Reden über Klassik

Beethovens Cello-Sonate op.69 – Teil 2

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5. Lebenssituation, politische Umwelt

Was kann das engere und das weitere soziale Umfeld für das Hören der Cello-Sonate beisteuern, die Welt des Alltags und der sozialen Bewegun­gen in Europa, wie sie um 1807 im Gange waren? Prüfen wir das an Hand einiger Äußerungen Beethovens aus die­sem Zeitraum.
Was schreibt ein „heroischer" Mensch zur Zeit der Entstehung der Sonate in seinen Briefen?
Am 26. April schreibt er nach Paris, also ins Zentrum der napoleonischen Macht, einer Macht, welche im Oktober des Vorjahres die Preußen bei Jena und Auerstadt geschlagen und damit endgül­tig die Vorherrschaft in ganz Mitteleu­ropa übernommen hatte. Österreich war bereits seit der Schlacht von Austerlitz 1804 unterjocht, Wien damals von den Franzosen besetzt. Beethoven schreibt nun an Camillo Pleyel, Sohn des Haydn- Schülers Ignaz Pleyel und mit seinem Vater Musikverleger in Paris:
„Mein lieber Camillus; so hieß, wenn ich nicht irre, der Römer, der die bösen Gal­lier von Rom wegjagte. Um diesen Preis möchte ich auch so heißen, wenn ich sie allenthalben vertreiben könnte, wo sie nicht hingehören."
Spätestens seit der ersten Einnahme Wiens 1804 ist Beethoven wie auch alle anderen alten Revolutionsfreunde anti­französisch und deutsch-patriotisch, wenn auch mit republikanischen Zielen. Bonaparte hilft, wie man jetzt bemerkt hat, nicht den deutschen Republikanern, auch wenn er ihre Herrscher besiegt. Man ist als Linker auf verlorenem Posten.
Am 13. Juni 1807 schreibt er an Ignaz von Gleichenstein, seinen badischen Freund, dem er ursprünglich das 4. Kla­vierkonzert widmen wollte, die Wid­mung dann aber auf unsere Cello-Sonate ummünzte. Gleichenstein ist Cellist und in diesen Jahren Beethovens Intimus, dem er alles anvertraut, den er um Schreibfedern bittet und mit dem er im Folgejahr auch berät, ob er den Antrag annehmen soll, Hofkapellmeister bei Bonapartes Bruder Jérôme in Kassel zu werden. Vielleicht war es Gleichenstein, der ihm den Rat gab, diesen Antrag als Hebel für die fürstliche Wiener Pension zu nutzen. Jetzt schreibt Beethoven:
„Lieber Gleichenstein! Die vorgestrige Nacht hatte ich einen Traum, in dem mir vorkam, als seist Du in einem Stalle, worin Du von ein paar prächtigen Pfer­den ganz bezaubert und hingerissen warst, so daß Du alles rund um Dich her vergaßest.
Dein Hutkauf ist schlecht ausgefallen, er hat schon gestern morgen in aller Früh einen Riß gehabt, wie ich hier bin; da er zu viel Geld kostet, um gar so schrecklich angeschmiert zu werden, so mußt Du trachten, daß sie ihn zurücknehmen und Dir einen anderen geben; Du kannst das diesen schlechten Kaufleuten derweil ankündigen, ich schicke ihn Dir wieder zurück - das ist gar zu arg. - Mir geht es heute und gestern sehr schlecht, ich habe erschreckliches Kopf­weh, - der Himmel helfe mir nur hiervon. - Ich habe ja genug mit einem Übel. - Wenn Du kannst, schicke mir Baardts Übersetzung des Tacitus. - Auf ein andermal mehr; ich bin so übel, daß ich nur wenig schreiben kann. - Leb wohl und - denke an meinen Traum und mich. - Dein treuer Beethoven."
Der Brief enthält viel Interessantes.
Einmal verhält sich Beethoven keines­wegs „heroisch", sondern er jammert. Doch er scheint, was das Gehörleiden betrifft, über den Berg zu sein und bereits zu „schwimmen", da er es neben so etwas vergleichsweise Minderes wie ein Kopfweh stellt.
