Barcelona en Comú: Kämpfe um die Institutionen
Interview: Sebastian Schneider
Nachdem in der AK 616 (Analyse & Kritik) das malaboca-Kollektiv Murray Bookchins Konzept des Munizipalismus vorgestellt hatte, kritisierte Naemi Gerloff in der AK 617 die Repression gegen migrantische Straßenhändler*innen in Barcelona. In der AK 618 skizzierte malaboca, wie enttäuscht Teile der sozialen Bewegungen in Madrid von der munizipalistischen Stadtregierung dort sind. AK hat im September bei Laura, Manu und Bue aus der Internationalen Arbeitsgruppe von Barcelona en Comú nachgefragt.
Hier liegt die längere Version des Interviews vor, das in der aktuellen AK 622 erschienen ist (Anm. d. Red.).
AK: Was sind die wichtigsten Erfolge von Barcelona en Comú?
Laura: Zunächst mal wie wir politische Prozesse verändern, indem wir Gruppen und Menschen an Entscheidungen partizipieren lassen, die bisher von ihnen ausgeschlossen waren. Dazu gehört auch alle informellen Verbindungen mit Interessengruppen und einflussreichen Akteuren in der Stadt zu kappen.
Für die Umsetzung politischer Inhalte nehmen wir das Thema Wohnen als Beispiel. Fast alle wichtigen Regelungen müssten auf nationaler oder regionaler Ebene verändert werden. Also haben wir eine Stelle eingerichtet, die zwischen der Bank und den Leuten, die von der Zwangsräumung bedroht sind, vermittelt, wobei oft auch die PAH (Anm.d.R.: Plattform der Hypothekenbetroffenen, eine der wichtigsten Gruppen im Post-15M-Prozess) beteiligt ist. Die Stadt organisiert den Betroffenen zur Not eine neue Wohnung, aber es hat seither praktisch keine Zwangsräumungen mehr gegeben.
Unser Ziel ist dabei immer Institutionen zu schaffen, die später nur schwer wieder abzuschaffen sind, die langfristig das Potential haben, die Arbeitsweise der Stadt umzuwälzen.
Bue: Jede Regierung, und eine Minderheitsregierung wie BComú ganz besonders, ist nur innerhalb bestimmter Grenzen handlungsfähig. Erfolge einer Regierung lassen sich nicht nur daran bemessen, was getan wird, sondern auch daran, was nicht getan wird. Neoliberale Politik hat das für sehr lange Zeit mit großem Erfolg getan, beispielsweise die Steuerflucht von Konzernen und zugleich die Krise der sozialen Infrastruktur zu ignorieren.
Laura: In der Wohnungsfrage geht es auch nicht nur um das Ende der Zwangsräumungen. Die Stadt hat begonnen Häuser für einen sozialen Wohnungsbau zu erwerben, immerhin 500 Wohnungen bisher. Außerdem werden gegen Portale wie Airbnb jetzt Strafen verhängt, wenn sie illegale Ferienwohnungen veröffentlichen. Denn Touristification spielt für die steigenden Mieten in Barcelona eine größere Rolle als Gentrification.
AK: In der A+K war über Repression gegen die Manteros, migrantische Straßenhändler, in Barcelona zu lesen. Was sagt ihr dazu?
Bue: Das ist eine der schwierigsten und konfliktreichsten Situationen, mit denen BComú bis jetzt konfrontiert wurde, intern und extern. Die Stadtregierung kam unter grossen Druck, gegen StrassenverkäuferInnen vorzugehen, und hatte dafür wenig Lösungsoptionen bereit. Das Hauptproblem ist natürlich, dass sie den Leuten keinen legalen Aufenthaltstitel geben kann. Es gibt jetzt einen kommunalen Beschäftigungsplan für ca. 75 VerkäuferInnen, also Arbeitsplätze für ein Jahr, und neue Genossenschaften von StrassenverkäuferInnen sind im Entstehen. Ich glaube aber nicht, dass dieser Konflikt sich mit Jobs lösen lässt. Barcelona kann nicht für alle fliegenden Händler am Mittelmeer Jobs organisieren. Migration ist eine transformatorische und revolutionäre Herausforderung, bei der es um mehr geht. Das entwertet in meinen Augen das munizipalistische Projekt nicht, aber es zeigt, das Veränderung auf vielen Ebenen gleichzeitig organisiert werden muss, und mit viel Druck von unten.
