der alle Formen von Selbstorganisierung (ohne staatliche Instrumentalisierungsversuche) gefördert und respektiert werden.

Der Sozialismus kann also nicht von der Demokratie getrennt werden. Diese Forderung ist revolutionär und nicht bürgerlich.

Was nun die Auseinandersetzung um den (für das marxistische Staatskonzept zentralen) Begriff der Diktatur des Proletariats betrifft, gilt es genau zu sein. Ich glaube, dass der Begriff der „Diktatur“ aufgegeben werden muss, weil die Wörter schließlich dazu da sind, um sich zu unterhalten. Wozu verwendet man einen Begriff, wenn niemand ihn versteht, oder alle etwas anderes darunter begreifen, als eigentlich gemeint war? Wenn man von der Flüssigkeit zum Trinken redet, sagt man ja schließlich auch „Wasser“ und nicht „H₂O“. Genauso wenig Sinn macht es, von der „Diktatur des Proletariats“ zu reden, wenn die Bevölkerung wie in Lateinamerika ausgiebige Erfahrungen mit Militärdiktaturen gemacht hat.

Nun ist der politische Diskurs eine Sache und der theoretische eine andere. Von theoretischem Standpunkt aus kann ein demokratisches politisches System nur dann die Interessen der Mehrheit vertreten, wenn gleichzeitig die Interessenverwirklichung jener wohlhabenden gesellschaftlichen Gruppen, die sich dem Interesse der Mehrheit verweigern, beschränkt wird. Die konkreten Gesellschaften sind nicht utopische, wo die Interessen aller zusammenfallen. Es gibt widersprüchliche Interessen und damit die Bevölkerungsmehrheit zu ihrem sozialen Recht kommt, muss die reiche Minderheit den Interessen der Mehrheit unterworfen werden. Das passiert nur durch Druck.

Die Diktatur des Proletariats ist also ein vielfach missverstandener Begriff, sie ist nämlich nichts anderes als ein Teil der umfassenden Volksdemokratie, in der die Mehrheit anders als in der bürgerlichen, formalen Demokratie wirklich zu ihrem Recht kommt.

Marx und besonders Lenin in Staat und Revolution entwickelten ihr Konzept von Diktatur, um den Staat zu erklären. Nach ihnen sind sogar die repräsentativsten bürgerlichen Demokratien in Wirklichkeit bürgerliche Diktaturen, weil die Interessen der bürgerlichen Klasse dem System aufgezwungen werden. Nur käme kein bürgerlicher Politiker auf den Gedanken diese Gesellschaft als „Diktatur der Bourgeoisie“ zu bezeichnen. Er wird versuchen, das System als Ausdruck der Bürgerinteressen und als hochdemokratisch darzustellen. Diktatur des Proletariats bezeichnete als theoretischer Begriff also nie die Verletzung von Gesetzen oder die Abwesenheit von einem Rechtsstaat, sondern die Ausübung dieses Rechtsstaates gegen die Minderheit, die sich den demokratisch entschiedenen Veränderungen widersetzt.

Aus diesem Grund ist die marxistische Unterscheidung zwischen Staatstyp und Regierungsform wichtig. Der Staatstyp beschreibt die Frage: welchen Klasseninteressen dient der Staat? Die Regierungsform hingegen umfasst die Weise, wie diese Interessen materialisiert werden: durch ein diktatorisches Regime oder durch eine Variante von Demokratie? Mir erscheint es wichtig zu verstehen, dass die Klassiker mit dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ einen Staatstyp und keine Regierungsform meinten. Wahrscheinlich wäre es ohne das marxistische Staatskonzept grundsätzlich aufzugeben, am sinnvollsten, von Staaten mit bürgerlicher bzw. proletarischer Hegemonie zu sprechen. Dies würde Missverständnisse vermeiden helfen und zudem das soziale Subjekt, wie es in Lateinamerika besteht, besser beschreiben, denn schließlich besteht das gesellschaftliche Subjekt dort aus sehr viel mehr sozialen Sektoren als nur der Arbeiterklasse.

