Gesellschaft oder Ghetto

Text von Lutz Taufer von Ende 1992

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Es gab immer Widersprüche in der Gefangenengruppe, und es gibt sie, so auch 1992. Die Ursachen sind vielfäl­tig, aber die Kontraste gehen in letzter Konsequenz auf die Frage Gesellschaft oder Ghetto zurück.

Es gibt unter uns welche, die Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre die Erfahrung einer antisystemischen und emanzipativen Bewegung gemacht haben, die angetrieben war, Verantwor­tung übernehmen zu wollen für ein gesellschaftliches Ganzes. Aus dieser Zeit ist die RAF entstanden. Und es gibt Gefangene, die aus einer Zeit kommen, in der dieses Erlebnis, diese Erfahrung, dieses Selbstverständnis vom politischen nicht ohne weiteres zu haben war. Ich denke, der Unterschied liegt vor allem dort, wo jene Bewegung versucht hat, Abgrenzungen zu durchbrechen, ist das Ghettobewußtsein darum bemüht, Ab­grenzungen zu errichten. Die von einer gespenstischen Substanzlosigkeit gekenn­zeichnete Debatte des Jahres 1992 „revo­lutionär" vs. „reformistisch" ist nur noch der letzte Beweis dafür. In Wirklichkeit geht es nicht um „revolutionär" oder „reformistisch", sondern um Ghetto oder Gesellschaft. Ein Bewußtsein gesamtge­sellschaftlicher und gesamtpolitischer Verantwortung kann offenbar durch Dis­kussion und Aufklärung darüber nicht erreicht, es kann nur durch praktische Erfahrungen erlernt, akkumuliert wer­den. Entweder in einer existierenden oder sich entwickelnden Aufbruchsbe­wegung oder, wo es das nicht gibt, in jenen gesellschaftlichen Gegenden, „wo der Reformismus lauert." Also in jenen Bereichen, in denen Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan Carl Raspe und Holger Meins ihre ersten politischen Lernprozesse machten: in den Bereichen Jugendarbeit, Erziehung und Kultur der sechziger und siebziger Jahre. Müßten diese heute unter die Augen unserer „Revolutionäre" treten, sie würden mit Sicherheit als „Reformisten" entlarvt und ein für alle mal ausge­grenzt werden. Sicher, sie hatten damals den Faschismus im Rücken, wo hinter uns heute der Zusammenbruch des Realsozialismus liegt. Das verändert die Aus­gangsbedingungen. Dennoch: der Weg in jene Gegenden, wo der Reformismus lauert, ist zweifellos ein riskanter und schwieriger Weg - aber der Weg ins Ghetto ist sinnlos. Was sich zwischen Anfang 1989 und Ende 1992 in unseren Zusammenhängen an Widersprüchen und Denk- und Handlungsblockaden entwickelt hat, ist bestimmt von dieser unaufgelösten Spannung zwischen den beiden Polen Ghetto und Gesellschaft.

Wenn im Jahr 1992 ein Bundesminister der Öffentlichkeit den Gedanken in den Kopf gesetzt hat, RAF-Gefan­gene müßten freigelassen werden, wenn dieser simple politische Tatbestand eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst hat, dann handelt es sich bei diesem Vorgang um ein Ereignis auf politisch- gesellschaftlicher Ebene. Vollkommen gleichgültig, was hinter dieser Kinkel-, KGT-, oder was-weiß-ich-für-eine Initia­tive sonst noch stecken mag. Wenn es uns nicht gelungen ist, diesen einfachen politischen Tatbestand für uns zu ent­wickeln, weiterzuziehen, auszubauen, dann nicht deshalb, weil die RAF eine reformistische Erklärung abgegeben oder irgendein Geheimdienstklüngel sich Counterstrategien ausgedacht hat, sondern weil die Gefangenengruppe und Scene sich am unaufgelösten Widerspruch zwi­schen Ghetto und Gesellschaft seit Jah­ren gegenseitig blockiert und längst in die Handlungsunfähigkeit manövriert hat. Wenn sich die Gefangenengruppe ein Jahr lang nicht gerührt hat, um danach festzustellen, unser Feind will uns vernichten, ist diese Vorhersage von ebensolcher visionären Kraft, wie wenn du sagt: „wenn du barfuß im Schnee gehst, bekommst du kalte Füße."
Michael Dietiker, Ali Jansen und Bern­hard Rosenkötter haben in ihrem Beitrag (Konkret, November 1992) richtig aufge­zeigt, daß der revolutionäre Kampf der RAF nicht vom Himmel gefallen ist, son­dern daß Inhalte und Ziele, die mit bewaffneter Politik weiterentwickelt werden sollten, bereits von der 68er­Bewegung, ihrerseits eine revolutionäre Bewegung, in die Welt gesetzt worden waren. Aber auch diese ist nicht vom Himmel gefallen! Sie bereitete sich vor in jenen Gegenden, in denen der Refor­mismus lauert.

„Selbst ein so sympathisch nüchterner Mann wie Schäuble spricht vom Verlust der Wertbindungen, der Mitte der sech­ziger Jahre entstand", berichtete die Süd­deutsche Zeitung am 7.12.1992 von einer Schäuble-"Rede über Deutsch­land". Was ist es, was diesen „nüchter­nen" Politiker dermaßen irritiert, ein Viertel Jahrhundert nach Seiner Zeit als einer der Anführer des Rings Christlich- Demokratischer Studenten in Freiburg? Sicher nicht diese oder jene Aktion der Studentenbewegung, eher schon der zumindest partiell und temporär erfolg­reiche Angriff auf jene Denkmuster und Mentalitäten, die den Kapitalismus im Innersten, bis jetzt jedenfalls einiger­maßen am Laufen hielten: die verloren­gegangenen Anbindungen an die herr­schenden Werte. Unschwer zu begreifen, daß eine solche eindringliche Offensive nicht durch Rückzug ins Ghetto geschieht, sondern durch jene Bewegung, die in der genau entgegen­gesetzten Richtung sich entfaltet.