Auffallend ist auch die Selbstverständ­lichkeit, mit der er - wie in anderen Beziehungen auch - die Freunde als Die­ner einspannt. Dies tut er entweder, weil er solches als selbstverständlichen Tribut an seine Größe betrachtet, oder weil er es als Ausgleichshandlung für seine krankheitsbedingte Behinderung erwar­tet, wahrscheinlich aus beiden Gründen zugleich.
Weiterhin ist zu bemerken, daß er sich an Hand der Germania von Tacitus offenbar ein klassisches Fundament für seine neuartige patriotische Identitätssu­che legen will. 1808 erschienen übrigens Fichtes Reden an die deutsche Nation, eines der zentralen Zeugnisse antifranzö­sischer Propaganda. Beethovens wie auch anderer Bezugspunkt sind nun nicht mehr die damals sogenannten Gallo-Franken, sondern die Germanen. Vielleicht hängt das Interesse für Tacitus auch mit einem seiner Opernpläne über antike Stoffe in diesen Jahren zusam­men.
Schließlich ist die Erwähnung und Skiz­zierung eines Traums hervorzuheben. Es dürfte nicht verwundern, wenn. auch nicht allgemeines Gefallen erregen, daß auf Grund einer tiefenpsychologischen Analyse dieses Traums und seiner Sym­bole - Begeisterung über Pferde in einem Stall - und der direkt anschließen­den Erwähnung eines Hutes mit einem Riß sexuelle Bedeutungen hinter dieser Mitteilung vermutet worden sind bis hin zu einer symbolischen Erwähnung eines homoerotischen Verhältnisses der bei­den Freunde. „Denke an meinen Traum und mich", heißt es am Schluß.
Da wir uns in aufgeklärten Zeiten befin­den, erwarte ich im Publikum kein Erstarren über eine solche Exegese, möchte sie aper andererseits - da viel­leicht die Zeiten nicht aufgeklärt genug sind - nicht weiter unterstützen oder dementieren.
Beethoven war Pianist, Gleichenstein Cellist. Ihre Vereinigung mag für unse­ren Zusammenhang innerhalb der Cello-Sonate op. 69 genügen, welche im April 1809 erschien.
Für einen anderen Zusammenhang, der die Freundschaft betrifft, ist die Wid­mung aus dem Jahre 1809 eröffnend (vgl. Briefe 28. 3. und 26. 5. 1809). Zusätzlich zu der gedruckten Widmung („composée et dédidée à Monsieur le Baron de Gleichenstein") hat Beethoven auf das Widmungsexemplar für seinen Freund mit der Hand geschrieben: „Inter lacrimas et luctum", zu deutsch: Unter Tränen und Trauer.
Dieses Motto hat mehrere Bedeutungs- und Hinweiselemente. Rein chronolo­gisch könnte es sich beziehen auf den frühen Tod mit 19 Jahren der von ihm verehrten und mit seinem Freund Step­han von Breuning verheirateten Julie von Vering im März 1809. Allerdings erwähnt Beethoven dies Ereignis in sei­nen Briefen mit keinem Wort. Dagegen sind sie voll von „Anspielungen auf die damalige Kriegslage", welche nach Mei­nung der nickten Beethoven-Forscher Auslöser des lateinischen Mottos ist (Kinsky-Halm).
Denn im gleichen Monat April mar­schierten die Franzosen erneut in Öster­reich ein, um im Mai zum zweitenmale Wien einzunehmen. Bei der Beschie­ßung der Stach soll Beethoven, dem Bericht seines Schülers Ferdinand Ries zufolge, in den Keller geflohen und Kis­sen über seinem Kopf getürmt haben, ein menschliches und vernünftiges Ver­halten, allerdings kein „heroisches“(Leitzmann 1, 86). Beethoven erwähnt den Kampf um Wien in seinen Briefen von 1809 nur knapp, aber deutlich:
„Schreibe mir nur so bald als möglich, ob Du glaubst, daß ich bei den jetzigen kriegerischen Umständen reisen soll. und ob Du noch fest gesonnen bist mitzurei­sen... Nun kannst Du mir helfen eine Frau zu suchen; wenn Du dort in Frei­burg eine schöne findest…, so knüpf im voraus an.“ (An Gleichenstein, 18. 3.)