II. 5. VON DER KOPIE VON MODELLEN ZUR SUCHE NACH EIGENEN WEGEN

In den meisten Fällen wurden die strategischen Konzepte der lateinamerikanischen Linken nicht selber auf der Grundlage der Besonderheiten des eigenen Landes erarbeitet, sondern nur aus den Versatzstücken anderer revolutionärer Erfahrungen zusammengesetzt.

Der Theorizismus und der Dogmatismus sowohl in der traditionellen als auch in der sogenannten „neuen Linken“ vertreten, auch wenn die Fälle unterschiedlich gelagert sind, denn die neue Linke fußte zumindest auf einer zutiefst lateinamerikanischen Erfahrung wie der cubanischen Revolution und bemühte sich auch wie die Tupamaros (11) in Uruguay, oder die Montoneros (12) und das ERP (13) in Argentinien, um eigene Wege.

Die Diskussionen waren damals steril. Nur selten war es möglich, eine dialektische Synthese zu erarbeiten, mit der es möglich gewesen wäre, Widersprüche zu überwinden. Im Gegenteil führten die meisten Debatten zu einer noch tieferen Spaltung in der Linken.

Dies führte zu zwei Fehlern, die sich gegenseitig beeinflussten: Einmal versuchte man die Einheit dadurch aufzubauen, dass theoretische Diskussionen vermieden wurden; und zweitens setzte sich eine grundsätzliche Ablehnung theoretischer Reflexion durch. Das Fehlen von Theorie und theoretischer Diskussion, von einer kritischen Auseinandersetzung mit gescheiterten Konzepten hat das revolutionäre Denken unseres Kontinents weit zurückgeworfen.

Einer der Hauptgründe dafür, dass trotz Überwindung von Hegemonismus (14) und Sektarismus nach wie vor große Schwierigkeiten bei den Einheitsbestrebungen in der revolutionären Linken bestehen, ist unserer Ansicht nach die Leere in der theoretisch-historischen Analyse der nationalen und kontinentalen Wirklichkeit und das Fehlen einer klaren Alternative zum Neoliberalismus.

Die Bewegung 26. Juli auf Cuba und die FSLN in Nicaragua verstanden es, sich tief in den Realitäten ihrer Länder zu verwurzeln und ihre historischen Kämpfe aufzugreifen. Sie machten – wie einmal gesagt worden ist – die Revolution auf Spanisch und nicht auf Russisch. Marti und Sandino waren dabei die Vorbilder.

Wie anders sind die meisten linken Organisationen Lateinamerikas. Was symbolisiert für unsere Völker die Sichel auf der roten Fahne vieler kommunistischer Parteien (15)? Welche Bedeutung haben die Namen Ho Chi Min oder sogar Che Guevara, die manche Guerillafronten aufgegriffen haben, für die guatemaltekischen Indigenas?

Heute bemüht sich eine zunehmende Zahl von Organisationen um eine größere Berücksichtigung der nationalen Realität. Sie versuchen das revolutionäre Projekt auf der Grundlage vorhandener Identitäten aufzubauen, und genau dort entwickelt sich auch die Einheit am solidesten. Die objektiven Daten der Wirklichkeit setzen sich gegenüber den früheren abstrakteren Arbeiten durch.

II. 6. VOM STRATEGISMUS ZUR KONKRETEN ANALYSE DER SITUATION

Ein weiteres Übel der Linken, und vor allem der revolutionären, war die Überbewertung der Strategie. Die langfristigen Ziele – Kampf um nationale Befreiung und Sozialismus – wurden formuliert, aber die konkrete Situation, von der auszugehen ist, wurde nicht untersucht. Unter anderem wurde einfach angenommen, dass eine revolutionäre Situation in Lateinamerika existiere und es ausreiche, die Lunte anzuzünden.

Dieser Mangel an analytischer Genauigkeit blockiert, wie eben schon erwähnt, noch heute die Einigungsprozesse in der Linken.

II. 7. VOM SUBJEKTIVISMUS ZU EINER OBJEKTIVEN EINSCHÄTZUNG DER LAGE

Unglücklicherweise gab es bei der Analyse der konkreten Situation eines Landes immer viel Subjektivismus. Die Führer, bewegt durch ihre revolutionäre Sehnsucht, brachten Wünsche und Wahrheit durcheinander. Die Möglichkeiten des Gegners werden unter- und die eigenen überschätzt.

