Der Alltag ist Krieg gegen Frauen

Interview mit Marina Kamal, Aktivistin einer revolutionären afghanischen Frauenorganisation

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Die "Revolutionäre Vereinigung der Frauen in Afghanistan" (RAWA) ist eine parteiunabhängige feministische Organisation, die 1977 von intellektuellen Frauen in Kabul gegründet wurde und für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit kämpft. Nach dem Einmarsch der SU gingen Teile nach Pakistan und organisierten sich in der Grenzstadt Quettar und in Peschawar. In den vergangenen 24 Jahren haben sie ein Krankenhaus für Flüchtlinge aufgebaut, mobile medizinische Teams gegründet und führen Bildungsmaßnahmen in Afghanistan und im Exil durch. Sie unterstützen traumatisierte Frauen, bauen geheime Zellen in Kabul auf und organisierte Mädchenschulen im Untergrund. Mehrere Aktivistinnen, wie z.B. Meena, eine der Gründerinnen von RAWA, wurden bei Attentaten ermordet. Die 20-jährige Marina Kamal lebt im Exil in Pakistan. Frauen in Afghanistan dürfen nicht arbeiten, außer im medizinischen Bereich, und Mädchen, die älter als acht Jahre sind, dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Seit September 1997 wird Frauen und Mädchen der Zugang zu den staatlichen Kliniken verwehrt. Es gibt eine kläglich ausgestattete Frauenklinik in Kabul. Frauen ist es nicht erlaubt, ohne ihren Vater, Bruder oder Ehemann – ohne männlichen Verwandten – das Haus zu verlassen. Frauen, die keine Burka – einen den ganzen Körper verhüllenden Schleier mit nur einem kleinen Sichtgitter – tragen, deren Knöchel z.B. zu sehen sind, drohen Misshandlungen.

Wie viele Mitglieder hat RAWA?

Wir sind etwa 2.000 Personen aus praktisch allen ethnischen Gruppen Afghanistans. Etwa 80 Prozent unserer Mitglieder entwickeln klandestine Aktivitäten innerhalb des Landes. Die anderen arbeiten in Pakistan, hauptsächlich zur Unterstützung der Flüchtlinge. RAWA ist eine Frauenorganisation, obwohl wir natürlich auch männliche Mitarbeiter haben.

Wie sieht ein Tag für eine Aktivistin von RAWA in Pakistan oder Afghanistan aus?

Das hängt sehr von der Gegend ab, in der wir arbeiten. Als ich im Büro für Öffentlichkeitsarbeit tätig war, haben wir oft nachts gearbeitet. Wir hatten wenig Ressourcen und die Arbeit war sehr hart. Jetzt bin ich in der Bildungsarbeit tätig. Ich besuche die Alphabetisierungskurse und die Lehrerinnen, ich kümmere mich um die Teilnehmerinnen und die Presse. Innerhalb Afghanistans ist unsere Arbeit sehr unterschiedlich und gefährlich. Es gibt Leute, die eine kleine geheime Schule in ihrem Haus betreiben. Andere, wie zum Beispiel Medizinerinnen, leisten medizinische Hilfe. Es gibt auch Leute, die unsere Publikationen innerhalb Afghanistans verteilen. Das sind Publikationen, welche die Leute kaufen, obwohl sie dabei ihr Leben riskieren.

Ihr legt großes Gewicht auf Bildung?

Die Männer haben mehr Macht in allen Aspekten des öffentlichen Lebens, weil sie besseren Zugang zu Bildung haben. Unsere Alphabetisierungskurse und die Kurse zur politischen Bewusstseinsbildung haben das Ziel, den Frauen Macht zu verschaffen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Rechte einzufordern.

Was bedeutet für Euch Feminismus?

Wir kennen den westlichen Feminismus, aber die Grundlage unserer Ideen beziehen wir aus unseren elementaren Erfahrungen und der Repression, unter der wir leiden. Frauen werden seit drei Jahrzehnten auf allen Ebenen unterdrückt. Die Forderung nach Gleichheit und Grundrechten entsteht da ganz von alleine. Es gibt wichtige Unterschiede zu einem europäisch geprägten Feminismus. Während Frauen im Westen für das Recht auf Scheidung oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit kämpfen, kämpfen wir für das Recht, das Haus zu verlassen. Während Frauen im Westen sich für Parlamentssitze einsetzen, kämpfen wir für grundlegende Dinge, wie dass wir uns alleine in der Öffentlichkeit bewegen können. Oder dafür, dass es nicht lebensgefährlich ist, wenn man aus Versehen einen Arm unter unserer Burka sehen kann.

Wie leben die Aktivistinnen von RAWA den Islam?

Wir sind fast alle Muslime, aber Muslime, die den Islam als eine persönliche Option leben. Er bildet einen Teil unseres Lebens, aber er darf nicht die Politik bestimmen.

Wie passt eine feministische Bewegung wie Eure in den Islam?

