Stadtguerilla, Fokismus und bewaffneter Kampf

Interview mit Eleuterio Fernandez Huidobro, Uruguay

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El poder no se conquista, se construye - (Die Macht wird nicht erobert, sie wird aufgebaut)

Frage: Du hast vor 2 Jahren dem ak ein Interview gegeben, -übrigens ein sehr interessantes Interview-, in dem du meintest, der bewaffnete Kampf in Uru­guay sei vor allem eine Reaktion gewe­sen. Ihr hättet Euch auf die Verschärfung der Verhältnisse, auf die militärischen Schläge der Oberschicht vorbereitet, aber diese Verschärfung nicht selbst betrieben. Mich hat das ziemlich über­rascht. Die vorherrschende Idee der Lin­ken damals in Lateinamerika war ja die des „Fokismus"1, d.h. man legt einen Brandherd, einen foco, dieser schafft Bewußtsein, das Feuer breitet sich aus. Im Klartext bedeutete das, einige Linke nahmen Waffen in die Hand, bauten eine Guerilla auf und versuchten so mehr Menschen von der Notwendigkeit der Veränderung zu überzeugen. So wie du das in dem Interview dargestellt hast, hörte sich das an, als ob Ihr mit diesen Vorstellungen nicht viel gemein hattet...
Antwort: Der Foquismo war zu dieser Zeit in Uruguay und ganz Lateinamerika als Konzept noch nicht entwickelt, das begann erst später...

Frage:...von welchen Jahren redest du?...
A: 1961, 62... die cubanische Revolution hatte gerade erst gesiegt. Damals gab es in Uruguay den faschistischen Terror gegen die Massenbewegung, vor allem gegen die StudentInnen, und ständige Putschgerüchte. 1964 kam die Militär­junta in Brasilien an die Macht, was auf uns starken Einfluß ausübte. Unsere Hal­tung demgegenüber war defensiv, es gab noch kein ausgearbeitetes Konzept. Wir gehörten fast alle linken Gruppen, den Gewerkschaften oder der StudentInnenbewegung an. Das ideologische Gerüst des Foquismo entstand erst später mit Regis Debray's2 „Revolution in der Revolution". Das war nicht einfach ein Diskussionsbeitrag, es war eine Dok­trin und ein praktischer Beitrag, denn das fokistische Konzept wurde nicht nur diskutiert, es wurde umgesetzt. Deutlich später, zur Zeit, als Che in Bolivien 1967 starb...

Frage: ...aber es bildeten sich schon ab 1964 zahlreiche Guerillas auf dem ameri­kanischen Kontinent...
A: Gut, aber noch nicht als Ausdruck der fokistischen Doktrin. Es ist auch schwer, einen genauen Termin zu bestimmen. Der Fokismus bildete sich eigentlich in der Praxis heraus, Debray's Buch brachte das noch einmal in eine schriftliche Form, aber im Grunde genommen hat der Fokismus eine län­gere Entstehungsgeschichte.
Das Buch Debrays war unbestritten sehr wichtig, es wurde überall in Lateiname­rika gelesen und beeinflußte auch die MLN. Dieser Einfluß beschränkte sich nicht auf den bewaffneten Kampf, son­dern wirkte sich auf die Sichtweise eigentlich aller politischen Fragen aus. Das hatte z.B. seine gravierenden Konse­quenzen in der Gewerkschaftsarbeit.
Für mich ist der Fokismus eine Verschär­fung und Übertreibung des Avantgardis­mus. Er enthielt eigentlich keine neuen Elemente, sondern führte die leninisti­sche Theorie der politischen Avantgarde auf die Spitze.

Frage: Glaubst du nicht, daß der Fokis­mus durchaus positive Aspekte hatte? Daß er nämlich in verschiedenen .Län­dern Lateinamerikas und auch Europas, z.B. im Baskenland, tatsächlich viele Leute mobilisierte, Bewußtsein schuf?...
A: Aber wo? In den Ländern, in denen es bereits Bedingungen gab. Ansonsten beweist Lateinamerika eher das Gegen­teil: nämlich das Scheitern unglaublich vieler Guerillagruppen. Sie starben völlig isoliert in den Bergen, ohne daß sich die Massen dafür auch nur ein bißchen interessiert hätten.
Es gab Ausnahmen. Über das Basken­land weiß ich zu wenig, aber Uruguay war auf jeden Fall eine Ausnahme. Die Guerilla half einer Massenbewegung auf den Weg. Die Voraussetzung aber dafür war, daß die Guerilla auf der Grundlage existierender Bewegung entstand. Es hatte vorher entscheidende Erfahrungen gegeben, Siege wie Niederlagen. Die Guerilla erlangte nicht dadurch Bedeu­tung, daß ihre Aktionen so durchschla­gend waren, sondern dadurch, daß ihre Aktionen das Gefühl vieler Menschen ausdrückte, interpretierte.
In anderen Ländern war die Guerilla eine Tragödie. Das Konzept des Foco wurde mechanisch angewendet. 25 Leute trafen sich in einem Raum und entschieden sich, in die Berge zu gehen, ohne daß das die Bevölkerung auch nur einen Dreck interessiert hätte. Und so war es auch bei Che in Bolivien. Während er im Urwald starb, waren die Minen im Hochland der eigentliche Kon­fliktpunkt. Dort spielten sich die Kämpfe ab, traditionell gewerkschaftliche und keine fokistischen. Zwischen diesen Arbeitskämpfen und Che's Guerilla gab es aber keine echte Verbindung.

Frage: Es ist nur schwer vorauszusehen, ob die Bedingungen gegeben sind oder nicht, das stellt man meistens erst in der Praxis fest. Fidel Castro hielt man 1956 bei seiner Landung auf Cuba für einen verrückten Abenteurer, wenn man ihn überhaupt zur Kenntnis nahm. Viele lat­einamerikanische Linke waren ja auch ehrlich überzeugt, daß die Bedingungen mehr als reif waren: die Armut war groß, der Imperialismus wurde in breiten Tei­len der Bevölkerung abgelehnt, es gab Studentenbewegungen, die ganze dritte Welt rebellierte...
A: Ja natürlich. Die Politik ist nicht allein Wissenschaft, sie ist vor allem eine Kunst. Soziologische und ökonomische Daten reichen nicht aus, um eine Situa­tion zu bestimmen. Sonst müßte es in Indien oder ähnlich verarmten Ländern hervorragende Bedingungen für eine Revolution geben. Das heißt: die objektiven Bedingungen müssen berücksichtigt werden, aber sie richtig einzuschätzen, das ist eine Kunst, auch eine Sache der Intuition.