Manu: Natürlich muss es auch darum gehen, Tricks zu finden, um die Zerteilung in Citizens und Non-Citzens von der Stadtebene aus zu untergraben. Politik und Bewegungen der Stadt haben da ein sehr grosses Potenzial, wenn man an die municipal ID-cards in Nord-amerikanischen „Sanctuary Cities“ denkt etwa. In Barcelona gibt es eine städtische, regionale und staatliche Polizei, und damit viele Spielchen. Manchmal reicht es auch, nichts zu tun und das hat die Stadtregierung auch anfangs getan. Aber es gab dann immensen Druck seitens der Rechten und auch von BewohnerInnen und gelöst ist die bisher Sache nicht.
Laura: Andererseits sind die Abschiebelagern in Barcelona geschlossen worden, weil die Gesetze zwar auf nationaler Ebene gemacht werden, die Lizenzen zum Betrieb aber von den Städten vergeben werden. Die Stadt hat das verweigert, was gerade ein ziemlich großer Konflikt mit dem Nationalstaat ist.
AK: Wie ist das Verhältnis der Stadtregierung zu den sozialen Bewegungen im Moment?
Laura: Die Stadtregierung braucht die sozialen Bewegungen und ihren Druck. Denn die Lobby- und Interessengruppen sind ja weiter da und sehr einflussreich. Wenn es dann keine sozialen Bewegungen gibt, die Druck in eine andere Richtung machen, kannst du als Regierung nichts umsetzen. Oft fordern sie viel mehr, als in unserem Programm steht und das ist auch gut so, weil sonst würdest du gar nichts durchsetzen können.
Bue: Ja richtig, und zugleich lohnen sich die Auseinandersetzungen innerhalb der Institutionen. Ein anderes Beispiel ist der Versuch, Druck auf den spanischen Staat auszuüben, mehr Geflüchtete nach Spanien zu lassen. Barcelona hat einen Deal mit Athen gemacht, weil in Athen sehr viele Geflüchtete sind und Barcelona einen Teil von ihnen aufnehmen kann und will. Es geht um eine Solidarität von Stadt zu Stadt, die natürlich von der konservativen spanischen Regierung blockiert worden ist, aber eben auch darum, Druck auf die höheren Ebenen aufzubauen. Das können Barcelona oder die spanischen Städten allein nur sehr bedingt schaffen. Dazu braucht es eine Verbindung mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Teilen der Welt und besonders in Europa, weil wir ja einen gemeinsamen institutionellen Rahmen teilen.
AK: Was ist BComú denn eigentlich? Eine Partei, eine Bewegung, ein Netzwerk?
Manu: Der Bewegungsaspekt stand in der Phase des Wahlkampfs definitiv im Vordergrund, aber heute ist es eher eine Organisation. Es gibt mittlerweile eine Menge formal geregelte Abläufe und es hat sich ein gewisser Habitus heraus gebildet und eine klare Arbeitsteilung. Und natürlich hat es auch etwas verändert, dass jetzt manche Leute in der Regierung und diese Perspektive mitbringen.
Laura: Zugleich verschwimmen die Grenzen der Partei sehr stark, weil es keine formale Mitgliedschaft gibt. Es gibt eine Gruppe Aktivist*innen, die ganz normal in der Organisation mitarbeiten und Entscheidungen fällen und sich auch in Funktionen wählen lassen können. Aber es gibt auch die viel größere Gruppe der Sympathisant*innen, die an vielen wichtigen Entscheidungen (Vorwahlen, Regierungspakte) über eine Online-Plattform beteiligt werden. Da kann sich jede*r registrieren, der oder die das möchte, sogar Leute, die in anderen Parteien Mitglied sind.
Bue: Eine Wahlplattform oder eine Partei wird normalerweise auf zwei Wegen gebildet. Entweder arbeitet eine Gruppe von Leuten ein Programm aus, stellt das der Öffentlichkeit vor und wirbt dann um Unterstützung. Oder man bildet ein Bündnis aus Gruppen und Parteien, die bereits bestehen. In jedem Fall ist das Programm normalerweise bereits fertig, wenn es an die Öffentlichkeit gelangt. Bei BComú und der Idee der confluencia (dt. Zusammenfließen) war das anders herum. Es wurden Unterschriften gesammelt für den Beginn eines Prozesses, durch den wir dann alle ein Programm erarbeitet haben.