Der Islam ist eine sehr weite Religion und – selbstverständlich – weit entfernt von der Interpretation der Taliban. Der Islam bietet Frauen das Recht auf Bildung, auf die Straße zu gehen, zu arbeiten und ihre Rechte zu fordern. Es gibt natürlich viele Interpretationen des Islam. Für uns heißt Feminismus in Afghanistan, dieselben Rechte zu besitzen wie die Männer, vor allem das Recht zu leben. Auf jeden Fall ist der Islam ein sehr umstrittenes Thema. Im Laufe der Geschichte hat sich gezeigt, dass die Religionen, der Islam mit eingeschlossen, die besten Waffen in den Händen der Regierenden und Diktatoren waren, die Bevölkerung zu kontrollieren und vor allem die Frauen. Afghanistan ist ein klares Beispiel für die Nutzung der Religion für politische und persönliche Interessen. Alle Fundamentalisten, sowohl die Taliban als auch die Jehadis, haben den Islam entsprechend ihrer eigenen Interpretation benutzt, um ihre Verbrechen zu rechtfertigen.

Warum sieht man so viele Frauen, die hier in Pakistan die Burka tragen?

Die Burka ist Teil unserer Kultur. Es gab immer Frauen, die sie angezogen haben. In konservativen Familien ist das noch immer üblich. Was ganz neu in unserer Kultur ist, ist, dass Frauen gezwungen werden, die Burka zu tragen. Einige Frauen, wie beispielsweise Meena, die Gründerin von RAWA, benutzten sie, um nicht erkannt zu werden. Wir selbst tragen die Burka manchmal, wenn wir nach Afghanistan reisen.

Was fühlt man unter einer Burka?

Du siehst kaum etwas durch das Stoffgitter in Augenhöhe. Man kann kaum atmen. Während der Mittagshitze vervielfacht sich jede Anstrengung. Der Gedanke, dass dich jemand töten kann, wenn du die Burka öffnest, verstärkt das Gefühl der Drangsalierung.

Was ist die Politik der Regierung gegenüber RAWA?

Die Strategie der Taliban und auch der reaktionären Presse in Pakistan ist es, uns zu diskreditieren. Sie bezeichnen uns als "untreue Frauen", als "Prostituierte", als "anti-islamisch".

Ist das Leben von RAWA-Aktivistinnen auch in Pakistan in Gefahr?

Selbstverständlich. Es ist nicht so gefährlich wie in Afghanistan, aber einige Aktivistinnen sind verhaftet worden, und wir werden beobachtet. Wir werden auch bedroht.

Welche Verbindungen zum Ausland habt Ihr?

In dieser harten Zeit ist es eine Notwendigkeit für uns, Mitarbeit und Hilfe von allen Organisationen und Bewegungen, die die Freiheit lieben, zu suchen, egal wo sie sind. Weil unsere politischen Ziele und unsere Situation denen der Palästinenserinnen, Zapatistinnen und Kurdinnen ähneln, ist es klar, dass wir uns diesen progressiven Bewegungen nahe fühlen.

Wie sieht sich RAWA politisch?

Wir sind eine unabhängige soziale und politische Organisation. Wir sind feministisch und anti-fundamentalistisch. Wir kämpfen für die Freiheit, die Demokratie und die Rechte der Frauen. Innerhalb der politischen Landkarte können wir uns nicht verorten, weil es uns in erster Linie um die genannten Ziele geht. Von der Rechten werden wir als links bezeichnet. Einige Linken sagen, dass wir Rechte sind.

Wie schätzt Du die aktuellen Ereignisse ein?

Es ist eine neue Katastrophe für unser Land. Der Angriff auf Afghanistan wird den Schmerz der Amerikaner über die terroristische Attacke nicht lindern. Die USA sollten zwischen der afghanischen Bevölkerung, die eine furchtbare Zeit durchleidet, und den Fundamentalisten unterscheiden. Wir habe die Attentate des 11. September energisch verurteilt, aber wir erinnern daran, dass Bin Laden ein Mitarbeiter der CIA war und die USA die Fundamentalisten finanzierten. Die USA sollten nicht Afghanistan angreifen und Tausende ZivilistInnen ermorden, um sich am Verbrechen von Bin Laden und den Taliban zu rächen. Die Nordallianz ist die andere Seite derselben Medaille. Das sind die gleichen Mörder und Fundamentalisten wie die Taliban.

In ihrer Grausamkeit und ihrer Einstellung zu Frauen sind die Gruppen der Nordallianz kein bisschen besser als die Taliban. Auch bei ihnen wurden Frauen verschleiert, sie durften nicht zur Schule, sie wurden gesteinigt. Es wurden Massaker an ethnischen Minderheiten verübt und Frauen vergewaltigt. Für die afghanische Bevölkerung bietet die Nordallianz keine Perspektive. Wir wollen eine politische Lösung.

Das Interview führte Joseba Sanz noch zur Regierungszeit der Taliban, es ist redaktionell bearbeitet aus der baskischen Tageszeitung GARA entnommen. Wir danken der Zeitung ak - analyse & kritik für die Bereitstellung der deutschen Version.

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Erschienen in arranca! #23