Frage: Der Gefangene aus der RAF, Lutz Taufer, hat in einem Text geschrieben, die Logik der militärischen Auseinander­setzung habe die bewaffneten Organisa­tionen fast zwangsläufig zu einer Menta­lität des Duells geführt. Man habe nur noch sich und den Gegner gesehen, alle anderen politischen Kräfte seien damit aus dem Blickfeld verschwunden. Er vertritt, daß die Trennung des bewaffne­ten Kampfs von Bewegungen damit zu tun habe.
Das hat auch sein ideologisches Funda­ment: schließlich galt der Krieg nach Mao als „die entwickeltste Form des Klassenkampfs". Die Eskalation mußte also weiter vorangetrieben werden, auch wenn dies den Interessen der politi­schen Kämpfe überhaupt nicht ent­sprach.
A: Ja, ich glaube, daß diese Vision —daß der Kampf um jeden Preis eskalieren muß - die Linke eingenommen hat. Das hat nicht nur den bewaffneten Kampf betroffen, es hat auch bei den gewerk­schaftlichen Auseinandersetzungen, in der Massenbewegung zu einer anderen, negativen politischen Perspektive geführt.
Ich habe dazu ein Diskussionspapier geschrieben, aus dem ich dir gerne zitie­ren würden:

„Veränderungen, Revolu­tionen sind keine Werte an und für sich. Sie haben nur dann Sinn, wenn sie höhere Ziele verfolgen. Verände­rungen werden bestimmt von den Mitteln, die angewandt werden, um ein Ziel zu erreichen, ansonsten wür­den sie keinen Sinn machen oder ein­fach nur regressiv sein. Das ist offensichtlich, hat aber wichtige Auswirkungen: das Ziel rechtfertigt nicht die Mittel, auf der anderen Seite aber darf man auch nicht der Ideologie verfallen, daß die Mittel wichtiger sind als die Ziele. Die Ver­änderung um der Veränderung wil­len, die Konfrontation um der Kon­frontation willen, unabhängig von den Ergebnissen, kann nur ein Ergebnis bringen: das Desaster. Mit­tel und Ziele werden so diskreditiert. Die Eröffnung von mehr oder weni­ger gewalttätigen Konfrontationen steht im Zusammenhang mit der theoretischen Vorausschau und der wissenschaftlichen Analyse, aber eben auch mit dem Willen des Feindes.
Das Problem der Konfrontation darf sich deswegen nicht als Frage der Prinzipien stellen. Wenn eine Diskus­sion frei von Apriorismen3 ist, ent­deckt man, daß das vermeintliche Dilemma selbst dann nicht existiert, wenn tiefe Meinungsverschiedenheiten vorhanden sind. Wenn dagegen der Dogmatismus Apriorismen auf­zwingt, dann fällt man unvermeidbar in zwei metaphysische Haltungen:
a) Man sucht den Bruch oder die Konfrontation, koste es, was es wolle; die Konsequenz davon ist der Putsch, das Abenteuer oder der Avantgardismus.
b) Man umgeht die Konfrontation um jeden Preis; die Konsequenz davon: man wird weich oder wählt schlicht und einfach den Verrat."

Ich weiß nicht, ob ich dir damit deine Frage beantworte. Aber sowohl beim bewaffneten Kampf als auch in der gewerkschaflichten Konfrontation, beim Kampf gegen Faschismus oder Rassismus führt die Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung willen zu den ebengenannten Ergebnissen: zum Avantgardismus, zum Abenteuer, zur Isolation von den Leuten. Das schlimm­ste ist aber, Kampfformen zu diskredi­tieren. Wenn sie wirklich notwendig ist, werden die Leute sie nicht mehr akzep­tieren, weil sie bisher nur zu Niederla­gen geführt hat.
Das ist ein Teil der unserer Erfahrungen. Es gab genug Genossinnen bei uns, die gesagt haben: „Es ist genug geredet worden, wir müssen jetzt endlich die Konfrontation führen, das ist das einzig wichtige, nur das erzeugt Bewußtsein". Sie haben die Konse­quenzen hiervon nicht in ihre Analyse mit einbezogen. Sie haben keinen Gedanken daran verschwendet, ob es möglich war, zu siegen. Entscheidend war für sie, die Konfrontation zu begin­nen.
Du weißt, was passiert ist, wir haben die Konfronation geführt, wir waren sehr gut darin, und wir haben verloren. Die Leute aber blieben unbeteiligte Zuschauer, mehr noch: sie haben gese­hen, daß die Konfrontation nichts taugt und damit sind sie zur anderen Seite übergelaufen.
Ich glaube, daß in vielen Ländern Lat­einamerikas genau das mit dem bewaff­neten Kampf erreicht wurde. In Brasilien gab es 46 Guerillas, alle sind besiegt worden. Es ist ein Moment eingetreten, wo dir die Leute gesagt haben: „geh scheißen", wenn du ihnen mit dem bewaffneten Kampf kamst. „Das bringt nix" haben sie dir gesagt, Leute aus dem Volk. Und dieser Effekt ist eingetreten, weil die Kampfform „bewaffneter Kampf" schlecht und mechanisch einge­setzt wurde.

Frage: Was du ansprichst, ist zum Teil jedoch auch unvermeidbar gewesen. Die Niederlage hatte nicht nur mit Feh­lern zu tun, sondern auch mit der Stärke des Gegners. Rossana Rossanda hat ein­mal gesagt „Du kannst den Revolu­tionären nicht vorwerfen, die Revolution zu machen". Genausowenig kannst du ihnen vorwerfen, wenn sie handeln, weil eine bestimmte Situation eingetre­ten ist, z.B. weil niemand mehr etwas von Wahlen und legalem Engagement hält. Sie müssen handeln- selbst dann, wenn die Niederlage absehbar ist.
A: Natürlich. Ich sage das ja auch nicht von außen, wir reden beide von einem revolutionären Standpunkt aus. Mir geht es darum, die Fehler, die wir gemacht haben, aufzuarbeiten und Konsequen­zen zu ziehen. Wir sind geschlagen worden, und unser Fehler war nicht der bewaffnete Kampf, sondern die Art und Weise, wie wir ihn geführt haben.
Unsere Fehler waren militärischer Art. Einer davon war das, was ich gerade erzählt habe, daß GenossInnen Aktionen durchführen wollten, einfach nur um Aktionen zu machen. D.h. es gab keine vorhergehende Analyse, wozu sie dien­ten, und welche konkreten politischen Ergebnisse damit erreicht werden soll­ten. Die Logik, die dahinter steht, war einfach nur: „umso mehr militärische Aktionen es gibt, um so mehr Massenbewußtsein und Klassenkampf entsteht".
Und das ist einfach nicht so.