Wie nun aber jener eigentümliche Gedankensprung, mit dem Schäuble, an die Denunziation von 68 anknüp­fend, in seiner Rede fortfährt: „Und er ap­pelliert an das deutsche Volk, sich nicht nur am Konsum zu orientieren, sondern auch die Freude am Kind zu entwickeln"? Wie?! Hat 68 hemmungslosen Konsum propagiert, haben wir zielstrebig auf jene kinderfeindliche Gesellschaft hinge­arbeitet, wie wir sie heute haben? Warum redet dieser Mann solchen Unsinn? Ich denke, wir müssen dabei zweierlei auseinanderhalten: erstens die Tatsache, daß die Warengesellschaft in ihrer heutigen fundamentalistischen Aus­prägung (in Schäubles Worten: alleinige Orientierung am Konsum) zu einer unaufhaltsamen Verwahrlosung der Gesellschaft, ihrer sozialen Bindekräfte und so ihrer Reproduktion überhaupt führt. Und zweitens, daß selbst einem Schäuble inzwischen dämmert, was ein Marx schon vor 140 Jahren skizziert hat: daß nämlich unter dem Fundamentalis­mus der Ware Verhältnisse zwischen Menschen zu Verhältnissen von Sachen werden. Als führender CDU-Politiker kann er das aber nicht aussprechen, er kann es nicht einmal in seinem Bewußt­sein zulassen, also wird es abgespalten und auf einen Sündenbock projiziert.

Das Klima in diesem Land ist in den letzten beiden Jahren umgeschlagen. Eine dramatische Entwicklung, die in ihrem vollen Ausmaß erst 1992 deutlich geworden ist. Was wir heute wissen, war zu Beginn des Jahres noch nicht sichtbar. Reaktionäre bis faschistische Tendenzen, und zwar nicht nur in orga­nisierter Form in der Bandbreite von SPD bis hin zu bewaffneten neonazisti­schen Trupps, haben sich breit gemacht und längst auch das Alltagsbewußtsein erreicht. Werte und Denkmuster der Lin­ken kommen nicht mehr oder nur in dif­fuser, widersprüchlicher Form zum Tra­gen. Breit angelegte Aktionen gegen Rassismus, Antisemitismus und Nazismus haben stattgefunden, als Koalitionen von Linken, sozialdemokratischen und bür­gerlichen Kräften. Ihre traditionelle Rolle als Motor solcher Mobilisierungen hat die Linke eingebüßt. Schlimmer noch: da demonstrieren Millionen gegen Faschismus und militanten Rassismus, ohne zuvor mit der herrschenden Werteskala gebrochen zu haben. Und doch muß auch daran erinnert werden: bei allen grausamen Verirrungen war es in der bisherigen Geschichte die Linke, die garantiert hat, daß um menschliche und soziale Emanzipation gekämpft wird. Ein anderes politisches Kontinuum, das auch nur ähnliches für sich in Anspruch neh­men könnte, fällt mir, in Deutschland jedenfalls, nicht ein. Wenn es nach dem zweiten Weltkrieg in diesem Land eigen­ständige Demokratisierung gegeben hat, so war das nicht der US-Import Dollars&Democracy, es war die 68er-Bewe­gung, die das, was der Faschismus nach dem Judentum innerstaatlich am grau­samsten verfolgt und nahezu ausgemerzt hatte - die Linke, ihre Werte, Kultur und Kontinuität-, wieder lebendig und berechtigt hat werden lassen in Deutsch­land West.

Und wenn heute eine Re-Faschisie­rung läuft, dann breitet sie sich aus in jenem politisch-kulturellen Vakuum, das diese Linke in ihrem Rückzug aus einer gesamtgesellschaftlichen Verant­wortung und Neusetzung von Werten und Einstellungen hinterlassen hat.
Die Welt, nicht zuletzt die westlichen Systeme, befinden sich in einem sich beschleunigenden Prozeß der Implosion, der vermutlich von ähnlicher Dimension sein wird wie der Übergang vom Mittel­alter zur Neuzeit. Und insofern ist der Satz vom Ende der Geschichte wahr. Aber die Verwechslung einer neuen Zeit, in der Mensch und Natur in ihrer Weiterexistenz bedrohenden Apokalypse namens Warengesellschaft zeigt nur, wie sehr die Mächtigen selbst in perspektivi­scher Ratlosigkeit befangen sind. Das macht sie nicht ungefährlicher, im Gegenteil. „Aktionismus statt Politik" bilanziert die Süddeutsche Zeitung die Bonner Politik des Jahres 1992. Aber ihre Versuche, die bedrohlicher und unbe­herrschbarer werdende Situation unter Aufbietung aller Mittel und Brutalitäten, unter Abwurf auch noch des letzten moralischen Ballastes, doch noch einmal zu stemmen, ist der historische Situation gegenüber genauso blind wie der „Blick über Kimme und Korn". Dieser Situation ein „revolutionäres Projekt" entgegenzu­stellen, das auch nach einjähriger Debatte über das Stadium guter Absich­ten und böser Unterstellungen nicht hin­ausgekommen ist, halte ich nicht für einen Angriff auf diese Verhältnisse, son­dern für eine Rückzug von ihnen.
Meine Güte! Wer wollte bezweifeln, daß diese Verhältnisse, wie sie sich destrukti­ver und katastrophenhafter kaum dar­stellen könnten, radikal umgewälzt wer­den müßten! Aber die Erschießung von sogenannten Eliten hat nichts verändert, und umgewälzt schon gar nichts. Weder hat die Erschießung von Zimmermann die Politik der deutschen Rüstungsindu­strie oder auch nur die von MTU in eine andere Richtung bringen können, noch die Erschießung Gerald von Braunmühls die Nahost-Politik der Bundesregierung. Wenn das Wort vom revolutionären Kampf einen materiellen, also nachprüf­baren Gehalt hat - und es ist ein Wort, das nicht nur von Veränderung, sondern von heftigster Veränderung spricht -, dann war die Wirkung der bewaffneten Aktionen im einzelnen wie in ihrer Gesamtheit weniger als reformistisch. Ob eine Politik revolutionär ist oder nicht, bestimmt sich am Ende wirklich nur darüber, ob sie die Verhältnisse in Richtung Revolution gebracht oder zumindest verändert oder Prozesse in diese Richtung initiiert hat.