„Der Himmel gebe nur, daß ich nicht irgend durch ein schreckliches Ereignis wieder auf eine andere Art gestört werde. Doch wer kann sich mit dem gleichzeiti­gen Schicksal so vieler Millionen (un)besorgt finden?...
Die Unsicherheit der Post läßt mich Ihnen fürs erste nichts schicken." (26. 7. an Härtel)

..Ich habe einigemale angefangen, wöchentlich eine kleine Singmusik bei mir zu geben - allein der unselige Krieg stellte alles ein.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und Schöne, so sehr es unser wüstes Zeitalter zuläßt…
Welch zerstörendes, wüstes Leben um mich her, nichts als Trommeln, Kanonen, Menschenelend in aller Art... (26.7. an Härtel)

„Ich erwarte nichts Stetes mehr in diesem Zeitalter; nur in dem blinden Zufall hat man Gewißheit.“ (2. 11. an Härtel)

"Was sagen Sie zu diesem toten Frieden?...
Der fatal durchlebte Sommer. und ein gewisser trauriger Nachhall des gesunke­nen noch einzigen deutschen Landes, zwar nicht ohne Schuld, verfolgt mich immer.“

Bemerkenswert an den Briefen ist u. a., daß Beethoven bis in den April hinein verkündet, er wolle Kassler Hofkapell­meister werden, also Bediensteter von Bonaparte, des Erzfeindes von Öster­reich und des Siegers von Wien. Dies ist die Drohung. die die patriotischen drei Wiener Adligen schließlich dazu brachte, den Vertrag über die Lebensrente abzu­schließen. Man kann sich aber kaum denken, diese Handlungsweise, welche wieder an die frühere Frankophilie und die Widmungspläne mit der Eroica an Bonaparte erinnert, habe in den höheren Wiener Kreisen viel Sympathie für Beethoven geweckt. Das beständige Jammern Beethovens über die Pro­bleme, sich und seine Werke in Wien beliebt zu machen, und das dauerhafte Schimpfen über die Kälte der Wiener ihm gegenüber, dürften neben dem Stil auch andere selbstverschuldete Gründe haben, nämlich das Taktieren und Lavie­ren gegenüber Frankreich, die Tendenz zum Überlaufen zum Feinde bis hin zum Plan eines Umzuges nach Paris, wie er ihn von Mitte 1803 bis Ende 1804 ver­folgte. Das alles wird man ihm verargt und als Nestbeschmutzung angelastet haben.
Wenn der Krieg nun der Hauptgrund für die handschriftliche Bernerkung im Widmungsexemplar sein sollte, so hätte auch genügt zu schreiben: Unter Tränen und Trauer. Warum aber die Einkleidung in das erhöhende Latein, in die Sprache antiken Spruchdichtung? Warum der Aufschwung aus den Niedrigkeiten Gegenwart in die Hochsphäre antiker Größe?
Hierfür kann Beethoven viele Vorbilder gehabt haben. Eines aber, das ihm mit Sicherheit bekannt war und seiner Situa­tion als Deutscher in Not besonders nahe kam, stammt von Friedrich II. von Preußen. Wenn dieser im Alter allzu stark von seiner Gicht geplagt wurde, malte er kleine Bildchen, um sich abzulenken, und versah sie mit der Beischrift: In tormentis, zu deutsch: Unter Qualen.
Auch dies ein lateinischer Hinweis auf die eigene Notsituation auf kleineren, selbstgemachten Kunstwerken.
Es ist offenbar eine historische Anspie­lung Beethovens, ein wenig larmoyant, ein wenig patriotisch, ein wenig selbsterhöhend durch den Vergleichspartner, ein wenig understatement, was die Kleinheit des Objektes betrifft. Ein wenig selbsterhöhend? Weit gefehlt. Denn die Nähe zu Friedrich II. war für Beethoven ganz real, nicht nur weil er sich, was seine Bedeutung betraf, ohnehin unter die ersten Häupter Europas einreihte.
Die Nähe zu Preußen und seinen Köni­gen ist auch noch auf andere Weise in der Cello-Sonate präsent: Denn Beetho­vens Beschäftigung mit der Komposition für Cello begann in Preußen während eines Besuches 1796, als er hoffte eine Anstellung oder wenigstens Aufträge hei König Friedrich Wilhelm II. zu erhalten. Und dieser war als Schüler seines Hofmusikers Duport selbst Cellist. Das einzige, aber bedeutsame Ereignis sind die Sonaten op.5, welche Beethoven dem Monarchen widmete.
Die Verbindung wird aber noch enger. Denn im „heroischen" Jahrzehnt, ab 1810 dann auch manifest in Lexika und Zeit­schriften, wurde behauptet, Beethoven sei der uneheliche Sohn dieses Friedrich Wilhelm II., ja eventuell sogar Friedrich II. Beethoven hat sich trotz Drängens seiner Freunde niemals öffentlich dagegen gewendet, selbst als ihm vorgehalten wurde, er entehre damit das Andenken seiner seligen Mutter ). Er schrieb später dazu (Solomon, 20):
„Ich habe mir aber zum Grundsatz gemacht, nie wieder etwas über mich selbst zu schreiben, noch irgend etwas zu beantworten, was über mich geschrie­ben worden."
Ein großartig klingender Grundsatz, für seinen zweiten Teil allerdings von Beethoven keineswegs stets befolgt!
Inwiefern die politischen Ereignisse der Jahre, als die Cello-Sonate entstand, auf deren Struktur Einfluß genommen haben könnten und damit für uns vielleicht hör­bar geblieben sind als Echo der Erregun­gen Beethovens, ist eine Frage, die im folgenden und letzten Abschnitt meiner Ausführungen behandelt werden soll.