Frage: Welche Aktion von euch oder heute von anderen Organisationen wäre in dem von dir geforderten Sinne wirk­lich für die Entwicklung von Kämpfen positiv?
A: Ganz allgemein sind das die bewaff­neten Aktionen, die Massenbewegungen begleiten. Zum Beispiel die erste Ent­führung von Rodriguez. Sie wurde als der Höhepunkt eines Kampfs vorbereitet und realisiert, den die StudentInnen und die ArbeiterInnen, und nicht wir geführt hatten. Wir waren nicht Avantgarde, sondern Rückhalt der Bewegung. Die Avantgarde, diejenigen, die auf der Straße die härteste Konfrontation führ­ten, das waren die StudentInnen, nicht wir.
Das gelungene an dieser Aktion war, daß die Leute auf der Straße das Gefühl hatten, die Aktion habe ihre Vorstellun­gen und Wünsche in die Realität umge­setzt. Es war ihre Aktion.
Das Entstehen des bewaffneten Kampfs in einem Land muß Hand in Hand mit der Wahrnehmung der Bevölkerung gehen. Sie muß sehen, daß bestimmte Wege verbraucht sind, daß es neuer Konzepte bedarf. Dann können bewaff­nete Aktionen tatsächlich Bewegungen dynamisieren.
Nichtsdestotrotz kannst du aber auch unter solchen politischen Bedingungen scheitern und isoliert bleiben.

Frage: Siehst du heute eine Guerilla in Lateinamerika, die aus dieser Selbstkritik gelernt hätte?
A: Die Erfahrungen des bewaffneten Kampfs in den 60er und 70er Jahren im Cono Sur (Argentinien, Chile, Uruguay) haben meiner Ansicht nach dazu beigetragen, daß die nicaraguanische Revolu­tion stattfand. Die Compañeros in Nica­ragua haben ähnliche Niederlagen erlebt wie wir. Aber nur weil sie aus diesen Niederlagen lernten, sind sie in ihrer Praxis zum bewaffneten Aufstand über­gegangen.
Das hatte nichts mit Debray, Cuba oder Mao-Tse Tung zu tun. Das war ganz ein­fach nur nicaraguanisch, eine Anpassung an konkrete historische und lokale Bedingungen. Danach haben auch die Salvadoreños das Konzept des bewaff­neten Kampfs von Grund auf erneuert. Sie hatten in den 70ern mit einer Form der Stadtguerilla begonnen, die in man­cher Hinsicht an unseren Erfahrungen angelehnt war. Sie gingen davon aus, daß in dem kleinen El Salvador eine ländliche Guerilla nur schwer möglich sei. Mit der Zeit allerdings gingen sie zu Konzepten über, von denen ich nicht wüßte, wie ich sie beschreiben soll. Sie entstanden aus den konkreten Erfahrun­gen nach dem Scheitern des Aufstandes im Januar 1981.

Frage: So neu finde ich das nicht. Die salvadorenische Guerilla besaß mit den ländlichen Rückzugsgebieten durchaus Ähnlichkeit mit der chinesischen Gue­rilla in den 30er und 40er Jahren...
A: Aber in China gab es riesige Gebiete, in die das Militär niemals kam. Außer­dem gab es eine Grenze zur Sowjet­union. In El Salvador behauptete sich eine Landguerilla, obwohl der ganze Staat nur 300 km lang und 100 km breit ist und die USA insgesamt 6 Milliarden Dollar in den Krieg dort investierten. Das ist einzigartig, das hat mit fokistischen Modellen oder mit dem cubani­schen Vorbild nichts zu tun.

Frage: Hältst du die Guerilla heute für einen politischen Faktor in Lateiname­rika? Ich meine, es wird zwar viel von den Demobilisierungen4 geredet, aber andererseits entstehen neue Bewegun­gen: in Venezuela gibt es eine Guerilla, die eng mit den fortschrittlichen Teilen der Militärs verbunden ist, in Ecuador ist etwas Neues am Entstehen, in Kolum­bien wächst der Einfluß der Guerilla...
A: Na ja, wenn man die Situation mit früher vergleicht, ist offensichtlich, daß die Bedeutung der Guerilla abgenom­men hat. Es stimmt, daß sich in Ländern wie Kolumbien die Guerilla gehalten hat, aber ich weiß ehrlich gesagt wenig über die Situation dort. Venezuela halte ich für etwas ganz neues, für eine ausgesprochen interessante Entwicklung. Aber ich glaube insgesamt, daß wir unseren Kopf offen halten müssen für neue Verhältnisse und neue Schemen. Es hat sich vieles geändert...

Frage: Was meinst du?...
A: In Uruguay und Brasilien ist die Linke zu einer Massenbewegung geworden, das war sie weder in der 60ern noch in der 70ern. Wir waren damals ein paar Gruppen, in Brasilien gab es praktisch gar keine Linke, heute sind es Millionen von organisierten GenossInnen.
Das führt zu anderen Bedingungen. Wenn du früher mit deinem Grüppchen eine Guerilla aufgebaut hast, hatten die Militärs niemanden, den sie treffen konnten, sie mußten dich suchen, und sie sind dabei verrückt geworden.
In den Jahrzehnten dazwischen haben sie gelernt, nicht dich zu schlagen, son­dern dein Umfeld. Ich könnte vielleicht eine Stadtguerillagruppe in Uruguay auf­bauen, mit falschen Papieren, guten Ver­stecken würden wir uns wahrscheinlich jahrelang bewegen können, ohne geschnappt zu werden. Aber was wür­den sie machen? Sie haben das schon angekündigt, sie würden die legale Linke angreifen, Zehntausende von Opfern würden sie uns zufügen, ohne die Guerilla zu treffen.
In Argentinien haben sie 30.000 Men­schen umgebracht, nicht nur Unterstüt­zer von illegalen Organisationen, son­dern Leute, die einfach nur Sympathie mit der Linken hatten.
Deswegen mußt du, wenn du heute von bewaffnetem Kampf redest, von anderen Größen ausgehen. Du kannst nicht mehr an Guerillagruppen denken, sondern an bewaffnete Massen. Wir müssen an Spa­nien 1936-38 denken, nicht mehr an den Che in Bolivien, der mit 25 Leuten und einem Eselchen die Revolution machen wollte. Die lachen sich tot. Damit wirst du geradezu eine folkloristische Attraktion.

