Eigentlich sollte ein Vortrag über ein Musikstück nach dessen Erklingen gehalten werden, nicht aber vorher, damit sich die innere Produktion der Hörenden ohne andere Einflüsse als die Musik entwickeln kann, nicht durch Analytisches, Biographisches oder Anekdotisches vorgeformt, verborgen oder gehemmt wird. So jedenfalls könnte man denken.
Das jedoch ist der Gedanke, der der Musik eine Sonderstellung unter den Künsten zuweist, eine Sonderstellung, die abweicht von den Verhältnissen in anderen Künsten.
Selbstverständlich wüßte man gern schon vor der Betrachtung einer Kathedrale, was die beiden Engel über dem Altar oder ein pflanzliches Bildsymbol an der Wand bedeuten oder ob sich die Maße von Langhaus und Querschiff im Verhältnis des Goldenen Schnittes zueinander verhalten.
Und selbstverständlich wüßte man gern schon vor dem Anhören von Lessings Nathan dem Weisen, was ein bestimmtes, heute nicht mehr gebräuchliches Wort darin bedeutet und wie es mit dem Antisemitismus in Preußen und in Hamburg zur damaligen Zeit stand. Aber bei Musik?