6. Stil

Dieser Abschnitt steht wie kaum einer der vorangegangenen unter der anfangs gestellten Frage, was in der Situation eines Vortrages für interessierte Laien sinnvoll ist und was nicht. Eine Antwort läßt sich bereits geben: Sinnvoll ist nicht, bestimmte Aspekte der Motiv- und Sonatentechnik zu besprechen, deren Verständnis spezialisierte Kennt­nisse voraussetzen und vor allem Notenbeispiele. Derartiges läßt sich zwar erwähnen, aber nicht ausführen, gehört allerdings auch bei Fachleuten zu jenen Disziplinen, die lustvoll und erkenntnisreich sein können, aber auch in jenen Kreisen vom unbefangenen Hören ablenken können. Wir können hier aber zu einem Aspekt übergehen, der mit dem genannten in Verbindung steht. Die Cello-Sonate op. 69 bildet zusammen mit anderen Kammermusikwerken, Kla­viersonaten und dem 5. Klavierkonzert, die alle im gleichen Zeitraum entstanden sind, eine kompositorische Gruppe, eine Einheit, welche sich an der Übereinstim­mung vieler Motive und sonstiger musi­kalischer Elemente zeigt. Vor allen zu den beiden Klaviertrios op. 70, den Kla­viersonaten op. 81a, 78 und 79, dem Streichquartett op. 74 - dem sogenann­ten Harfenquartett - und dem genannten Konzert bestehen enge formale und melodische Verbindungen. Dies ist bei Beethoven kein Sonderfall: Auch bei gleichzeitigen Werken aus anderen Zeiträumen gibt es Anzeichen von Gesamtideen inhaltlicher und damit musikalischer Art, die Beethoven im Laufe von einigen Jahren in Gestalt meh­rerer Stücke unterschiedlicher Gattungen abhandelt, offenbar als verschiedene Auslegung der Reichtümer, die seine Skizzenbücher ihm boten und die in einem Werk allein nicht auszunutzen waren. Der Gesamtgedanke, zeigte so reichhaltige Facetten, daß mehrere Klanggestalten notwendig waren, um ihn zu erschöpfen. Dies Verfahren schließt auch ein, daß jedes Werk einer solchen Gruppe eine bestimmte beson­dere Gefühlsfacette des Gesamtkomple­xes ausbildet, so daß es unmöglich ist sich einzubilden, man könne am Bei­spiel eines dieser Einzelwerke ein Bild des ganzen Beethoven sich vorstellen. Das entspricht den anfangs gemachten Gedanken über die Unmöglichkeit, aus den Berichten über Beethoven ein hördienliches Gesamtbild und Hilfsmittel für die Musik zu gewinnen. Wenn z. B. das 5. Klavierkonzert, das zu unserer Werk­gruppe gehört, teilweise tatsächlich etwas martialisch klingt und dem „hero­ischen" Teil Beethovens recht gut ent­spricht, so ist dies eben nur die eine Seite, während stille und lyrische Stücke wie das „Harfenquartett" op. 74 oder ein eher phantastisches, wechselreiches Stück wie die Cello-Sonate die anderen repräsentieren, ebenfalls nicht tauglich für eine Verallgemeinerung über das Einzelstück hinaus.