Frage: Das ist kein ernsthaftes Konzept, was du da vorschlägst. Die Entwicklung, die wir bereits dutzende Male in der Welt gesehen haben, ist doch immer wieder die gleiche gewesen: Wenn eine Bewegung die Privilegien einer Ober­schicht in Frage stellt, dann läßt diese das Militär aufmarschieren, wie jetzt in Haiti. Klar wäre es in dem Fall am besten, die Bevölkerung ist organisiert und gut bewaffnet, um ihre Interessen durchzusetzen. Aber in der Realität ist das beste, was passieren kann, daß ein paar Leute vorbereitet sind, um auf die Situation zu reagieren.
A: Wieso, was ist damit gewonnen, wenn ein paar dutzend Leute Waffen haben und militärische Aktionen machen? Um die Interessen des Imperia­lismus und der Oligarchie in einem Land ernsthaft anzugreifen, muß es eine Mas­senbewegung mit Hunderttausenden von Menschen geben. Was machen die paar dutzend Bewaffnete, wenn die GenossInnen zu Tausenden in den Sta­dien eingesperrt sind?

Frage: Wenn du dir z.B. die Situation in Medellin/Kolumbien anschaust, siehst du, was es bringt. Die Paramilitärs, die Regierung, die Banden und die Drogenmafia haben über Jahre immer die Mas­senbewegung geschlagen. Bis dann die Guerilla in die Stadtteile gegangen ist und mit einer kleinen Gruppe in bestimmten Teilen der Stadt die Todes­schwadrone verdrängt hat. Erst seitdem trauen sich die Leute auch wieder, legale Arbeit zu machen. Inzwischen kontrol­lieren sie 30 oder 40% der Armenviertel Medellins.
A: Aber wie machen sie das, doch nicht mit ein paar Guerilleros...

Frage: ...mit Milizen...
A: Ja, und das sind sicher nicht nur ein paar dutzend, sondern Tausende.

Frage: Klar, aber die entscheidende Frage ist doch, daß du, um so etwas auf­zubauen, mit wenigen anfangen mußt. Zunächst war es eine kleine Gruppe von vielleicht 15 Leuten, die sich allmählich die Sympathie der Bevölkerung gewann. Sie begann in einem einzigen, eng umrissenen Gebiet und weitete sich langsam aus.
A: Die Guerilla in Kolumbien hat aber nicht erst gestern begonnen. Vor 30 Jah­ren hat sie einmal als kleine Gruppe angefangen, und heute sind vielleicht diese Milizen das Ergebnis davon.
Was würden wir in Uruguay heute machen, wenn die Todesschwadrone wieder anfangen zu agieren- wir müßten zum Widerstand aufrufen, die 3000-4000 Leute, die schon einmal im Kampf waren, müßten sich neu organisieren. Aber die werden nicht eine Browning 9mm von mir verlangen, sondern 20.000 Gewehre. In Montevideo ist heute einer von drei Menschen links. Die Militärs könnten die Bevölkerung blind massa­krieren, und aus dem Grund muß man in größeren Maßstäben planen. Das ist das, was ich meinte, als ich Spanien 1936 ins Gespräch gebracht habe. Da ging es um Hunderttausende von GenossInnen.

Frage: Ich würde gerne noch einmal auf eine Frage vom Anfang zurückkommen, nämlich über die Logik und Dynamik militärischer Konfrontation. Es ist ja nicht nur so, daß man die gesellschaftli­chen Verhältnisse insgesamt leicht aus den Augen verliert, sondern auch, daß die Menschlichkeit verloren geht. In fast allen Guerillaarmeen kam es zu Exeku­tionen und sogar zu Folterungen, Dis­kussionen wurden abgewürgt, Kritike­rInnen ausgeschlossen, gegnerische Soldaten massakriert. Läßt sich die Menschlichkeit im Krieg überhaupt bewahren?
A: Das ist ein großes Problem. Der Krieg ist eine große Scheiße. Du brauchst Dis­ziplin, Hierarchie, es gibt keine Diskussion über militärische Befehle, du mußt lügen, vortäuschen und verbergen, um den Feind auf falsche Fährten zu locken, du mußt mißtrauen und dich verstellen. (lacht) Mit den Autonomen könntet ihr keinen revolutionären Krieg führen, an dem Tag, an dem ihr diszipliniert han­deln müßtet, würdet ihr untergehen. Früher gab es eine schrecklich romanti­sche Vorstellung vom bewaffneten Kampf. Man glaubte, daß die Guerilla etwas reinigendes habe, daß in ihr der "Neue Mensch" entstehen könne, weil man sich in der Guerilla so aufopfert. Aber die Guerilla hat diesen Seifeneffekt nicht, die schlimmsten Bürokraten sind aus ihr hervorgegangen. 500 Berater des neoliberalen argentinischen Präsidenten Menem kommen aus der Guerilla.
Es ist oft so, daß du mit der Guerilla anfängst, deinem Feind zu ähneln, daß du seine Methoden verwendest, daß es zu wahllosen, völlig unmoralischen Mas­sakern kommt. Das ist in El Salvador passiert, wo in Organisationen Mei­nungsunterschiede bewaffnet geklärt wurden, und das siehst du heute in Peru. Du weißt dort nicht, wer dich umballern wird, ob es die Polizei, die Militärs, die paramilitärischen Gruppen, die Drogenmafia oder Sendero Lumi­noso sein wird.
Es gibt keine Impfung gegen den Verlust der Moral. Unsere einzige Chance ist es, über dieses Thema zu reden, sich des Problems bewußt zu sein. Wir müssen erkennen, daß der bewaffnete Kampf, die Gewalt ein Übel ist, daß wir dieses Mittel nur verwenden, weil die Situation noch schlimmer ist, als das Übel, zu dem wir greifen. Und wir müssen sehen, daß unser Kampf Verbesserungen für die Mehrheit der Bevölkerung bringen muß.
In dem Zusammenhang fällt mir ein Satz ein, den ich auf einer Veranstaltung in Berlin gehört habe: man ›dürfe um links zu sein, mit der Bevölkerung nichts mehr zu tun haben‹. Dieses Denken ist elitär. Das ist so, wie wenn du per Dekret festlegst, daß du links bist und die anderen gefälligst zu kapieren haben, wo es lang geht. Entsetzlich, und es ist die Grundlage für unmoralisches Verhalten.
Unser Kampf macht nur Sinn, wenn er für die große Mehrheit Verbesserungen bringt, und nur dieses „höhere Ziel" garantiert auch eine Moral.

Frage: Ein anderes Problem der Gueril­las war ihre Machttheorie.
A: Stimmt. Der Fokismus hatte eine sehr einfache und schematische Vorstellung von der Macht. Danach ist Macht nicht mehr als die Exekutivgewalt des Staates, wie bei Lenin. Du setzt die Herrschen­den militärisch ab, und sicherst die neu errungene Macht selber vorrangig militärisch ab.
Das Problem ist aber, daß die Macht nicht erobert wird, sie wird aufgebaut. Das ist viel komplexer als einfach nur einen militärischen Aufstand zu machen. Ich glaube, daß dieses falsche Verständ­nis von Macht viele Fehlentwicklungen nach sich gezogen hat. Die Unfähigkeit der Linken, mit Meinungsverschieden­heiten umzugehen und Minderheiten zu akzeptieren, oder der Autoritarismus, sich selber als alleinige Vertreter der Wahrheit zu sehen, hat damit zu tun.

