1968 1996 2018
Editorial
«Uns war schon bewusst, dass die Nummer provozieren würde. Der Eindruck, den die arranca! Nummer 8 lieferte, entsprach unserem nicht ganz so enthemmten persönlichen Bewusstseins- und Diskussionsstand aber gar nicht. Wir hatten erwartet, dass die Ausgabe Diskussionen auslöst, aber dass sie so sehr als Angriff auf den autonomen Feminismus gesehen wurde und die ganze folgende Zensurdebatte hat uns dann schon überrascht. Die Reaktionen, die die Nummer 8 ausgelöst hat, haben uns dann noch lange beschäftigt. Es stellte sich heraus, dass wir unter den arranca!-üblichen Produktionsbedingungen – Produktionsstress, das Layout selber machen und unter Zeitdruck noch Fotos auswählen zu müssen – etwas geschaffen hatten, das sich als Gruppe homogen gar nicht verteidigen ließ. Wir sollten uns hinter Themen stellen oder uns von ihnen distanzieren, die wir eigentlich nur hatten ansprechen wollen.»
Redaktion arranca! #8
«SEXualmoralischer Verdrängungszusammenhang»
Vor 22 Jahren setzte sich mit #8 erstmals eine arranca!-Redaktion als Teil der Gruppe FelS (Für eine linke Strömung) kollektiv ins Verhältnis zum Thema Sex – und schrieb unverhofft ein kleines Stück linker Geschichte; ein handfester politischer Skandal innerhalb der radikalen Linken. Aus heutiger Perspektive betrachtet, fällt es schwer den ganzen Krach zu verstehen. Zum Glück helfen da sowohl die Genoss*innen der damaligen Redaktion, als auch mit den Ex-Unglücklichen, an der Debatte Beteiligte, mit einem Rückblick auf die Sprünge.
Für uns steht fest: Auf dem Feld der Sexualität hat sich nicht nur seit den 1968ern viel getan. Wenn wir auf unser 1996 und die unmittelbar folgenden Debatten schauen wird klar, dass es höchste Zeit war noch einmal den Blick auf Sexualitäten zu richten. Dabei interessiert uns, wie sich Sexualitäten eigentlich seit dem verändert haben, gerade nachdem die letzten neoliberal geprägten Jahrzehnte scheinbar große Freiheiten eröffnet haben. Volker Woltersdorff schaut für uns in Sexualitäten, wie wir sie heute kennen und gibt uns dafür einen ersten, guten Überblick.
Darüberhinaus folgt die Ausgabe verschiedenen Blicken: Zum einen dem Blick auf politisches und gemeinschaftliches Gestalten von Sexualität und auf Entwickler*innen konkreter Utopien. Es sind Menschen, die zusammenkommen, weil ihre Sexualität sonst schlicht keinen Ausdruck fände. Im Interview Wir bauen diese Brücke Stein für Stein berichten queermigrantische Aktivist*innen aus den USA, wie sie in ihrer spezifischen Situation ganz eigene Organisierungsformen benötigten. Jule Govrin beschreibt in ihrem Artikel this is not a love song das Spannungs- und Abgrenzungsverhältnis zwischen Begehren und Liebe. Während der Artikel Wenn Sexpartys sich gut anfühlen… Formen entwirft, wie Sexualität jenseits der ‹Zweierbeziehung in privaten Räumen› gelebt werden kann, schaut Nello Fragner wie die Mikroebene der individuellen sexuellen Emanzipation mit Räumen gemeinsamer sexueller Selbstbestimmung verknüpft ist. So versuchen wir der politischen Gestaltungskraft auf die Spur zu kommen, die Sexualität bis heute hat und am Leben erhält.
Zum zweiten verfolgen wir den Blick der Kritik an gegebenen Konzepten und politischen Positionen – Kritik ist bekanntlich heilsam. Führt sie doch dazu, den Gang über die Grenzen der existenten Realität vorstellbar zu machen. Denn auch in der Sexualität spielen die (politischen) Gedanken, die wir uns machen, die Bilder und Identitäten in denen wir uns begreifen eine große Rolle für das, was wir für denkbar und erstrebenswert halten. Die Artikel von Joris Kern und Johanna Montanari, die sich kritisch mit dem Zustimmungskonzept auseinandersetzen, versuchen sich an konkreten Möglichkeiten und realistischen Reflektionen über eine geteilte Sexualität, die im Kontakt mit sich und der*dem*den Anderen bleibt. Der Artikel sm.club blickt auf Sexualität aus der Position linker Sadomasochist*innen. Während Nadire Y. Biskin in Poppen und Privilegien in den Fokus nimmt, was priviligierten Menschen nicht so auffällt, wirft Lydia Kray in Fette Erotik den Blick auf eine Sexualität jenseits des flachen Bauchs. Die Gruppe Goldner setzt sich mit der feministischen Debatte über Vergewaltigung auseinander. Aysegül Öztekin schaut kritisch auf Online-Dating, Volker Woltersdorff schreibt über Gewalt unter Schwulen und Louzie und FaulenzA widmen sich Sexismus, Trans- und Feminitätsfeindlichkeit. Auf diesem Weg der kritischen Reflexion begreifen wir Sexualität politisch und verändern sie gemeinsam mit anderen.
Gespart haben wir uns weitgehend einen dritten Blick: den auf den rechten, antifeministischen Backlash. Wir sehen den zentralen Unterschied zwischen 1968 und heute darin, dass die emanzipatorische Linke damals in der radikalen Minderheit gegen den reaktionären Mainstream stand – heute ist es umgekehrt. So muss sich die Rechte heute gegen diesen Mainstream stellen, innerhalb dessen wir im Feld der Sexualität für unsere Positionen kämpfen können. Uns waren progressive Debatten deshalb hier wichtiger.
Zuletzt noch ein paar Worte in eigener Sache: Die arranca! ist nun 25 Jahre alt und wir werden das Jubiläumsjahr nutzen, um an der eigenen Form und Fitness zu arbeiten. Deshalb wird dies vermutlich die einzige Ausgabe in 2018 bleiben. Dafür nutzen wir die Zeit einiges auf den Kopf und anderes auf die Füße zu stellen. Wir möchten auch unseren langjährigen Redaktions-Genoss*innen A. und M. danken. Sie haben sich im Laufe der Produktion dieser Ausgabe leider für andere politische Lebensmittelpunkte entschieden. Eure Bedeutung für die arranca! spiegelt sich auch in gut fünf Monaten verspätetem Erscheinen! Nicht verschweigen wollen wir deshalb, dass wir eine ständig wachstumsbedürftige Redaktion sind und auf vielen Ebenen neue Mitstreiter*innen wollen. Wenn du also Interesse an redaktioneller, vertrieblicher oder (social-)media Redaktionsarbeit hast, dann freuen wir uns von dir zu hören!
Eure arranca!-Redaktion im Mai 2018
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Erschienen in arranca! #52
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