Ein Aspekt der Cello-Sonate, der zunächst rein äußerlich wirkt, könnte auf eine Bedeutungsebene der Werkgruppe führen: Die Sonate hat keinen langsamen Satz. Denn das Adagio can­tabile, welches sich dem zweiten schnellen Scherzo-Satz anschließt, dauert nur 17 Takte und entpuppt sich dann als langsame Einleitung des dritten und letz­ten Satzes, eines Allegro molto. Das gibt Anlaß zu mehreren Gedanken.
Beethoven hat damit eine interessante Umkehrung in der Gattungstradition vor­genommen. Ursprünglich war ja der sin­fonische Zyklus dreisätzig: schnell - langsam - schnell. Die Aufnahme eines dritten Satzes, eines Menuett oder Scherzo, ging dann in Sinfonie und Streichquartett schon bei Haydn und Mozart vor sich, noch nicht jedoch in der Sonate und der sonstigen Kammer­musik.
Die ersten Beethovenschen Klaviersona­ten, Klaviertrios und Streichtrios Ende des 18. Jahrhunderts enthalten bereits Menuette bzw. Scherzi und sind viersät­zig, die Sonaten für Klavier und ein Melodieinstrument, z. B. die Violinsona­ten op. 12, jedoch nicht. Sie bleiben dreisätzig ohne Scherzo. Diese Gattung wird also als letzte zum großen, viersät­zigen Zyklus. Erst seit der Violinensonate op. 24, der sog. Frühlingssonate, von 1800 erfolgt die Erweiterung. Dies bleibt jedoch kein Dauermuster. Spätere Violinsonaten sind auch wieder dreisätzig (mal ohne Scherzo, mal ohne langsa­men Satz; op. 30, Nr. 1 und 3; Nr. 2 viersätzig). Wenn allerdings - auch in größeren Gattungen wie Konzerten - von der Viersätzigkeit abgewichen wird, so fehlen meistens die Scherzi zugunsten eines langsamen Mittelsatzes, also so, wie es ursprünglich war, z. B. im 4. und 5. Klavierkonzert oder im Violinkonzert, die zeitlich dicht vor der Cello-Sonate stehen.
Wenn Beethoven also in der Cello- Sonate den langsamen Satz zugunsten des Scherzo fortläßt oder zur Einleitung stutzt, so tut er im Hinblick auf die Gesamtentwicklung etwas Außerge­wöhnliches. Wie sieht es bei den paralle­len Kammermusikwerken und Sonaten der Werkgruppe aus? Die drei Klaviersonaten op. 78, 79 und 81a enthalten kei­nen abgeschlossenen großen langsamen Satz, op. 78 nichts dergleichen, op. 79 ein kurzes Andante, op. 81a zwei langsame Teile, die in schnelle überge­hen. Es ist jene Sonate „Les Adieux", die Beethoven begann, als sein Freund und Schüler Erzherzog Rudolph mit der ganzen kaiserlichen Familie im Mai 1809 vor den heranrückenden Franzosen aus Wien nach Ungarn (Ofen) floh. Das Streichquartett op. 74 sowie das erste Klaviertrio aus op. 70 enthalten abge­schlossene langsame Sätze, das zweite allerdings lediglich ein Allegretto. Je kleiner die Besetzung also, desto gerin­ger wird der Anteil an ausgeführten langsamen Sätzen. Zumindest ist eine Unsicherheit bzw. Abstinenz in dieser Gattungssphäre gegenüber dem langsa­men Tempo zu verzeichnen, Und das ist nicht etwa eine allgemeine Tendenz oder ein Trend in Beethovens Schaffen, da in späteren Werken das ausgedehnte Adagio oder Largo wieder zum Grundbestand aller Zyklen gehört. Es stellt sich die Frage, ob von dieser Tatsache eine begründete Verbindung zur Situation um Beethoven 1807 bis 1809 erlaubt ist, d. h. ob die äußere Unruhe sich im Mangel ausgebreiteter Ruhe in den Werken erkennen lassen darf. Eine solche Hypo­these könnte dann an Wahrscheinlich­keit gewinnen, wenn sich z. B. zeigen ließe, daß Zeiten größerer äußerer Ruhe und Friedfertigkeit auch eine Häufung großer Adagio-Sätze zugelassen haben bzw. von ihnen begleitet sind. Anzei­chen dafür gibt es. Jedoch kann ein sol­cher Zusammenhang hier nur als frei geäußerter Gedanke angedeutet werden und nicht mehr.
Der aufgewiesene Umstand, die fehlen­den Adagio-Sätze betreffend, macht wei­terhin darauf aufmerksam, daß die klei­neren, eher privaten Besetzungen auch eher das Abweichen vom Normalen, vom Formkanon des Zyklus zulassen als die großen, repräsentativen und dem großen Konzertsaal zugedachten Gattungen wie Sinfonie und Konzert. (Kam­mermusik wurde ja nicht öffentlich im Konzert gespielt. Öffentliche Streichquar­tett-Abende waren eine Neuerung, aber auch nur in großen Städten wie Leipzig oder Wien.) Das bedeutet auch: Nicht so sehr diese großen Gattungen, sondern eher die kleineren der Kammermusik, vor allem die Sonate, sind Keimzelle formaler Ungewöhnlichkeiten und Abwei­chungen, scheinen Grund ihrer auf­führungsbedingten Zurückgezogenheit eher Sonderwege ermöglicht zu haben. Dies gilt auch für einen weiteren Aspekt, nämlich den instrumententechnischen. Das Stück ist für das Cello ein ausge­sprochen schweres Stück. Wie Beetho­ven ohnehin seit den Sonaten op. 5 für den preußischen König einer der Pio­niere der neueren, die Instrumente gleichberechtigt behandelnden Litera­tur für Cello und Klavier ist, so hat er in op. 69 das Cello als Soloinstrument mit neuartigen und schwierigen Aufgaben, bedacht, welche das Instrument endgültig als vollwertige Stimme der hohen Kunstmusik z.B. neben die Violine stellen. Daß solche Emanzipationsprozesse einzelner Instrumente Iange Zeit brauchen, Sprünge vollführen und auch nach offensichtlichen Erfolgen nicht immer ganz abgeschlossen sind, kann man an der Geschichte des Stiefkindes der Geigenfamilie, der Bratsche, auch heute noch ablesen.