„Die RAF war die ganzen 22 Jahre über immer eine relativ kleine Gruppe", so die Illegalen in ihrer August-Erklärung. Die Geschichte der RAF ist die Geschichte einer Gruppe, die in 22 Jah­ren niemals größer als 20 oder 30 Leute war. Und dies hängt damit zusammen, daß jene Linken, die seit 22 Jahren vom revolutionären Kampf reden, sorgfältig darauf geachtet haben (von Ausnahmen abgesehen), persönlich sich in sicherer Distanz zum bewaffneten Kampf zu halten. Darin liegt für mich die reale­xistierende Distanzierung von bewaffneter Politik! Und sicher nicht in einer Erklärung, die Karl-Heinz Dellwo vor kurzem für einige RAF- Gefangene abgegeben hat (um das, was in den Verfahren von uns gesagt werden würde, öffentlich zu machen). Ich halte es für eine schon recht eigenartige, um nicht zu sagen spießermäßige Haltung, von andern zu verlangen, die sollen gefäl­ligst ihr Leben aufs Spiel setzen, und selbst achtet man genau darauf, den eigenen Hintern im Warmen zu halten. Von ein oder zwei militanten Demos im Jahr. abgesehen. Wenn überhaupt! Ich kritisiere diese „Revolutionäre" nicht, weil sie nicht in die Illegalität gehen. Aber ich kann mich eines Gefühls der Geringschätzung nicht erwehren, wenn diese „Revolutionäre" noch nicht mal den Mumm zu der sich nun schon seit vielen, vielen Jahren aufdrängenden Feststellung aufbringen: wenn sie selbst nicht die Kraft und die Courage aufbrin­gen, bewaffnet zu kämpfen, wenn ihre GenossInnen und FreundInnen, ihre Freunde und Genossen um sie herum diese Kraft und diese Courage nicht auf­bringen, wenn diese Geschichte sich 22 Jahre lang wiederholt und wiederholt und wiederholt - daß sich dann die sub­jektive Schranke des Einzelnen, in die Illegalität zu gehen, zu einer objektiven Schranke für den bewaffneten Kampf verdichtet hat: daß es eben nicht geht. Und daß die Leute, die es machen kön­nen, in diesem Land schlicht und ein­fach nicht existieren.

Nahezu ein halbes Jahrzehnt ist es her, daß die Gruppe der RAF-Gefangenen öffentlich erklärt hat, zum Gespräch mit gesellschaftlichen Grup­pen bereit zu sein. Voraussetzung wäre natürlich gewesen, daß die Gefangenen sich tatsächlich als Gruppe mit Gruppen aus der Gesellschaft würden auseinan­dersetzen können. Die Vorstellung, wie sie damals, 1988, von sozialdemokrati­scher Seite ins Spiel gebracht worden war, einzelne wenige Gefangene für ein paar Stunden raustreten zu lassen zur Diskussion, raustreten zu lassen aus langjähriger Isolation, glich eher einer Erfolgskontrolle jenes Haftregimes, das heute, wo die Stasi es eingesetzt hatte, als Isolationsfolter strafrechtlich verfolgt wird. Mit Sicherheit war diese Vorstellung von einer „Diskussion" einer Partei würdig, die in den 70er Jahren die Eska­lation tatkräftig und systematisch hoch­gezüchtet hatte, um sich 1992 im Schul­terschluß mit der CSU wiederzufinden. Vier Jahre nach den „Diskussions"-Erklärungen der Gefangenen vom Au­gust 1988 mußten wir in diesem Jahr eine Menge darauf verwenden, um zu verhindern, daß Bernd Rössner dorthin kommt, wohin ihn die Bundesanwalt­schaft und ihr psychatrischer Gutachter haben wollten: in die geschlossen Abtei­lung einer psychiatrischen Anstalt.