Frage: Ihr habt 1985, als ihr aus dem Knast kamt, beschlossen, als politische Organisation zu arbeiten. Worauf grün­dete sich eigentlich die Entscheidung? War es eine Notlösung, weil ihr gar keine Möglichkeit besaßt, in die Illega­lität zurückzukehren, oder wart ihr wirk­lich überzeugt davon, daß es politisch das richtige sei?
A: Wir hielten es für eine politisch rich­tige Entscheidung, für die angemes­senste Strategie.
Weißt du, die MLN war nie nur eine militärische Organisation. Auch früher bestanden wir aus einer Reihe von Strukturen, von denen einige in der Legalität, natürlich mit anderem Namen, politisch arbeiteten.
Ab 1983, 84 gab es im Cono Sur eine ganz wichtige Veränderung: die Massen nahmen sich die Straßen. Dadurch daß sich Hunderttausende an Massenbewe­gungen beteiligten, etwas was wir vor­her nie gehabt hatten, änderten sich die Verhältnisse.
Das andere ist, daß wir niemals Frie­densverhandlungen geführt haben. Wir wurden von den Militärs zerschlagen, ausgelöscht. Es gab uns nicht mehr. Und dann waren es die Massen, die uns aus dem Gefängnis in die Legalität gebracht haben. Nicht wir sind dahin zurückge­kehrt, sie haben uns dorthin gebracht, sie haben uns und den Militärs die Lega­lität aufgezwungen.
Wenn es so große Bewegungen gibt, kann die Avantgarde nicht mehr so sehr Avantgarde sein. Deswegen haben wir bei unserem ersten Kongreß einmütig beschlossen, den legalen politischen Kampf zu führen.

Frage: Es gibt ein Interviewbuch der chileno-cubanischen Journalistin Martha Harnecker mit den Führern eurer Koali­tion Frente Amplio. Du wurdest dort gemeinsam mit Leuten der verschiede­nen linken Parteien über Geschichte und Strategie der uruguayischen Linken befragt.
In dem Buch stellt Harnecker die - wie ich finde - entscheidende Frage, warum ihr glaubt, daß sich die chilenische Erfahrung in Uruguay nicht wiederholen wird. Ihr habt nächstes Jahr Wahlen, als MLN nehmt ihr in der Frente Amplio daran teil, und ihr hofft zu gewinnen. Harnecker fragt, warum ihr so sehr davon überzeugt seid, daß in Uruguay eine linke Regierung nicht wie in Chile 1973 oder jetzt in Haiti weggeputscht wird. Ihr steht sozusagen vor der Alter­native, entweder euer Programm grund­legender Umwälzungen - ob die nun revolutionär oder reformistisch genannt werden, ist mir eigentlich egal - aufzuge­ben oder aber militärisch kalt gemacht zu werden.
Das erstaunliche an dieser Stelle des Interviews war, daß keiner von euch die Frage beantwortet hat. Mein Eindruck war, daß Ihr euch um eine Antwort gedrückt habt. Meinst du wirklich, daß die uruguayische Linke auf so eine Ent­wicklung vorbereitet ist?
A: Der letzte Teil der Frage ist schwer zu beantworten. Wer ist vorbereitet? Ich habe falsche Papiere und eine Waffe, ich komme davon, wenn es sein muß. Aber es geht ja darum, daß die großen Mas­sen auf eine solche Situation vorbereitet sind, und nicht nur ein paar linke Grup­pen.

Frage: Aber das Wesentliche wäre doch, daß die Linke Diskussionen vorantreibt. In Chile haben sich Teile der Unidad Popular 1972-73 sehr viel Gedanken dar­über gemacht, wie in den Armenvierteln und Fabriken der Widerstand vorbereitet werden kann. Es wurden Widerstands­kommitees aufgebaut. In Uruguay gibt es, so weit ich das beurteilen kann, nicht einmal eine Diskussion darüber.
A: Ja, das stimmt, es gibt sie nicht. Wir reden darüber mit den Leuten, aber die Frente Amplio als solche nicht. Das hat mit Kräfteverhältnissen zu tun. Wenn ich zu einem Basiskomitee der Frente Amplio gehe und über das Problem des Widerstands rede, wird danach ein anderer kommen und die Leute davon zu überzeugen versuchen, daß das der völlige Wahnsinn ist, was ich vorschlage. Ich glaube, wir sind nicht diejenigen, die über eine Vorbereitung entscheiden und sie durchführen.

Frage: Nein, aber es ist unsere Aufgabe, die Leute von bestimmten Ansichten zu überzeugen und konkrete Vorschläge zu machen.
A: Ja, aber wie gesagt ist es auch eine Frage des Kräfteverhältnisses. In der Lin­ken in Lateinamerika gibt es heute eine entscheidende Diskussion: ob sie näm­lich die radikalen Forderungen aufrecht erhält oder irgendetwas anderes ent­wickelt. Diese Auseinandersetzung mit den Sozialdemokratinnen und Reformi­stinnen findet überall statt.
Es gibt genug Linke, die früher im bewaffneten Kampf waren, und heute den Leuten vorschlagen, sich nicht vor­zubereiten. Der Comandante der salva­dorenischen FMLN, Joaquin Villalobos ist heute Sozialdemokrat und er besitzt Autorität in der Bevölkerung.

Frage:...der ist kein Sozialdemokrat, der ist nicht mal mehr das.
A: Wahrscheinlich... Ob wir vorbereitet sind für eine Entwicklung, werden wir nicht am Tisch bestimmen können, das wird man draußen im Klassenkampf erleben. Das Fußballspiel findet auf dem Platz statt...

Frage: So wie du das Kräfteverhältnis in der lateinamerikanischen Linken schil­derst, und so wie ich die Treffen des Sao Paolo-Forums mitbekommen habe, ist die Linke von einem Projekt grundlegen­der Veränderungen also weit, sehr weit entfernt.
A: Auf dem 8.Kongreß der PT, der vor kurzem stattgefunden hat, hat die radi­kale Linke gewonnen. Das war hervorra­gend, vor allem weil es von der Basis kam. In Uruguay habe ich die große Hoffnung, daß wir das Wunder schaffen werden.
Wir müssen erreichen, daß es einen ideologischen Triumph bestimmter Kon­zepte unter den Massen gibt, daß sie sich dazu entschließen, sich auf Putschsituationen und härtere Konflikte vorzu­bereiten.