Die Sonate enthält im Sinne technischer Schwierigkeiten nichts Neues. Selbst die in hohem Tempo zu spielenden Akkordzerlegungen, in der Mitte des ersten Satzes sind ganz ähnlich schon in op. 5 Nr. 2 vorhanden. Man kennt solche Streicherakkordig auch bereits aus Bachs Solomusik, jedoch hat sie bei Beethoven nicht mehr wie dort die Aufgabe, Mehrstimmigkeiten zu suggerieren bzw. solche aufgespalten darzustellen, sondern sie ist nun eher als Übernahme einer pianistischen Begleitfigur auf das Cello zu verstehen und dient so der stilistischen Integration beider Instrumente. aber das ist noch nicht alles. Denn das Cello ersetzt an dieser Stelle nicht etwa die linke Hand des Klaviers, sondern das Klavier hat in der rechten Hand ebenfalls schnelle Figuren, während der Klavierbaß in melodischer Linie absteigt. Rechte Hand und Cello erzeugen gemeinsam eine neuartige Klangfarbe, eine oszillie­rende Mischung schneller Bewegungen. Der orchestrale Ursprung dieses Gedan­kens ist deutlich. Wie im Gewitter-Satz der zeitlich benachbarten Pastoral-Sinfo­nie sind es stehende, aber in sich be­wegte Klänge mehrerer Instrumente, die über dem Baßabstieg liegen. Eine orche­strale Idee ist hier auf zwei Soloinstru­mente übertragen. Hauptabsicht ist die Erzeugung eines Akkordgefüges in neuartiger Mischfarbe.
Nicht also die spieltechnischen Einzel­heiten sind neuartig, sondern deren Ein­satz und Funktion. Das ist es, was das Spiel der Sonate so schwer macht. Man muß Beethovens klangliche Absichten erraten, die mit der Kombination der technischen Mittel beabsichtigt ist. Das gilt auch für andere Details. Beispielsweise: Was soll man sich im ersten Satz und bei Beginn und gegen Ende des Schlußsatzes vorstellen, wenn das Cello eine seiner vielen innerhalb der Geigenfamilie einzigartigen Möglichkeiten vor­führt und aus der hohen und mittleren Melodieregion in die Tiefe stürzt, um dort lange Töne zu spielen, wahrend das Klavier in die. Hochlage wandert. Spielt da das Cello noch im Sinne des alten Generalbaß den Baß für den Gesamtsatz, oder spielt es eben in dieser Tief­lage lange Melodietöne? Oder etwa bei­des zugleich? Das würde die Sache für die Spielenden auch nicht einfacher machen. Schließlich sind die Zeiten längst vorbei, da das Klavier an solchen Stellen hauptsächlich Begleitfunktion hatte oder andersherum Klaviersonaten geschrieben wurde „avec accompagnement d‘un violoncelle".
Ähnlich ist es im Trio des Scherzos: Das Cello spielt 32 Takte lang eine fast immer gleiche Tonwechselfigur auf unterschiedlichen Tonstufen und wan­dert dabei eineinhalb Oktaven in die Tiefe. Solche Folgen haben alle, die Cello spielen, als Etuden oder techni­sche Übungen von jungauf geübt haben sie inzwischen „drauf“. Was aber sollen sie hier damit anfangen, wie hier diese Allerweltstechnik anwenden? Beethoven gibt wenig Hinweise. Das Klavier setzt einige Einwürfe, dann Melodiesatz dazu. Spielt das Cello Begleitung oder die heimliche Hauptstimme, sozusagen die innere Hauptstimme, sozusagen die innere Leitlinie der Passage? Man muß sich entscheiden, denn sonst kann man keine charakteristischen Gedanken für die technische Umsetzung entwickeln, und die Cellostimme bleibt an dieser Stelle leblos.
Fazit: Das Violoncello ist voll emanzi­piert neben Instrumenten wie Geige, wird instrumentenspezifisch behandelt, kann also nicht wie in älterer, aber auch noch zeitgenössischer Praxis um 1800 durch ein anderes Instrument ersetzt werden, z.B. eine Oktave höher, und es kann nun in einen gleichberechtigten Dialog eintreten mit dem Klavier inner­halb der Sonate nach einem Prozeß, der in größeren Besetzungen wie dem Streichquartett bereits abgeschlossen war. Noch ein Zusatz, der auf den Beginn des Vortrages zurückweist: Die teilweise großen Schwierigkeiten, die das Cellospiel hier zu bewältigen hat, sind nicht etwa, wie ein verbreitetes Beethovenbild es gerne möchte, in einer titanenhaften Rücksichtslosigkeit