Noch immer gibt es RAF-Gefangene, die Haftbedingungen ausgesetzt sind, so etwa Brigitte Mohnhaupt in Aichach, die mit dem Herbst 77 sehr viel, mit der in diesem Jahr vom Bundeskanzler annon­cierten Normalisierung aber überhaupt nichts zu tun haben. Während die Gefangenen auf einen politischen Weg setzen, klettert die Bundesanwaltschaft noch immer durchs Dickicht der 70er Jahre, setzt auf Psychiatrie und psychiatrische Diagnose. Die Gefangenen wollen den Weg des Subjekts, der gemeinsamen Diskussion drinnen/draußen und dazu die Zusammenlegung, Staat und Justiz wollen den Weg der Vereinzelung, des Abschwörens, den Weg der Unterwer­fung. Die Staatsschutzkonstrukte, mit denen über 20 Jahre lang versucht wor­den war, Isolation zu rechtfertigen und die Zusammenlegung der Gefangenen aus RAF und Widerstand zu verhindern, haben sich längst in Luft aufgelöst. Von Zellensteuerung, Infosystem, 7000 Kassi­bern redet heute kein Mensch mehr. Trotzdem die Mitteilung der Bundesju­stizministerin vor ein paar Monaten, es werde keinerlei Zusammenlegung gehen. Warum? Dazu die Frankfurter Rundschau am 5.9,1992: „ Vor allem aber fürchten sie einen möglichen > Katalysatoreffekt <- ein solches Meeting aller RAF- Gefangenen > würde dann ja Beschlüsse fassen und Erklärungen abgehen, zu Themen wie bewaffneter Kampf, Ökolo­gie, Altersarmut und Strategien, die man verfolgen will <."
Laut Duden ist ein Katalysator ein „Stoff, der durch seine Anwesenheit chemische Reaktionen herbeiführt oder in ihrem Verlauf beeinflußt".
Hauptaufgabe des Jahres 1992 für uns war nicht, diesen Minister oder jenen Geheimdienstklüngel als unmoralisch oder unehrlich zu entlarven, um daraus eine Legitimation für jenes ominöse revolutionäre Projekt zu saugen, das ansonsten keine erkennbaren Eigen­schaften besitzen würde, Hauptaufgabe des Jahres 1992 und vor allem der bei­den Jahre zuvor wäre es gewesen, den mit den Erklärungen aus 88 und 89 begon­nen Weg zu Handlungsmöglichkeiten und Bewegungsspielräumen innerhalb der Gesellschaft auszubauen. Der erste Schritt in diese Richtung konnte wirklich nur sein: Auflösung der Altbestimmun­gen revolutionärer Politik, weil eine Neubestimmung nicht möglich ist, solange die Vorstellung von revolutionä­rer Politik dermaßen penetrant im Bild der 80er Jahre fixiert sind. Ich bin in der letzten Zeit häufiger kritisiert worden. Nicht deshalb, weil ich an jener revolu­tionären Debatte nicht teilgenommen habe, an deren Ende wir nun endlich wissen, daß der Imperialismus seine Gegner vernichten will, sondern wegen meines Pizza- Beitrags (Anm.: Gedan­ken durch die Mauer; in: „Odranoel"; Hrg. Pizza). Und zwar konkret deshalb, weil ich die 80er Jahre ausgespart hatte. Ich habe das getan, weil ich das Wort von der Selbstbestimmung ernst nehme.

Vor einiger Zeit bekamen wir den erschrockenen Bericht einer entlassenen Gefangenen. Sie berichtete von Ge­sprächen im kleineren Kreis und/oder auf Veranstaltungen, wo es aus den Leu­ten nur so rausplatzen würde. Vom „Fronttrauma" sei immer wieder die Rede gewesen, einige seien in die Psychiatrie gekommen, die besten seien davongelaufen. Wer tatsächlich glaubt, diesen noch immer unangetastet belas­senen Betonklotz 80er Jahre, ihre Entfremdungen und Entpolitisierungen, die­sen traumatischen Status Quo, über den selbst die radikale Linke tief zerstritten war, der tiefe Verletzungen hinterlassen hat, zur Grundlage irgendeiner weiteren Politik machen zu können, egal ob als Kampf um Zusammenlegung oder Frei­lassung oder als Diskussion mit allen gesellschaftlichen Gruppen oder als zu begründendes „revolutionäres Projekt in der Gesellschaft", der muß sich fragen lassen, ob er überhaupt politikfähig ist. Und wer meint, um diese Folgen unserer Politik brauche man sich nicht zu kümmern, sollte vom Kampf gegen Patriarchat und Rassismus schweigen.

Nachdem der Hungerstreik 1989 von einem Erfolg in Sachen gesellschaftliche Mobilisierung gekennzeichnet war, auch wenn die zentrale Forderung nach Zusammenlegung nicht hatte durchgesetzt werden können, starb dieser wich­tige Impuls wieder ab, nachdem von uns nichts kam. Sicher ist es sehr schwer, insbesondere für Gefangene, die allein sind, in einer solchen Diskussion zwi­schen drinnen und draußen Orientie­rung oder aktiver Teilnehmer zu sein. Um dir einen Überblick über die eigene Geschichte und die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu ver­schaffen, brauchst du Muße und Gelas­senheit, unter dem täglichen Druck von Isolationshaft ist dies nur schwer mög­lich. Immerhin hat es im Jahr 1992 Dis­kussionsbeiträge von Gefangenen aus RAF und Widerstand gegeben, von sol­chen, die einzeln sind, von solchen, die in Gruppen sind. Ich denke aber, wenn gerade jene Gefangene, die sich ganz besonders eng mit dem Frontkonzept und so der Politik der 80er Jahre ver­bunden wissen, bis heute dazu schwei­gen, liegt das zumindest nicht allein an den Haftbedingungen. Mit der dok­trinären Gewißheit alles richtig gemacht zu haben und in Zukunft alles richtig zu machen, hat man und frau sich eines abgeschnitten: das Leben und Kämpfen im Bewußtsein von der ständigen Unfer­tigkeit unserer Sache und so die Neu­gierde auf Weiterentwicklung. Karsten, dessen "fünf Blicke eines Insulaners" gerade (November 1992) im Angehörigeninfo erschienen sind, schrieb kürzlich: „Wirklich konstruktiv sind doch nur die Differenzen, Unklarheiten, und die Arbeit daran."