Frage: Was erwartet Ihr von den Wahlen 1994? Die Perspektive, die Regierung zu stellen, ist ja nun nicht gerade umwerfend. Dadurch verändert sich nicht allzu viel.
A: Nein, das ist richtig. Ich glaube aber, daß Ihr in Europa eine sehr auf Parteien fixierte Sichtweise habt. Man wählt eine Partei wie man sich im Supermarkt für eine Sorte Seife entscheidet. Wenn die Partei dann ihr angekündigtes Programm nicht verwirklicht, dann entscheide ich mich das nächste Mal für ein anderes Produkt.
Das ist natürlich Unsinn. Das einzige, was mich an den Wahlen interessiert, ist, daß durch sie Leute gewonnen werden können, und daß Bewußtsein wächst. Die Frage, ob die Frente Amplio ihr Pro­gramm umsetzen können wird oder nicht, ist deshalb völlig unwichtig. Inter­essant ist nur, ob die Leute von der lin­ken Regierung an den Entscheidungen beteiligt werden und ob sie dabei ler­nen.
Das Problem ist doch, daß es keinen Pfifferling wert ist, wenn wir "Erleuchte­ten" wissen, daß ein bestimmtes Pro­gramm aufgrund dieser und jener öko­nomischer und militärischer Machtverhältnisse nicht umgesetzt wer­den kann. Die Massen müssen das erkennen, damit sie sich die Frage grundsätzlicher stellen, damit sie mehr in Frage stellen als nur die Regierung...

Frage: Einverstanden. Eine linke Regie­rung kann zur Politisierung beitragen, wenn sie die Mehrheit an den Entschei­dungen beteiligt. Aber nur unter dieser Voraussetzung wäre eine linke Regie­rung positiv.
A: Ja. Das wäre das einzige, wozu diese Regierung gut wäre. Ich glaube, daß es dann sogar belanglos wäre, ob wir die Auslandsschulden zahlen oder nicht. Wichtig wird sein, ob die Leute auf der Straße begreifen, warum die Schulden bezahlt werden, warum man aus der Klaue des Imperialismus nicht so leicht herauskommt. Und dann werden sie sich das Problem grundsätzlicher stellen.

Frage: Aber dafür wäre eine gemein­same Position der Frente Amplio not­wendig. Bei den KommunistInnen und SozialistInnen in der Koalition gibt es ganz andere Vorstellungen darüber, was eine linke Regierung zu machen hätte.
A: Klar, es gibt eine Linke, die Seifenpo­litik machen möchte. Es kann gut sein, daß 1994 die Frente Amplio zerbrechen wird. Von mir aus können die Seifen- und Teppichverkäufer zurückbleiben, sie werden allein bleiben, ohne die Leute.
Die Wahlen sind auf jeden Fall nicht das Ziel, sondern eine Etappe auf dem Weg. Das sagen wir in Uruguay ganz offen, im Radio.

Frage: Laß uns von der internen Debatte der Tupamaros reden. Ihr hattet in den vergangenen Jahren eine Ausein­andersetzung darum, ob ihr euch zu viel in den Bewegungen engagiert. Ein Teil von euch meinte, ihr würdet zu wenig mit eigenem Namen agieren und zu oft nur in Bündnissen und Bewegungen arbeiten. Dahinter steht der Wider­spruch, inwieweit die politische Organi­sation MLN gestärkt werden muß, wel­che Rolle sie für einen Prozeß spielt.
A: Ich bin Teil dieser Strömung, die ver­tritt, daß wir vor allem die Bewegungen zu unterstützen haben. Wir dürfen uns nicht in Namen und Symbole verlieben. Wenn die Tupas irgendwann nicht mehr nötig sind, weil etwas neues, größeres entsteht, sollten wir nicht zögern, sie aufzulösen. Wir lieben die Revolution, nicht die Markennamen.

Frage: Aber eine gut strukturierte Orga­nisation mit ihrer Geschichte ist ein sehr wichtiges Instrument dieser Verände­rung.
A: Ja. Aber es müssen nicht die Tupama­ros diese konsolidierte Organisation sein. Ich muß akzeptieren, daß es christliche Basiskomitees gibt, die bes­sere Arbeit für die Revolution machen als wir. Solchen Leuten muß ich die Hand reichen. Alles andere wäre sektie­rerisch.

Frage: Das ist ja unwidersprochen. Es gibt nur einen gewissen Widerspruch zwischen Verbreitern und Vertiefen. Natürlich müssen wir mehr werden, aber wir müssen eben auch inhaltlich vertie­fen, uns in einem engeren Rahmen fester organisieren als dies in Bewegun­gen möglich ist. Solche festeren Zusam­menschlüsse würde ich nicht als Avant­garde bezeichnen, sondern als Kerne. Es gibt keine starke Massenbewegung, schon gar keine revolutionäre Entwick­lung, ohne solche Kerne.
A: Genau. Deshalb gibt es die MLN. Wir vertiefen, erarbeiten grundlegende Ana­lysen, bestimmen gemeinsame, langfri­stige Strategien. Aber in der Breite der Bewegung arbeiten wir dann eben auch mit anderen Leuten zusammen. Da gibt es solche, die nur in der Bewegung aktiv sind, und andere, die ebenfalls einem organisierten Kern angehören, die in ihrem Rahmen ebenfalls vertiefen. In Uruguay haben wir 18 linke Organi­sationen, die alle in diesem Sinne für eine Vertiefung arbeiten.

Frage: Um diese Kerne zu stärken, mußt du aber auch mit eigenem Namen und Inhalt präsent sein. Sonst kannst du nicht wachsen.
A: Ja. Du mußt vor allem auch den Moment erkennen. Manchmal ist Wachs­tum in die Breite völlig falsch, dann ist es notwendig erst mal Tiefe zu gewin­nen, inhaltlich Positionen zu bestimmen und deine Struktur zu stärken. In anderen Situationen dann aber zählt vor allem die Breite, das Dazukommen von neuen GenossInnen. Du hast nie die eine oder andere Position in Reinform, es geht vor allem um Gewichtungen.

Frage: Auf jeden Fall bist du auch der Meinung, daß es Organisationen geben muß, in denen sich die politischen Akti­vistInnen sammeln.
A: An dem Punkt würde ich das Erbe von den Anarchisten antreten. Nicht bei allem, aber in diesem Aspekt finde ich ihre Linie am sinnvollsten: demnach sol­len sich diejenigen, die sich nahe sind, gemeinsam organisieren. D.h. es gibt das Recht derjenigen sich zu organisieren, die die gleichen Manien haben. Von mir aus können sie sich in den hierarchisch­sten Strukturen zusammentun, wenn sie das wollen.
Das bedeutet aber, daß es daneben einen breiteren Rahmen geben muß, in denen die verschiedenen Organisationen und Bewegungen wieder zusammenkommen können. Aber ich kann nichts schlechtes daran finden, daß sich dieje­nigen, die eine längerfristigere Strategie entwickeln oder strukturierter arbeiten wollen, einen eigenen Rahmen schaffen.