Außerdem verwechselten die Führungen die Stimmung in der Avantgarde mit der in den Massen. In nicht wenigen Fällen verallgemeinerten die revolutionäre Organisationen die Stimmung in einem Sektor oder einer Region des Landes, gingen von der Erfahrung in der eigenen Guerillafront aus und hielten das, was sie in den täglichen Gesprächen erlebten, für die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit. Dabei vergaßen sie, dass ihre Umgebung in der Regel den radikalsten Sektor der Gesellschaft darstellte.

So halten Guerilleros, die durch Auseinandersetzungen mit dem Feind und durch reale Siege zur Kontrolle von bestimmten Regionen gekommen sind, die gesellschaftliche Lage für radikalisierter, als Guerilleros, die z.B. in den städtischen Zentren kämpfen, wo die ideologische und militärische Kontrolle der Regime nach wie vor erdrückend ist.

Deswegen ist es notwendig, dass Führungen lernen zuzuhören und vermeiden, ihre eigenen Ideen auf die Basis zu projizieren. Wenn ein Führer nicht zuhören kann und nicht über ein großes Maß an revolutionärer Bescheidenheit verfügt, dass passiert es, dass die durchgegebenen Aktionslinien mit den realen Möglichkeiten von Mobilisierung nichts zu tun haben.

Dazu kommt der Selbstbetrug. Die Zahlen bei Mobilisierung, Streiks, Mitgliederstärke usw. werden nach oben manipuliert, ihre Bedeutung wird überschätzt. Man kann, wenn eine bestimmte Größe parlamentarischer Repräsentation nicht erreicht wird, nicht einfach den Misserfolg zugeben. Alles wird zum Erfolg umgedeutet. Die Verringerung des Stimmenanteils wird nicht erwähnt, sondern von der Zunahme der absoluten Stimmenzahl geredet; wenn ein landesweiter Streik geplant, aber nur ein teilweiser durchgesetzt wird, dann redet man von der Zunahme streikender ArbeiterInnen. Dieses erhalten ist eine Erbschaft des stalinistischen Triumphalismus, wo alles als Sieg gedeutet werden muss.

II. 8. VON DER SELBSTERNANNTEN AVANTGARDE ZU EINER AVANTGARDE, DIE SICH IN DER PRAXIS HERAUSKRISTALLISIERT

In den 60er und 70er Jahren erklärten sich die meisten linken Organisationen selbst zur Avantgarde des revolutionären Prozesses und viele sogar zu „Avantgarde der Arbeiterklasse“, obwohl diese in einigen Ländern so gut wie inexistent war. Es war damals unmöglich anzuerkennen, dass andere Organisationen genauso revolutionär waren wie man selbst, oder zu akzeptieren, dass eine gemeinsame Führung notwendig war. Alle politisch-militärischen Organisationen hielten die Parteien, die den bewaffneten Kampf nicht praktizierten, für reformistisch. Die kommunistischen Parteien hingegen behaupteten, dass es links von ihnen niemanden gebe, außer den verächtlich als „Ultralinke“ bezeichneten Gruppen.

Die Situation ist heute anders. Mit wenigen Ausnahmen wie vielleicht Sendero Luminoso in Peru, käme heute kaum eine revolutionäre Organisation mehr auf den Gedanken, sich selbst als „die Avantgarde“ zu bezeichnen. Die meisten haben verstanden, dass man nicht effektiv gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen kann, wenn man nicht zu Formen gemeinsamer Führung findet, – ohne dass das notwendig die Gründung einer gemeinsamen Partei bedeutet.

II. 9. … UND ZUR KOLLEKTIVEN AVANTGARDE UND DEM PLURALISMUS

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Form politischer Führung von den Charakteristiken der jeweiligen Gesellschaften, die man verändern will, entsprechen muss. Wir könnten das politische Subjekt der Revolution in Lateinamerika als den klarsten und radikalisiertesten Sektor des sozialen Subjekts bezeichnen. (Das soziale Subjekt (16) in Lateinamerika besteht aus: der Arbeiterklasse, den BäuerInnen, den BewohnerInnen der Armenviertel, den Indigenas, den ChristInnen, den StudentInnen, den Mittelschichten, den fortschrittlichen Militärs, den Frauen und den UmweltschützerInnen).