Es gibt heute gewisse Mystifikationen. Da ist etwa die Rede vom verlorenen Jahr 1992. Du könntest den Eindruck gewinnen, die Jahre davor seien Jahre voller Kampf und Initiative gewesen, und dieser Bundesjustizminister, oder schlimmer noch, irgendein Geheim­dienstklüngel, haben diesem Brausen jäh Einhalt geboten, aber bitte! Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die öffentliche Ankündigung, RAF-Gefangene sollten freigelassen werden, haben Gefangenen­gruppe und Scene aus einem zweijähri­gen Dornröschenschlaf aufgeschreckt, jedenfalls, was unsere Angelegenheiten betrifft. Rolf Heißler wußte seinem revo­lutionären Publikum bereits am 11.1.1992 zu enthüllen, worum es bei der ganzen Sache geht: „Die einen, bei denen sie physische und psychische Ver­nichtung aufgrund der Bedingungen weit genug voran getrieben sehen, lassen sie raus." Womit wohl vor allem Irm­gard Möller, Günther Sonnenberg, Bernd Rößner und ich gemeint waren, und zweitens sollte es heißen: wer raus­kommt, mit dem stimmt was nicht. Damit traf Rolf sicher nicht den Geschmack des Publikums, hatte er doch die Monate zuvor unsere Versuche, die Freilassungsfrage zu thematisieren mit der naßforschen Gegenfrage beant­wortet, ob wirs denn im Knast nicht mehr aushielten. Wobei diese menschli­che Entfremdung ihre Verlängerung in einer begrifflichen Entfremdung fand. Sturm wurde gelaufen gegen meine Anerkennung des staatlichen Gewaltmo­nopols, als ob mit der Hinnahme jahr­zehntelanger Gefangenschaft als eine Art Naturzustand das staatliche Gewaltmo­nopol nicht nur anerkannt, sondern mit solchen Fragen, ob wirs denn im Knast nicht mehr aushielten, geradezu propa­giert würde!

Spätestens mit dem Hungerstreik 1989 bestand die Hauptaufgabe darin, die überfällige Bilanz des bewaffneten Kampfs zu verbinden mit der Suche nach einer Gesamtlösung einerseits und einer neuen Perspektive andererseits. Aus der Erkenntnis der Tatsache, daß der bewaffnete Kampf an eine definitive Grenze gestoßen war und diese defini­tive Grenze sich vor allem in einer völli­gen Reduzierung der Bewegungsspiel­räume in der Gesellschaft manifestierte, eine Tatsache, die für jede und jeden auch ohne Zusammenlegung erkennbar sein mußte - mußte folgern, daß für eine Rückgewinnung politischer Handlungs- und Bewegungsspielräume die Altbe­stimmungen revolutionärer Politik auf­gelöst werden müssen, um Herz und Verstand für deren Neubestimmung frei­zubekommen. Diese beiden Ziele, Neubestimmung und Gesamtlösung, waren in der Tat überfällig. Sie waren notwen­dig, und zwar völlig unabhängig von Kinkel-, KGT- oder sonstigen Initiativen. Wenn welche kritisieren, daß die Illega­len und/oder Gefangene auf die Kinkel-Initiative in der erfolgten Weise reagiert haben, ist an dieser Kritik sicher was dran. Selbstverständlich wäre es besser gewesen, wenn wir, vor allem die Gefangenengruppe, in diesem Prozeß den ersten Schritt gemacht hätten, ohne auf eine staatliche Initiative reagieren zu müssen und sicher wäre es klüger gewe­sen, die Durcharbeitung unserer Geschichte wäre von uns, den Gefange­nen, gekommen statt von der RAF.

Nachdem aber die Gruppe in den Jahren 89 bis 91 diesen überfälligen Prozeß nicht in die Hand genommen hatte, und nachdem im Januar 1992 plötzlich eine breite Öffentlichkeit zu uns da war, mußte selbstverständlich diese Gelegen­heit ergriffen werden, um das beste dar­aus zu machen. Verweigerung ist in 99 von 100 Fällen falsch. So auch hier. Mitte Januar hatten die Celler Gefange­nen den Entwurf einer gemeinsamen Erklärung vorgelegt, der nach folgenden Überlegungen konzipiert war:

1) Wir, die Gruppe der Gefangenen, müssen schnell reagieren! Die Öffent­lichkeit wird sich nicht ein Jahr lang mit dieser Frage beschäftigen. Jetzt ist das Eisen heiß, jetzt muß es geschmiedet werden. Und zwar unabhängig davon, was hinter dieser Kinkel-Initiative steckte. Was zählte, war zuerst die öffentliche Debatte dazu. In die mußten wir schnellstmöglich eingreifen. Die Grundlage dazu konnte nur eine gemeinsame Erklärung der Gefangenen­gruppe sein.
Das Ghettobewußtsein indes („wir- sie"), in dem die Gesellschaft und somit der Rhythmus politischer Prozesse in der Gesellschaft überhaupt nicht mehr vor­kommt, erschöpft sich in der Gewßheit, „ihnen" jederzeit die richtigen Forderun­gen stellen und „denen, die mit uns kämpfen" jederzeit eine Erklärung übers Angehörigeninfo zuschicken zu können. Man hat Zeit.
2) wurde im zur Diskussion gestellten Erklärungsentwurf gesagt: notwendig ist a) eine Gesamtlösung und b) ein Bruch mit der Vernichtungspolitik der letzten 22 Jahre.
Angesprochen wurde aber auch auf unserer Seite die Bereitschaft, uns zu bewegen, ohne dabei in irgendwelche Details zu gehen. Das ist es wohl, was wir hier falsch eingeschätzt haben. Grundlage für eine solche Bewegung unsererseits hätte ein erarbeiteter Begriff unserer Geschichte sein müssen und daraus, und aus der Bewertung der heu­tigen Situation abgeleitet, eine zumindest grobe Vorstellung, wie es weitergehen könnte. Kurz: politische Aussagen, mit denen wir uns in Teilen der Gesellschaft hätten bewegen können. Die aber waren nicht vorhanden.

Sechs Wochen später, als die öffentliche Diskussion längst woanders war, kam schließlich als Ersatz für obige Erklärung der Gefangenengruppe eine Erklärung der Rechtsanwälte, in der mitgeteilt wurde, was seit dem Kursbuch 31 über Isolationshaft aus dein Jahre 1973 tau­sendfach mitgeteilt worden war.

In diesem Vakuum, das wir aus dem 1989 angestoßenen Prozeß hinterlassen hatten, geschah nun zweierlei:
1) Die von uns nicht definierte 22­jährige Geschichte der RAF und der Gefangenen wurde von der Gegenseite definitorisch umgegossen in Begriffe wie Reue, Opfer, Gewaltfrage, straffreies Leben, Einzelfallprüfung usw. und im öffentlichen Bewußtsein festgeklopft. Es war von unserer Seite aus kaum jemand da, der sich eingemischt hätte. Die Gegenseite präsentierte der Öffentlich­keit ausgerechnet die verbitterte Witwe eines 1970 in Hamburg von Gerd Müller erschossenen Polizisten. Gerd Müller war einer der ersten Kronzeugen, auf seine Aussage hin wurde Irmgard Möller, damals kurz vor ihrer Entlassung ste­hend, Mitte der 70er zu lebenslang ver­urteilt und Müller kam kurz darauf frei. Es war niemand da, der hier und bei vielen anderen Schweinereien eingegrif­fen hätte.
2) Eine realitätsferne Debatte über Reformismus und revolutionären Kampf. Der Begriff revolutionärer Kampf, wie er 1992 hin- und hergeschoben wurde, war nicht Ausdruck von Klarheit, er war viel­mehr eine Mystifikation, nach der sich all jene drängten, die der Klärung offe­ner Fragen aus dem Weg gehen wollten. Nehmen wir dieses Hannoveraner Papier. Im Sommer hatten wir einen aus dieser Gruppe bei uns hier, in einer Gesprächsrunde. Von der im späteren Papier zum Ausdruck kommenden Härte war in dieser Diskussion nichts zu spüren. Kritische Anmerkungen zum April-Text, sparsam eher. Offenbar ist es einfacher, uns aus sicherer Entfernung „leckt uns am Arsch" zuzurufen. Was berichtete der Freund aus Hannover über die eigenen Gruppenaktivitäten? Eine müde sich dahinschleppende Geschichte im besetzten Sprengel-Gelände und etwas Anti-Expo-Mobilisierung.
Mit einem Wort: „Stresemannstraße". Wovon sie sich am Ende ihres Textes so laut distanziert haben. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, wenn sie sagen, wir machen diese Geschichten seit 10 Jahren, wir haben die Schnauze voll, wir wollen woanders hin. Dann hätte man drüber diskutieren können. Wenn sie allerdings einen solchen ande­ren, meinetwegen revolutionären Weg, mit demselben stumpfen Sinn begehen, mit dem sie in ihrem Papier Gefangenen gegenübertreten, die zwei Jahrzehnte ihres Lebens für die Sache gegeben haben, werden sie bei dieser neuen revolutionären Praxis genauso scheitern wie bei der alten.

Bei all diesem Gerede über revolutionäre Politik ist in diesem Jahr nichts, aber auch gar nichts herausgekommen. Nirgendwo haben die, die da mit diesen breiten Ansprüchen daherkommen, es gebracht, auch nur im Theoretischen die Konturen einer solchen Politik erkenn­bar zu machen, vom Praktischen mal ganz zu schweigen. Hingegen hat diese Diskussion Aussagen produziert, denen ich widerspreche. Ich erinnere mich an einen Satz im Konkret-Text von Dietiker, Jansen und Rosenkötter, wonach unter den bestehenden Verhältnissen es keine Lösungen geben solle. Ja, um alles in der Welt, sollen wir den ausländischen, jüdischen, behinderten Kindern, Frauen und Männern, sollen wir den Schwulen denn zurufen: „Liebe Leue, tut uns leid, unter den bestehenden Verhältnissen kann es keine Lösungen geben, guckt, wo ihr bleibt"!? Tut mir leid, aber diese herzentragenden Wohlstandsbürger sind mir, bei allem Mißtrauen, lieber als große Ansprüche, von denen niemand sagen kann, wie sie umsetzbar sein sol­len.