Frage: Ein anderer Streitpunkt bei den Tupamaros war die Auseinandersetzung mit der Jugendorganisation Espartaco. Die Jugendlichen haben die MLN vor 2 Jahren verlassen. Du hast in Interviews mehrmals erklärt, daß die Auseinander­setzung darum ging, daß die Jugendli­chen mehr Autonomie in der MLN woll­ten. War das alles oder gab es auch politische Widersprüche?
A: Bei den Jugendlichen gab es eine Abneigung gegen die politische Arbeit und einen Hang zu mehr sozialen Akti­vitäten. D.h. sie wollten nicht in den politischen Bündnissen, in denen die MLN organisiert ist- der Frente Amplio und der MPP- aktiv sein, sondern eher soziale und kulturelle Aktivitäten ent­wickeln, z.B. Konzerte, Feste usw.
Auf der anderen Seite gab es in der MLN ein autoritäres Verhalten, eine Art stalini­stische Deformierung. Sie meinten, daß eine revolutionäre Organisation nur aus disziplinierten Kadern zu bestehen habe, und forcierten von den Jugendlichen, daß sie, wenn sie Mitglieder der Organi­sation sind, auch die anstehenden Arbei­ten erledigen.

Frage: Es ist ja auch richtig, daß jede/r AktivistIn einer Organisation sich an einer Kampagne, die gemeinsam beschlossen wird, beteiligt. Ich brauche keine Organisation, wenn die Leute nur das machen, wozu sie gerade Lust haben. Mit Absprachen verpflichten wir uns gegenseitig zu einem bestimmten Handeln.
A: Ja, sonst wird es eine Freizeitbeschäf­tigung. Ich glaube auch nicht, daß die Jugendlichen grundsätzlich recht hatten. Sie wollten wirklich ein bißchen Freizeitpolitik machen. Und genau das hat die Reaktion der anderen Seite hervorgeru­fen.
Es gab also sowohl Fehler bei den Jugendlichen als auch bei der MLN, genau deswegen ideologisierte sich der Konflikt, bis er nicht mehr zu lösen war.

Frage: Sind die Jugendlichen, seitdem sie die MLN verlassen haben, immer noch aktiv?
A: Sie haben es versucht, aber im Moment machen sie praktisch nichts. Das ist das traurigste daran. Wenn eine Gruppe geht und etwas neues aufbaut, dann ist das positiv, auch wenn es Mei­nungsverschiedenheiten gibt. Aber wenn eine Gruppe aus einer Organisation her­ausgeht und nicht mehr für die Revolu­tion arbeitet, dann ist es ein echter Ver­lust.
Ich hoffe, daß sie zum Kampf zurückfin­den, in der MLN oder woanders. Ich hab es ihnen auch oft gesagt, baut euer eige­nes Projekt auf.

Frage: Laß uns über Alternativen zum Kapitalismus reden. Du hast in deinen letzten Büchern immer wieder betont, der Realsozialismus sei unter anderem daran gescheitert, daß er den Kapitalis­mus wirtschaftlich und technologisch zu kopieren versucht habe. Diese Ansicht ist inzwischen mindestens 25 Jahre alt und hat sehr viel richtiges. Wodurch würde sich deiner Ansicht nach eine Alternative zum Kapitalismus auszeich­nen, was wäre der Unterschied zu den agrarsozialistischen Versuchen wie es sie z.B. in Afrika gegeben hat?
A: Es stimmt, daß diese Diskussionen alle nicht neu sind. Es gibt nur einen Unterschied zu früher: es sind keine Dis­kussionen mehr, vieles ist praktisch geworden. Die Geschichte hat die Fehler bestraft, mit langer Zeitverzögerung, aber immerhin.
Die Idee, den Sozialismus in einem agra­rischen, unterentwickelten Land aufzu­bauen, hat nicht viel mit dem zu tun, was ich meine. Ich glaube, wir sollten vor allem aufhören, den Sozialismus in einem Land verwirklichen zu wollen. Das geht nicht.
Ich glaube, es war Lenin, der gesagt hat „Nicht das ausländische Heer, sondern die Waren können dich besiegen". Es sind die Markenturnschuhe, die den Sozialismus geschlagen haben. Ich war baff, als ich vor Jahren in Cuba- damals war die Versorgungslage nicht wie jetzt, sondern es gab alles- gesehen habe, daß die Jugendlichen alles tun, um ein Paar Turnschuhe zu bekommen. Sie gehen auf den Schwarzmarkt, verhalten sich egoistisch, bescheißen andere Leute, ris­kieren Kopf und Kragen, nur um ein paar blöde US-Turnschuhe zu bekom­men.

Frage: Das Modell des „Sozialismus in einem Land" entstand Mitte der 20er Jahre in der Sowjetunion aber nicht des­halb, weil die Bolschewiki die Idee so toll fanden, sondern weil die Sowjet­union alleine blieb. Es kam nicht zu den erwarteten Revolutionen in Westeuropa. Und am Anfang praktizierten die Kom­munistischen Parteien mit ihrer Interna­tionalen das, was wir heute wieder auf­bauen wollen, nämlich eine international diskutierende und handelnde Linke.
A: Der Internationalismus wurde aufge­geben. Der „Sozialismus in einem Land" war eine self-fulfilling prophecy. Die Bürokratie verwandelte das, was aus einer historischen Notwendigkeit erwachsen war, in eine Doktrin. Der Sozialismus in einem Land war ab Mitte der 20er Jahre keine traurige Notwendigkeit mehr, er war eine für immer festge­schriebene Doktrin.
Das letzte Mal, das es internationale Kämpfe um das gleiche Ziel gab, waren die Arbeiterkämpfe für die 40-Stundewo­che im 19.Jahrhunclert, die den ersten Mai als Kampftag begründeten. Seitdem hat es keine gemeinsamen Kämpfe mehr gegeben. Wie lange ist das her.
Wie wenig Leute kapieren heute die internationale Dimension von Kämpfen. Wenn ich nach Deutschland komme, fragen mich die Leute in Uruguay, was ich hier will. Sie sagen mir, daß ich meine Zeit verschwende.