Dieser Prozess war sehr partizipativ gestaltet, es gab verschiedene offene Arbeitsgruppen, einmal nach Stadtteilen, und dann nach Themen: Gesundheit, Bildung, Wohnen, Verkehr, Tourismus, Gender, Migration, und so weiter. Da haben Leute aus verschiedensten Bereichen und Vierteln zusammengearbeitet, ein ziemlich beeindruckendes kollektives Lernen, durch das viele politische Inhalte erarbeitet wurden.
Laura: Auch unser Ethik-Code, der Richtlinien für PolitikerInnen der gemeinsamen Plattform festlegt, ist durch crowdsourcing entstanden, in einem grossen offenen Workshop und über eine offene online Plattform.
Manu: Zu dem Bewegungsaspekt gehört sicher auch, sich in einem größeren politischen Kontext zu verorten. Es geht darum neue politische Perspektiven zu eröffnen, jenseits der Blockade der europäischen Krise auf der Ebene der Nationalstaaten und der EU. In diesem Sinne kommen wir natürlich aus den Bewegungen, aber BComú übernimmt nicht die Arbeit der Bewegungen. Es geht gewissermaßen um eine Ausweitung der Kampfebene, darum mit den Widersprüchen der Institutionen zu arbeiten und Institutionen verändern. Das muss zusammen mit sozialen Bewegungen geschehen, aber es kann nicht identisch mit ihnen sein. Die Wahlen zu gewinnen bei weitem nicht heißt, „die Macht“ zu übernehmen. Mit Sitzen in der Regierung ist nicht alles gelöst, du bist immer noch auf dem selben Schlachtfeld und es tun sich ständig neue Widersprüche auf.
S: In der BRD heißt es oft, die Erfahrungen aus den politischen Prozessen in Spanien seien nicht übertragbar, weil es in der BRD keine vergleichbare Vorgeschichte sozialer Kämpfe gegeben hat. Was denkt ihr dazu?
Manu: Wir haben sicher viel gelernt von der 15M-Bewegung und auch von den mareas, den proto-gewerkschaftlichen Bewegungen, die Kampagnen zu Wohnen, Gesundheit und so weiter gemacht haben. Die haben vor allem erst mal super konkrete Forderungen entwickelt, haben sehr genau geschaut, wo sie in die Offensive gehen und etwas gewinnen können. Konkrete Forderungen haben den Vorteil, dass sie gewonnen werden können und die PAH ist ein gutes Beispiel, wie man über ganz viele kleine Siege vorankommen kann. Da hat immer auch dazu gehört sehr viel Wert auf gegenseitige Hilfe zu legen und eine Gemeinschaft aufzubauen. Es geht also nicht um Forderungen allein, sondern auch darum, ein Netzwerk aufzubauen, von dem diese getragen werden.
Wenn man so etwas auf der Ebene einer ganzen Stadt aufbauen will, dann braucht man schon eine große Stärke und es ist schon richtig, dass viel dieser Stärke in Barcelona durch 15M entstanden ist. Aber es muss ja nicht gleich für die ganze Stadt sein, man kann ja auch in verschiedenen Feldern anfangen. Der Mietenvolksentscheid in Berlin zum Beispiel, ging ja in so eine Richtung. Sich erst mal auf ein Thema konzentrieren und dort versuchen Power und soziale Verankerung aufzubauen und durch kleine Siege Leute zu motivieren. Aber dazu muss man schon ein ganzes Stück auf Distanz gehen zum selbstbezogenen Teil der Linken.
Bue: Der entscheidende Punkt ist, dass es gelingt Leuten zu aktivieren, die sonst nicht politisch aktiv sind. In Spanien sind da natürlich durch den 15M und die Mareas gute Grundlagen geschaffen worden. Es gab dadurch viele Leute, die Lust auf politische Beteiligung hatten und den Glauben an die bestehenden Institutionen verloren hatten. Aber auf der städtischen Ebene gibt es überall eine Menge Sachen, die du machen kannst. Auch in der BRD gibt es sicher jede Menge Leute und Gruppen, die durchaus ein politisches Begehren haben, die aber nie eine politische Partei unterstützen würden und die sich vielleicht sogar als unpolitisch bezeichnen. Und genau solche Leute haben die Kampagne von Barcelona en Comú unterstützt, weil das eben nicht einfach die nächste Partei war, sondern etwas, wo sie mitentscheiden konnten. Dafür sind respektvoll und offen gestaltete partizipative Prozesse entscheidend. Die meisten Menschen diskutieren ja ohnehin wenig über Politik und wenn dann geht es eher darum, was von der Politik erwartet wird. Diese Frage einfach mal zustellen, „was wollen wir selbst eigentlich?“, thematische Arbeitsgruppen bilden und unterschiedliche Gruppen und Leute einladen, dadurch entsteht schon eine ganz schöne Dynamik. Und so eine Dynamik kannst du im Grunde überall erzeugen, wo es irgendwie so etwas wie eine Zivilgesellschaft gibt.