1992 war also bestimmt von 2 auseinanderdriftenden Ebenen: auf der einen Ebene wurde das ganze abgehandelt als eine Frage von Reue, Opfer, juristischem Verfahren, auf der anderen Seite wurde entlarvt: a) ein Minister und ein Coun­tergremium als welche, die uns bekämp­fen wollen und b) die Illegalen, die von allen Illegalen in der Geschichte der RAF die meisten Erfahrungen haben, und jene Gefangene, die von allen am läng­sten dabei sind als welche, die nicht kämpfen wollen, als welche, die refor­mistischen, wo nicht sozialdemokrati­schen Vorstellungen frönen, also als sol­che, die das imperialistische System für eine grundsätzliche korrekte Veranstal­tung halten, an der es allenfalls hie und da etwas zu verbessern gilt.

Es war im Jahr 1992 und davor aber nicht darum gegangen, zu entlarven, was andere tun, es war darum gegan­gen, selbst etwas zu tun.
Die Versäumnisse der Jahre 89 bis 91 als auch die Ignoranz gegenüber den gesell­schaftlichen Prozessen im abgelaufenen Jahr haben die Möglichkeiten erweiterter Handlungsspielräume, egal ob für die Zusammenlegung oder die Freilassung, stark reduziert. Und so natürlich für eine Gesamtlösung. Nachdem die Gefange­nengruppe nicht zu einer gemeinsamen Aussage und gemeinsamem Handeln im Sinn einer Gesamtlösung gekommen ist, blieb nur übrig, sich der Untätigkeit anzuschließen - oder außerhalb dieses Rahmens Schritte zu unternehmen. Dies war der Bereich zwischen der Erklärung von Irmgard Möller im April über die Interviews und den Kampf um die Frei­lassung von Bernd bis hin zur Erklärung von Karl-Heinz, die er für jene Gefange­nen abgegeben hat, die die Absicht hat­ten, Anträge zu stellen; ohne daß diese Anträge im allgemeinen oder die Aussa­gen in Karl-Heinz' Erklärung im beson­deren in der Gruppe umstritten gewesen wären. Außerhalb dieses Rahmens Schritte unternehmen hieß nicht, Teillö­sungen anzustreben, aber die Freilas­sung einer Reihe von Gefangenen hätte die Dinge, als normative Kraft des Fakti­schen, via öffentlichem Bewußtsein in die richtige Bewegungsrichtung stoßen können.

 

„Unsere Seite ist im Recht, die Gegen­ seite im Unrecht."
Aber das Innehaben einer hervorragen­den moralischen Position ist das eine, die Schaffung eines politischen Kräfte­verhältnisses das andere. Nachdem der bewaffnete Kampf keine Option mehr sein konnte, hätte der weitere Weg mei­netwegen so aussehen können, daß die Erklärungen der RAF kritisiert worden wären, aber sie hätten konstruktiv kriti­siert werden müssen. Das Revolutionäre konnte nicht darin bestehen, in den RAF-Erklärungen Schwachstellen aufzu­spüren, das Revolutionäre wäre gewe­sen, an Lösungen für die objektiven bestehenden Probleme zu arbeiten. Das ist sicher härter, mühsamer und oft ris­kant, denn es geht nicht, ohne eigene Entscheidungen an diesem oder jenem Punkt zu treffen. Die Illegalen hatten mit den beiden Strängen, die sie in ihren Texten entwickelt haben - auch wenn viele Fragen offen geblieben sind - grundsätzlich das richtige Gespür: erstens sagen sie, haben sich die äuße­ren, objektiven und globalen Bedingun­gen verändert, zwotens haben wir Feh­ler gemacht. Die gespenstisch substanzlose Debatte des Jahres 1992 über revolutionären Kampf und Refor­mismus, nicht selten von Angeberei geprägt, eine Debatte, der sich einige Gefangene kritiklos angepaßt haben, hat nur nochmal in wirklich schriller Weise die Notwendigkeit deutlich gemacht, daß Revolutionäre zu sich selbst ein kri­tisches Verhältnis haben müssen. Oder wie erklärt sich, daß wir im Deutschland des Jahres 1992 mutig bekennende Revolutionäre wie nie zuvor in 20 Jahren hatten, sich aber so wenig getan hat wie arg lange nicht mehr? Worauf warten diese Leute? Wenn sie doch von der Gewißheit des revolutionären Kampfs dermaßen durchdrungen sind, wenn sie soviele sind, warum tun sie nicht das nächstliegende und nehmen die Dinge in die Hand? Die Richtungsangabe der RAF, sich selbst und die eigene Geschichte kritisch zu reflektieren, war richtig, sie abzuwürgen ein Eigentor. Und sie kamen, diese Erklärungen. Wo es bei der RAF hieß, das objektive hat sich, das subjektive muß sich verändern, hieß es nun: verändert haben sich 1) die äußeren Bedingungen, die globalen, und 2) die innerstaatlichen. Die Fehler und falschen Bewußtseinsinhalte sollten spä­ter diskutiert werden, „und dann richtig". Während einige versucht haben, auf der ausreichenden Grundlage der RAF- Erklärungen vor allem in Richtung Ge­sellschaft aufzubauen, hat ein anderer Teil seine Energie investiert, die Er­klärungen der RAF zu demontieren. Die Endmoräne dieser Entwicklung zeigt sich in einer Reihe gutachterlicher Stel­lungnahmen zu den öffentlichen Äuße­rungen der RAF und einiger Gefangener aus dem Bereich der radikalen Linken. Plus die Mitteilung in Interim und ande­ren breitenwirksamen Blättern, daß die Forderung nach Freilassung unterstützt würde. Das wars dann aber auch. Auf den Punkt gebracht im Hannoveraner Papier, das man so zusammenfassen könnte: wir tun nichts, ergo sind wir ganz radikal. Hier kommt das bis heute unangetastet belassene Front-Denken zu seinem klarsten Ausdruck: „das Wichtig­ste ist, daß du die Politik richtig findest". Und hier ist auf den Kopf gestellt, was bei einer Durcharbeitung unserer Geschichte wiederentdeckt werden könnte für ein revolutionäres Projekt der Zukunft:
"Man ist eine Gruppe von Genossen, die sich entschlossen hat, zu handeln, die Ebene der Lethargie, des Verbalradi­kalismus, der immer gegenstandsloser werdenden Strategiediskussion zu verlas­sen, zu kämpfen. Aber es fehlt noch alles - nicht für alle Mittel; es stellt sich auch jetzt erst heraus, was einer für ein Mensch ist." (Ulrike im Berliner Prozeß 1974)
Wie gesagt: moralisch gut dastehen, ist das eine. Die Schaffung eines politischen Kräfteverhältnisses ein anderes. Mit den Kronzeugenprozessen hat Bonn via Bundesanwaltschaft das Signal kontinu­ierlicher Härte in eine Justiz eingespeist, die dafür mit Sicherheit empfänglich ist - konnte sich diese Justiz doch nie mit dem Gedanken anfreunden, mit dieser oder auch jener Vergangenheit zu bre­chen.