ge­genüber den Musizierenden niederge­schrieben worden. Vielleicht hat Beetho­ven im Alter, als er gar nichts mehr hörte, solche Züge entwickelt. Ausgerechnet in der „heroischen" Periode, der diese Sonate angehört, verhielt er sich aber niemals so. Vielmehr hat er Neue­rungen und Experimente für bestimmte Instrumente stets mit den Wiener Virtuo­sen besprochen und ausprobiert und hatte für fast alle Instrumente die ersten Kräfte der Stadt als Gespräch­spartner. Für das Cello war das Anton Kraft, der im Orchester des Beethoven-Mäzens Fürst Lobkowitz saß und auch in den Streichquartetten, die Beethovens Werke uraufführten. Der enge Kontakt mit ihm ist eine der Grundlagen für die streicherhaften Neuerungen der Sonate. Dieser Zug Beethovens zur Gemeinsam­keit und zum fachlichen Austausch erin­nert daran, daß er im Unterschied zu vielen anderen Komponisten der Zeit nicht als Autodidakt aufwuchs wie etwa Bach oder als einsamer Instrumentalsolist wie Clementi und sich auf dieser Basis ausbildete, sonders daß er in Bonn lange Jahre Orchestermuiker war als Cembalist, Organist und Bratschist und darüberhinaus eine gründliche Ausbil­dung als Komponist bei den Bonner und Wiener Koryphäen in dieser Disziplin machte mit Hausaufgaben, Kritik, guten Beispielen und Vorspiel. Vielleicht ist er einer der wenigen großen Komponisten 18. und 19. Jahrhunderts, die sozu­sagen von der Pike auf gründlich lern­ten, sich also auch von daher schon einfügten und Rücksichten nahmen, die Probleme anderer Musiker kannten und respektierten. Nicht der „heroische“ Sonderling mit dem Kopf durch die Wand, sondern prüfen, ausprobieren, abwägen, diskutieren, eventuell sogar ratlos sein, zweifeln.
Dies führt mich auf eine Abschlußbemerkung, die zugleich den Anstoß gibt für eine letzte Höraufgabe an sie bei der gleich zu vernehmenden Sonate für Cello und Klavier op. 69.
Wir sind daran gewöhnt, daß ältere Musikstücke in sich gerundet sind, einen Gefühlsausgleich schaffen und ein harmonisches, ja insgesamt positives Ganzes abzugeben.
Sicherlich gibt es Ausnahmen: So kann man wohl kaum behaupten, daß die Incoronazione di Poppea von Monteverdi in diese Richtung paßt, denn sie ist wahrlich ein frühes Beispiel des Verismo mit all den darin ungeschminkt erzählten Schrecken. Aber insgesamt ist die Tendenz zum Harmonischen unverkennbar. Auch Mozart vertrat noch die Meinung, Musikwerke sollten nicht von Verzweiflung und Unausgeglichenheit bestimmt sein, sondern in sich ausgewogen. Bezeichnend ist sein Umgang mit Goethes Originaltext in dem berühmten Lied Das Veilchen KV 476. Goethe läßt den Text enden: Und sterb ich denn, so sterb ich doch durch sie zu ihren Füßen doch. Mozart setzt von sich aus hinzu, in dem er auf Elemente des Liedbeginns zurückgreift: Das arme Veilchen! Es war ein herziges Veilchen. Zugleich eine Distanzierung und eine Harmonisierung! Beethoven bricht mit dieser Übereinkunft. Manche Werke lassen die Hörenden ratlos und düster, ja betroffen oder traurig zurück. Ob dies so ist, weil Beethoven in seinen Kompositionen sozusagen dazu stand, daß auch er im Leben häufig ratlos und traurig war und blieb, kann man im Sinne der anfangs geäußerten Bedenken zur Übertragbarkeit von Lebenssituationen aufs Komponieren kaum annehmen. Es scheint ihm mehr um ein Prinzip gegangen zu sein, nämlich um die öffentliche Darstellung von Realitäten, also auch von Häßlichem, wenig Tröstlichem, überhaupt von den Widersprüchen und Unlösbarkeiten, die bestehen. In der älteren Kunst wurden diese ja meist verschwiegen oder aufgewogen. In unserer Sonate sehe ich einen solchen Punkt des Zweifels im Abbruch des langsamen Satzes. Man kennt ja diese typischen Adagio-Anfänge und hat sich nun einige Takte darauf einstellen können, daß ein längerer Satzzusammenhang dieser Art fortbestehen wird. Dann endet der Satz jedoch schnell und geht ins Rondo über. Das war im Grunde keine langsame Einleitung zum