Jenseits der Berliner Szenepolitik: Ein Leser*innenbrief

30.08.2015
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Uns erreichen bereits die ersten Reaktionen auf die aktuelle Ausgabe der arranca!. Im folgenden anonymen Leser*innenbrief wird auf die Diskussion um Kampagnenpolitik und Interventionen in Alltagskämpfen eingegangen, die in der aktuellen Nummer im Hinblick auf die Orientierung der Interventionistischen Linken (IL) geführt wird. Wir freuen uns, dass die Debatte weitergeht! 

P.S.: Die Ausgabe #48 ist als Doppelausgabe geplant: auf Beiträge zu neuen Aspekten der Organisierungsfrage und Antworten auf Stränge der bisherigen Debatte sind wir gespannt.

Leser*innenbrief

Eine neue Ausgabe der Zeitung arranca! ist erschienen. Nach der Fusionierung zur Interventionistischen Linken kommt das Heft nun aus der Berliner Ortsgruppe der IL.
Aus Beiträgen dieser arranca! #48 wird eines deutlich: In der IL gibt es einen Streit. Ein Teil der Gruppe grenzt sich von „Eventpolitik“, von „eventorientierter Praxis“ und dem „Hopping“ von Konflikt (Krise, Blockupy) zu Konflikt (Energie, Ende Gelände) ab und sieht darin nur „Symbolpolitik“. Davon soll mensch „Abstand nehmen“, heisst es in einem Text (arranca! #48, S. 11), und stattdessen Orte der Begegnung schaffen, im Alltag zuhören und lernen, Verbindungen von als getrennt erscheinenden Konflikten herstellen, sich gesellschaftlich verankern (Wollen Blockupy und Ende Gelände all das nicht?). „Basisarbeit“ und „lokale Kämpfe“ sind die Schlagwörter. Als beispielgebend gilt eine Praxis in Berlin, wie sie Initiativen wie „Zwangsräumung verhindern“ gezeigt haben.

Die genannten Alternativvorschläge sind prinzipiell richtig, lassen uns aber fragend zurück, warum nur noch ausschliesslich darauf fokussiert wird. Warum schliessen sich Gruppen zur IL zusammen, wenn sie ihre bisherige lokale Arbeit fortsetzen wollen? Warum braucht es dafür eine bundesweite Organisation?

Wir, die Freund*innen und Genoss*innen in Berlin haben, aber nicht in ihren Szenevierteln leben, denken immer, wenn wir solche Vorschläge von ihnen hören: Die haben gut reden und sind auch ein bisschen arrogant.
Wir freuen uns über jedes lokale Bündnis, das sich anlässlich von Blockupy, eines NATO Gipfels u.s.w. hier gründet. Und in unserem (politischen) Alltag sind wir permanent mit unterschiedlichen Menschen konfrontiert, neben der MLPDlerin und dem Verschwörungstheoretiker auch mit Personen, sagen wir es vorsichtig, mit rassistischen Ressentiments. Darunter sind Menschen, die ein*e Berliner Szenelinke*r in seinem Leben niemals treffen wird bzw. treffen muss bzw. sich überhaupt nicht vorstellen kann. Wir machen Infostände in der Fussgängerzone und hören den Passant*innen zu, aber ehrlich gesagt ist es oft schrecklich von ihren Luxusproblemen zu hören, die keine emanzipatorische Perspektive haben.

Kritik der Kritik

Es spricht für die IL und ihre antiautoritären Grundsätze, dass der stänkernde Teil, und damit die IL, diesen Streit öffentlich führt. Wir arbeiten gerne mit Gruppen wie IL zusammen. Und die Gelegenheit dazu ergibt sich vor allem bei „Events“, die wir niemals alleine umsetzen könnten und die unsere Perspektiven erweitern.

Insofern bedauern wir, dass ein IL Satz verrissen wird, der uns zusagt, nämlich „Die Mehrheit der Lohnabhängigen und Prekarisierten hofft, an der Seite der Mächtigen besser durch die Krise und die gegenwärtigen und zukünftigen Unsicherheiten zu kommen, als mit Widerstand und Solidarität.“ Das finden wir eine gute Beschreibung der Verhältnisse. Und weiter heisst es in diesem Satz, dass die Mehrheit „noch glaubt, ihre verbliebenen Privilegien oder zumindest ihre prekäre Existenz im Kapitalismus verteidigen zu können“ (arranca! #48, S. 9)

Nach dem Berliner Blick zeigt sich an der Kritik dieses Satzes der deutsche bzw. westeuropäische. Im internationalen Massstab geht es uns hier verdammt gut. Seien wir doch mal ehrlich: Als Hartz IV Empfänger*innen können wir (in Berlin noch besser als in Baden Württemberg) ein gutes Leben führen. Zu „Angst und Verunsicherung“ auf diesem Feld trägt auch die Linke selbst bei, die Hartz IV dämonisiert anstatt auch die Lohnarbeit in Frage zu stellen (Krankfeiern statt Gesundschuften!), die Nutzung des Sozialsystems zu propagieren (Erst Sozi, dann Rente!) und selbst beispielgebend zu praktizieren. Dass dies hierzulande geht, beweisen viele Genoss*innen. Aber auch wir haben noch nicht den passenden Ratgeber geschrieben, um ihn vor Fabriken, Arbeitsagenturen und Jobcentern zu verteilen. Wir wollen es jedenfalls nicht Sozialdemokrat*innen und Familienminister*innen gleichtun und nur von „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ reden. Die längst vergangene Zeit der Vollbeschäftigung ist für uns keine Alternative zum Neoliberalismus. Aber damals hat mensch wenigstens gesagt, dass Arbeit nur die eine Hälfte des Lebens, die andere aber viel aufregender sei. Wo ist der Gedanke der grossen Verweigerung geblieben?

Heute leben wir in einer globalisierten und doch noch immer geteilten Welt. Auf eine andere Weise sehr prekär leben die Menschen im Süden. Was sie produzieren, wird hier im Norden konsumiert, wo alle davon profitieren (was uns erst erlaubt, die Lohnarbeit in Frage zu stellen.) Die globale Dimension ist in der Regel kein Teil der Stadtteilarbeit, weil alle Beteiligten davon nichts hören wollen. Aber die Frage ist doch spannend: Wie können die gigantischen Differenzen in den globalen Arbeits und Lebensbedingungen auch zu einem Teil einer Praxis in deutschen Städten (diesseits und jenseits der Flüchtlingsarbeit) werden? Ist es überhaupt möglich die verschiedenen (oder gar entgegengesetzten?) Interessen und die Akteure kollektiv zu verbinden, wie in arranca! #48 vorgeschlagen wird? Wie könnte eine gesellschaftliche Verankerung im Weltmassstab aussehen? Habt Ihr darauf eine Antwort? Das würde uns interessieren. Uns fällt nur eine ein, die schon in dem kritisierten IL Satz steht: Mit Solidarität und Widerstand hier. Und so schliesst sich der Kreis und auch der Streit und Widerspruch in der IL, der real keiner sein sollte.

 


 



 

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