Auch wenn diese Avantgarde oder führende Kraft des revolutionären Prozesses die Interessen aller Ausgebeuteten repräsentieren muss, kann man diese politische Führung und das soziale Konglomerat von Ausgebeuteten nicht gleichsetzen.

Hierauf baut die Unterscheidung zwischen Avantgarde und politischer Front auf. Letztere besteht aus allen sozialen und politischen Kräften, die bereit sind, für revolutionäre Veränderungen im bestehenden Stadium einzutreten, die also ein Programm wirtschaftlicher, sozialer und politischer Transformationen der Gesellschaft vertreten. Es gibt soziale und politische Kräfte, die Teil dieser Front sein können, aber aus ihren eigenen Charakteristiken (sektoral, regionale usw.) nicht die Gesamtheit der Gesellschaft im Auge haben, und daher auch keinen revolutionären Prozess gegen das herrschende Regime führen können.

Es gibt einige, die heute den Begriff einer führenden Kraft der Veränderung anstelle der Avantgarde bevorzugen. Sie machen dies, weil der Begriff der Avantgarde mit der Arbeiterklasse und der Partei identifiziert wird, und weil die >führende Kraft der Veränderung< eine offenere Bezeichnung ist. Dieser Abschied aus dem engen und dogmatischen Verständnis von Avantgarde ist unter den revolutionären, marxistisch-leninistischen FührerInnen Lateinamerikas weit verbreitet. Es wird immer häufiger von >kollektiver und geteilter Avantgarde< geredet, womit alle AkteurInnen der sozialen Veränderung gemeint sind.

Aber da Avantgarde sowieso nichts anderes beschreibt als die Fähigkeit, den Klassenkampf zu führen, kann diese Führung nicht mehr als Summe von revolutionären Organisationen oder Parteien verstanden werden.

Eine Avantgarde kann nicht a priori als Einheit linker Organisationen definiert werden. Diese Organisationen müssen auch wirklich einen Sektor der Bevölkerung vertreten, um Avantgarde zu sein.

II. 10. DIE ZUNEHMENDE BERÜCKSICHTIGUNG DES ETHNISCH-KULTURELLEN FAKTORS

Die lateinamerikanische Linke ignorierte mit Ausnahme der Peruaner Mariátegui und Haya de la Torre über mehrere Jahrzehnte das Phänomen der Indígenas. Die reduktionistische Klassenanalyse machte die Indígena-BäuerInnen zu einem Teil des ganz normalen Bauerntums, das um Land kämpft. Dabei wurde der ethnisch-kulturelle Faktor nicht beachtet, der aus diesen BäuerInnen doppelt Ausgebeutete macht, die über eine eigene Geschichte des Widerstands verfügen.

Ein Verdienst der bewaffneten Bewegung Guatemalas war es, in den 70ern das explosive Potential der indigenen Völker zu entwickeln. Die negativen Folgen einer falschen Politik gegenüber diesen Gruppen – auch wenn sie in manchen Ländern nur noch eine verschwindend kleine Minderheit darstellen – lassen sich z.B. in Nicaragua beobachten, wo sich die soziale Basis der Contra vor allem unter den Indígenas heruasbildete.

Heute erkennt die Linke die Indígenas als soziales Subjekt der Revolution an, auch wenn es ihr in den meisten Fällen noch nicht gelungen ist, die natürlichen Führer (17) dieser Gemeinschaften für ihr revolutionäres Projekt zu gewinnen.