Rondo, sondern es war vom Stil her tatsächlich der Beginn eines eigenständigen Adagio-Satzes, aber eben nur ein Beginn. Eine auf das Rondo hinweisende Einleitung hätte Beethoven anders komponiert. Die Waldstein-Sonate ist ein Beispiel der Alternative: Beethoven läßt den bereits komponierten langsamen Satz weg und ersetzt ihn durch eine echte langsame Einleitung zum schnellen Schlußsatz. In der Cellosonate verfährt er anders: Er glättet den Widerspruch nicht durch Ersetztn, sondern führt den Versuch vor und dann den Abbruch. Das ist kein Betrug am Hören sondern die Darstellung einer Unentschiedenheit. Etwas, das sonst einer Zwischenfassung von Komposition entspricht, dann aber mit der Entwicklung zur Schlußfassung ausgeschieden wird, ist zu hören. Ich meine, Beethoven habe hier etwas veröffentlicht, was man zuvor in der Kunst kaum je zum Thema machte: Zweifel. Vielleicht ist die Kunst der Fuge ein früher Ansatz dazu, aber sicherlich bei der Veröffentlichung nach Bachs tot gegen dessen Willen. Beethoven hat dergleichen auch später noch veröffentlicht: Er hat sich nie entschieden, ob das Streicherquartett op.130 nun mit der großen Fuge op.133 oder mit dem Ersatz-Rondo enden solle, hat damit seine eigene Unentschiedenheit auf die Nachwelt übertragen, die s sich aber leicht gemacht hat und nun – wohl aus Gründen der Konzertökonomie – meistens oder fast immer das Rondo wählt, um die Große Fuge separat zu spielen. Hier in op.69 ist der Zweifel einkomponiert. Soll man ausruhen? Man macht einen Ansatz und – nein, es geht doch nicht, schnell ab ins Schlußrondo! Das ist ein gewaltiger Sprung in der Geschichte des Komponierens, und zwar in dem Sinne, daß allbekannte, wenn auch unangenehme Prozesse im Leben und in den äußeren Verhältnissen ohne Schminke abgebildet werden. Goya kann man als Vergleichsgestalt nennen. Beethovens Sprengkraft liegt offenbar u.a. darin, daß er dieses Prinzip des Realismus durchsetzte, und in dieser Hinsicht hatte Wagner wohl ganz Recht, sich als Erben Beethovens zu betrachten. Beethoven ist in diesem Zusammenhang nicht der absolute Pionier, sondern er setzte auf musikalischem Gebiet durch, was die führenden Köpfe der bürgerlichen Bewegung als wichtigem Inhalt des neuen Fortschritts formulierten und forderten, und zwar im Interesse der Meinungsfreiheit, das ist auch: der öffentlichen geäußerten freien Meinung. Einer von Beethovens Lieblingsautoren seit der Bonner Zeit, vielleicht der wichtigste deutsche Philosoph des frühen Bürgertums, Immanuel Kant, schreibt in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 (Erstausgaben A 752, B780):
„Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden. Dies liegt schon in dem ursprünglichem Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat; und, da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß, so ist ein solches Recht heilig, und darf nicht geschmälert werden.“

Zum einen zeigt unsere heutige Realität wohl, daß wir noch keinesfalls die Forderungen Kants und Beethovens eingelöst haben, daß also, falls die bürgerliche Gesellschaft überhaupt die Möglichkeit zu einer grundsätzlichen Verbesserung in sich trägt, wir in diesem Punkt keinesfalls so sehr viel weiter sind als von 200 Jahren.
Zum anderen kann ich sie mit diesem Zitat in das Konzert entlassen und ihnen die Aufgabe nicht ersparen, sich zu fragen, ob die Forderungen aus dem frühen Bürgertum, wie sie etwa in der Sonate als Zweifel formuliert sind, inzwischen nicht derart zu Beispielen der Harmonier und des einfach „Schönen“ abgeflacht und abgestumpft sind, daß wir tatsächlich wesentliche Inhalte und Aussagen, die in dieser Musik stecken, überhaupt nicht mehr empfinden, nicht mehr verstehen und als solche wahrnehmen.

Der erste Teil des Vortrages ist in der arranca! Nr. 2 zu lesen.

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Erschienen in arranca! #3

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