Es gibt jetzt die beiden Wege:
Der eine ist der Blick über Kimme und Korn, die Politik der letzten 22 Jahre, die legitim sein soll. Punkt. Mit dieser Bot­schaft können wir in der Gesellschaft Menschen erreichen. Schätzungsweise Tausend oder Zweitausend. Diese Leute würden tun, was sie im letzten, vorletz­ten und vorvorletzten Jahr getan haben. Im letzten Jahr haben sie eine Demo in Bonn gemacht und eine Reihe von gut­achterlichen Stellungnahmen. An das, was sie in unserem Kontext die beiden Jahre davor getan haben, kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß, daß es viele gibt, die unter dieser Situation leiden und nach Auswegen suchen. Ich spüre das in nicht wenigen Briefen, in denen gedacht und im Nachdenken Entschei­dungen getroffen werden. Es kommen aber auch - seltener - Briefe, die voll heftigster Kritik sind, ohne daß darin die geringste Spur eigener Suche zu ent­decken ist. Wer unter der gegebenen Situation leidet, bei dem kann es gar nicht anders sein, als daß er oder sie sich auf die Socken macht. Und dabei hat sie oder er mit Sicherheit was raus­gekriegt. Und das wird sich niederschla­gen, wo eine/r seine Gedanken auf­schreibt. Wer glaubt, zusammen mit ein paar hundert Leuten, die sich zumeist selbst nicht kennen, die Regierung in Bonn zu einer politischen Entscheidung für eine Gesamtlösung zwingen zu kön­nen, der muß erklären, warum er das glaubt.

Die andere Option. Sie ist erheblich unübersichtlicher als „wir-sie". Sie ist in dem Maß in den letzten Jahren unüber­sichtlich geworden, wie die gesellschaft­liche und politische Situation unüber­sichtlich geworden ist. Die Erfolgsaussichten sind, erstmal jeden­falls, nicht überwältigend. Aber die Suche außerhalb des Ghettos ist die ein­zige, die einen Sinn macht. Insbesondere dann, wenn es nicht allein um eine Perspektive für ein paar Gefangene geht, sondern um eine Perspektive, die etwas mit gesamtgesellschaftlicher Dimension zu tun hat. Langfristig also um die Neubestimmung revolutionärer Politik. Diese Neubestimmung können wir nicht als schnell zusammengeschriebenes Pro­gramm auf den Markt werfen. Um zu einer revolutionären Entwicklung zu kommen, müssen wir eine Menge akku­mulieren. Und diese Akkumulation besteht aus vielen kleinen Schritten und Kämpfen und Auseinandersetzungen, aus vielen in der Praxis gemachten Erfahrungen, aus Lernprozessen in der Auseinandersetzung mit anderen gesell­schaftlichen Bereichen. Solange wir uns, gefesselt im armseligen Verhältnis „wir- sie" befinden, verurteilen wir uns selbst zu Bewegungslosigkeit. Es hat vor allem im Frühjahr Anlässe genug gegeben, uns in Bewegung zu setzen, und gerade wenn eine KGT sich neue Strategien hat einfallen lassen, wäre dies doch noch ein zusätzlicher Grund gewesen, diese Interventionsmöglichkeiten in der öffent­lichen Debatte wahrzunehmen.

Sollten wir in einer solchen Arbeit, in einem solchen Kampf eine neue Grund­lage, eine neue „kritische Masse" schaf­fen, die mit den Prozessen in der Gesell­schaft korrespondiert, dann könnten wir wieder über ein revolutionäres Projekt reden. Dann ist Substanz da, über die wir weiter nachdenken müssen. Bis jetzt ist diese Debatte wirklich nur Placebo.

Auf diesen Artikel gibt es eine Antwort von Zettelknecht in derselben Ausgabe.

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Erschienen in arranca! #3

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