III. Veränderungen in den politische-militärischen Organisationen

III. 1. DER BEWAFFNETE KAMPF – VOM DOGMA ZUM MITTEL

In den 70er Jahren verwandelten die politisch-militärischen Kampf (konfrontiert mit der schroffen Ablehnung der kommunistischen Parteien, die für einen friedlichen Weg sozialer Veränderungen eintraten) regelrecht in ein Ziel an und für sich. Der bewaffnete Kampf war demnach der einzige Weg zur Revolution. Umso mehr man ihn verteidigte, umso revolutionärer war man. Konsequent handelte man nur, wenn man die Waffen nahm und in die Berge ging.

Nur sehr wenige bemühten sich darum, vorher der Bevölkerung zu zeigen, dass wirkliche alle anderen Wege verschlossen waren.

III. 2. DIE VERWENDUNG VERSCHIEDENER KAMPFFORMEN

Die ebengenannte scharfe Auseinandersetzung mit den kommunistischen Parteien und die Tatsache, dass diese die Wahlen für eine der wichtigsten Kampfformen hielten, führte dazu, dass die meisten politisch-militärischen Organisationen Wahlen als Kampfmittel grundsätzlich ablehnten. Heute dagegen erkennen die meisten an, dass die kommunistischen Parteien der revolutionären Bewegung mit dieser Arbeit einen großen Dienst getan haben, denn das Wahlterrain ermöglichte den revolutionären Ideen eine Öffentlichkeit, die sie sonst nicht erlangt hätten.

Allgemein kann man sagen, dass die bewaffnete Linke ihre Verachtung gegenüber institutionalisierten Kampfformen überwunden hat und heute eine Kombination unterschiedlicher Formen anstrebt. Dabei sind Wahlen, Verhandlungen und diplomatische Anstrengungen so wichtig wie außerinstitutionelle Kämpfe.

Einige bewaffnete Organisationen wie z.B. die M-19 in Kolumbien sind dabei jedoch dem Extrem verfallen, ihre Waffen abzugeben, um auf institutionellem Parkett eine Rolle spielen zu können.

III. 3. ISOLATION UND VERANKERUNG DER GUERILLA IN DER BEVÖLKERUNG

Die fokistischen Verirrungen der letzten Jahrzehnte sind inzwischen in den meisten Fällen überwunden. Die politisch-militärischen Organisationen Lateinamerikas wissen heute, dass sie zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie sich nicht in der Bevölkerung verankern. Wenn der Krieg in El Salvador kein Volkskrieg gewesen wäre, hätte er sich niemals so lange halten können.

Diese Veränderungen haben wir in den politischen Führungen in den letzten Jahren feststellen können. Natürlich setzen sie sich nicht sofort in politische Praxis um. Es braucht Zeit, damit Verhaltensformen, die sich über Jahrzehnte in der Linken behauptet haben, überwunden werden können. Es wird dauern, bis auch die mittleren Kader und die Basis diese Konzepte verwirklichen. Trotzdem sind wir optimistisch, weil es bereits ein großer Fortschritt ist, dass wenigstens die Führungen die Notwendigkeit von Veränderungen begriffen haben. Das lässt uns hoffen, dass die subjektiven Bedingungen (18) in Lateinamerika, die so weit hinter den objektiven Bedingungen zurückliegen, jetzt einen deutlichen Sprung nach vorne machen können.

Dennoch steht fest, dass eine programmatische Alternative zum Neoliberalismus und zur neuen Situation auf der Welt fehlt. Diesen Mangel zu beheben, ist die größte und wichtigste Herausforderung für die Linke in Lateinamerika.

 

(1) Fokismus: Theorie Che Guevaras,  daß ein aufständischer Unruheherd  (span: foco) in Form einer kleinen Guerillagruppe auf dem Land eine landesweite Revolution auslösen könne.

(2) Vor allem in El Salvador oder Guatemala übten Bevölkerung und Massenorganisationen sehr großen Druck auf FMLN und URNG aus, damit diese den Krieg beendeten.

(3) Jose Marti: Cubanischer Führer in den Unabhängigkeitskämpfen um die Jahrhundertwende.

(4) Auch Kommunistische Internationale (KomIntern), 1919-1943. Den spezifischen nationalen Bedingungen der KP’s sollte Rechnung getragen werden, was durch die Politik Stalins jedoch verhindert wurde. 1943 wurde sie von Stalin aufgelöst.