Laura: Sicher sind in Spanien durch 15M viele Menschen aktiviert worden, die sonst keinen Bezug zu Politik hatten. Aber um Wahlen zu gewinnen musst du sowieso viel, viel mehr Leute als nur die aus der Bewegung aktivieren. Die Frage ist doch, wen du in deiner Organisation haben willst und wie du dich in deinen Inhalten von den anderen Parteien unterschieden kannst? Beide Fragen hängen letztlich daran, ob du es schaffst einen Diskurs zu entwickeln, eine Art und Weise über politische Fragen zu reden, die für die allermeisten Leute zugänglich ist. Und das ist selbstverständlich auch in anderen Kontexten möglich. Es geht ja gerade nicht darum Leute zu haben, die schon von deiner Message überzeugt sind, sondern darum, eine andere Message zu entwickeln, die neue Leute anspricht und sich von dem unterscheidet, was alle anderen erzählen.
Der Kontext spielt auf jeden Fall eine Rolle und in Spanien gab es eine sehr spezielle Kombination von Faktoren, aber das heißt ja nicht, dass sich etwas ähnliches nur durch genau die selbe Kombination von Faktoren erreichen ließe. Du kannst dich immer von anderen Erfahrungen in anderen Kontexten inspirieren lassen, kannst dir Mittel, die dort entwickelt wurden aneignen. Ob und wie Sie sich an den Problemen bewähren, mit denen deine Organisation gerade beschäftigt ist, musst du ausprobieren. Insgesamt glaube ich, lernen wir viel zu wenig voneinander als soziale Bewegungen.
Manu: Barcelona en Comú ist schon sehr speziell und es lässt sich garantiert nicht copy/paste-mäßig irgendwo hin übertragen. Aber was viel wichtiger ist als eine große soziale Bewegung ist doch vielleicht der Aufbau von vielen kleinen Bewegungen. Was man dafür braucht, ist im Grunde ein gemeinsames Problem, das viele Menschen teilen. Und solche Probleme gibt es ja nicht nur in Spanien, auch wenn sie dort durch die Krise multipliziert und verschärft worden sind. Wenn man von solchen Problemen ausgeht, gibt es immer konkrete Forderungen, die sich stellen lassen, um die Situation zu verändern. Um die umzusetzen braucht man ein Mittel, ob das jetzt ein Volksentscheid ist oder etwas anderes, das ist ja erstmal egal. Also mit einem weit verbreiteten Problem, umsetzbaren Lösungsvorschlägen und einem Mittel, mit dem sich Druck aufbauen lässt, damit lassen sich kleine Siege erreichen und darüber eine Menge Leute gewinnen.
Laura: Und gleichzeitig geht es auch darum, seine Entscheidungsprozesse zu öffnen und kollektiver Intelligenz zu vertrauen. Bei uns spielt das eine große Rolle in den Debatten, keine Angst vor Fehlern zu haben, keine Angst haben etwas neues auszuprobieren. Wenn du immer nur das selbe versuchst, wirst du nie etwas neues erreichen.
Ganz normalen Leuten und ihren Ansichten zu vertrauen kann bestimmt schief gehen. Aber in unserem Fall hat es sehr gut geklappt. Sie kamen mit Leuten und Gruppen zusammen, die schon länger aktiv sind, und das kann eine ziemlich produktive Mischung sein.
Eine gekürzte Version des Interviews ist in der aktuellen AK erschienen.
Sebastian Schneider ist seit Jahren aktiv gegen die neoliberale Umstrukturierung des städtischen Raums, derzeit v.a. in der Interventionistischen Linken und beim BUKO Arbeitsschwerpunkt Stadt und Raum.