(5) Neue Ökonomische Politik: 1921 einsetzende neue Wirtschaftspolitik der Bolschewisten, womit der private Handel wieder zugelassen wurde. Das ZK-Mitglied Bucharin rief die Bauern auf, „sich zu bereichern“. Die neue Politik war Folge des totalen wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach der Revolution Mit einer Form staatlichen kontrollierten Kapitalismus (auch „Staatskapitalismus“ genannt) hoffte man, die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang bringen zu können.

(6) Mit diesem Begriff ist eine offene, breite Partei (wie die heutige brasilianische PT) im Gegensatz zur halb-klandestinen und extrem hierarchisierten Kaderpartei Lenins gemeint.

(7) Als Beispiel könnte man die revolutionär-sozialistische Partei Kolumbiens (PRS) der 20er Jahre nennen. Neueren Untersuchungen zufolge glich die PRS mehr einem revolutionären Bündnis von unten (Indigenas, Bananenarbeiter, Gewerkschafter, Bauernorganisationen) als einer Partei im klassischen Sinne. Obwohl sie höchst erfolgreich war, wurde sie im Zusammenhang mit der Politik der Kommunistischen Internationalen aufgelöst. Die neu entstehende kommunistische Partei war hingegen völlig dem sowjetischen Vorbild angepaßt. Nach dem Ende der PRS spielte die legale Linke in Kolumbien bis in die 60er Jahre fast keine Rolle mehr.

(8) Als revolutionäre Führung (direccion revolucionaria) gelten in Lateinamerika jene Organisationen, die die politische Landschaft eines Staates beherrschen. In El Salvador war dies z.B. die FDR-FMLN, die – und das meint Harnecker – nie zu einer Einheitspartei verschmolz. Mehrere linke Organisationen (nicht nur leninistische) schlossen sich zusammen und wurden mit ihren Differenzen zum politischen Machtfaktor. Die kommunistische Orthodoxie (auch bei den Maoisten) beansprucht hingegen die Avantgarderolle für eine einzige marxistisch-leninistische Kaderpartei.

(9) Bei Lenin werden die Gewerkschaften als „Transmissionsriemen“ bezeichnet, das heißt sie setzen die in der Führung getroffenen Entscheidungen in der Gesellschaft um.

(10) Herrschaft der Alten.

(11) Undogmatische marxistische Stadtguerilla; seit 1985 legale, linke Organisation.

(12) Linksnationalistische Stadtguerilla Anfang der 70er.

(13) Undogmatisch trotzkistische Guerilla (in Stadt und Land) Anfang der 70er Jahre.

(14) Streben um Vorherrschaft.

(15) Die Sichel ist in Lateinamerika als Werkzeug unbekannt. Man benützt stattdessen die Machete.

(16) Als soziales Subjekt werden von Harnecker diejenigen Sektoren verstanden, die aufgrund ihrer materiellen oder sozialen Situation kein Interesse an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse haben. Erst die Teile, die sich dann auch tatsächlich oppositionell artikulieren, werden von ihr als politisches Subjekt bezeichnet.

(17) Mit „natürlichen Führern“ ist nicht gemeint, dass manche Menschen aufgrund ihrer genetischen Veranlagung oder sonst eines Biologismus dazu vorherbestimmt sind, Führer zu werden. „Natürliche Führer“ sind solche, die aus der Community selber hervorgehen und im Laufe der Zeit die Anerkennung ihrer Community gewinnen. Sie entstehen – um den gramscianischen Begriff zu benutzen – organisch aus der Bevölkerung heraus. Der Gegensatz dazu sind Führungspersonen, wie z.B. der Befreiungspfarrer im Stadtteil, die gezielt in einer Community politische Arbeit leisten, aber nicht selbst aus dieser stammen.

(18) „Subjektive Bedingungen“ sind Organisationsgrad, Strategie und Theorie der revolutionären Gruppen, Bewusstseinsstand in der Bevölkerung, wohingegen „objektive Bedingungen“ die materiellen Zustände in einem Land beschreiben: also Grad der sozialen Widersprüche, Proletarisierung, Bedeutung von Landkonflikten usw.

 

 

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