Frage: Aber die Revolution wird niemals gleichzeitig auf der ganzen Welt ausbre­chen. Das ist eine Illusion. Also wirst du das Problem, als einzelnes Land anfan­gen zu müssen, immer wieder neu vor­finden.
A: Natürlich. Aber du mußt das, was du dann aufbaust, nicht Sozialismus nen­nen. Weil es keiner ist. Du kannst Bedingungen schaffen, das ist alles. Ansonsten bringst du den Begriff Sozia­lismus in Verruf, so wie das in der Sowjetunion passiert ist.
Das andere ist, daß wir uns durchaus stärker um internationale Zusammenar­beit bemühen können. Wir haben mit dem Sao Paolo-Forum angefangen, trotz­dem ist es für mich immer noch leichter, mich in Frankfurt mit Leuten von der PT zu treffen als in Lateinamerika. Da gibt es noch vieles, was wir machen können.

Frage: Gut, eine internationalistischere Politik wäre ein Element. Was müßte noch gemacht werden, um eine soziali­stische Gesellschaft aufzubauen? Was würdest du tun, wenn wir in lateiname­rikanischen Ländern wieder eine Situa­tion wie in Nicaragua 1979 hätten?
A: Das erste wäre eine Radikalisierung der Demokratie. Es können nicht nur die Revolutionärinnen sein, die diese neue Gesellschaft schaffen, das muß die Mehrheit machen. Das heißt, diese Bevölkerungsmehrheit müßte durch ihre eigene Aktivität sehen, was möglich ist und wenn nicht, warum eine bestimmte Veränderung nicht drin ist. Wir müssen alle zu Strategen der Revolution werden. Ich bin also dafür, daß wir die Forde­rung nach Demokratie wieder zu unse­rer machen.
Das andere ist, daß wir in weiten Teilen der Welt so weit zurückgefallen sind, daß es revolutionär anmutet, wenn man drei Mal am Tag zu essen hat. Das war früher reformistisches Minimalpro­gramm, heute ist es für Milliarden von Menschen eine Verheißung.
Wir brauchen also ein Notprogramm, das solche fundamentalen Dinge wieder gewährleisen kann. Auf den Trümmern wirtschaftlicher, sozialer und moralischer Zerstörung kann man keinen Sozialis­mus schaffen. In diesem Elend verfallen ethische Werte, da gibt es keine Bemühungen mehr um eine andere Gesellschaft, nur noch den Drang nach Existenz. Also müssen wir zuerst Grundlagen schaffen. Schon das wird uns harte Auseinandersetzungen abver­langen, denn die Oligarchie, der IWF, sie sind nicht bereit, diese Veränderun­gen durchzuführen. Wir müssen sie uns erkämpfen.

Frage: Was ist mit den Vorstellungen einer anderen wirtschaftlichen und tech­nischen Entwicklung.
A: Ja, klar, das ist das, was du am Anfang angesprochen hast. Wir werden die kapitalistische Industrialisierung nicht einfach wiederholen können. Aber genau dafür brauchen wir die Hilfe der 1.Welt. Denn aufgrund unserer Unterent­wicklung fehlen uns genau die techni­schen Elemente, um eine alternative Ent­wicklung zu durchschreiten, also z.B. auf anderem Weg Energie zu erzeugen.
In Uruguay gibt es viele Genossinnen, die als Ziel anstreben, einmal so zu leben wie die Belgier. Während in Bel­gien sich die Linken Gedanken machen, was zu tun ist, um nicht mehr Belgien zu sein. Das ganze ist also auch ein ideologisches Problem. Eine bestimmte technische Entwicklung wird als alterna­tivlos betrachtet, der relative Wohlstand der europäischen Länder macht sie zu Vorbildern.
Wir müßten oft einfach nur dem gesun­den Menschenverstand folgen, um zu sehen, daß das Quatsch ist. In Uruguay ist ein Pferd unter bestimmten Bedin­gungen sinnvoller als ein Traktor. Um das auszurechnen brauchst du keinen Taschenrechner.

Frage: Das Problem Cubas...
A: Nach 30 Jahren entdecken sie das Fahrrad.

Frage: Im Zusammenhang mit einem neuen Begriff von Sozialismus haben wir uns in der Arranca! mit lateinamerikani­scher Befreiungspädagogik auseinander­gesetzt. Der Brasilianer Paulo Freire zeigt auf, daß es sich bei der Emanzipa­tion —also auch bei der Revolution— nicht so sehr um Agitation und Propa­ganda dreht, bei der du die Linke zu einem bestimmten Ziel bringen willst, sondern eher um Bewußtwerdung. D.h. die Linke muß dafür arbeiten, daß die Menschen sich selbst als Subjekte ent­decken, daß sie ihr eigenes kritisches Bewußtsein entwickeln, das sie dann zwangsläufig in Konflikt mit der beste­henden Ordnung bringt.
Hatte die Befreiungspädagogik auf die Praxis der Tupamaros irgendeinen Ein­fluß?
A: Ja, aber das war keine bewußte Ent­scheidung von Organisationen, diese Erkenntnisse in diese politische Praxis zu überführen. Es hatte vor allem damit zu tun, daß sehr viele PädagogInnen aktive Linke waren und sind, und daß sie ihre Standpunkte in die Arbeit einge­bracht haben.
Ein Beispiel für den Einfluß, den das auf den Alltag gehabt hat, war die Kampa­gne gegen die Privatisierung der öffentli­chen Unternehmen.

Frage: Das war 1992...
A: Ja, es gab das Referendum Ende 1992. Wir haben über das ganze Jahr Gespräche mit den Leuten geführt. Es sind Brigaden der Frente Amplio gebil­det worden, und mit dem Computer haben wir das ganze Land in Bezirke eingeteilt, die von den einzelnen Bri­gaden bearbeitet werden sollten. Die Leute sind von Haustür zu Haustür gegangen, um mit den Menschen über die Privatisierungen zu reden. D.h. es waren keine Veranstaltungen, sondern Personen der Frente Amplio haben mit der ganzen uruguayischen Bevölkerung geredet.
Manche Leute sind 2, 3 oder 4 Mal besucht worden, weil die Diskussion weiterging. Du mußt dir vorstellen, alle Linken in Berlin würden einen Straßen­zug übernehmen und sie müßten dort alle Haustüren abklappern, um danach Bericht zu erstatten, wie das verlaufen ist.
Die Wirkung so einer Arbeit ist phäno­menal. Deine Parolen, Schlagwörter, Erklärungsmuster, deine zurecht geleg­ten theoretischen Diskurse nützen dir nichts mehr, wenn du Menschen aus Haut und Haaren gegenüberstehst. Da verläßt du das Ghetto, du erlebst die Wirklichkeit, du spürst das Desinteresse, das Unverständnis, den Haß, aber eben auch die Sympathie der Menschen.
Dabei lernst du, die Menschen als Sub­jekte zu behandeln. Du mußt sie fragen, ob du in die Wohnung kommen darfst, du mußt auf ihre Fragen Antworten suchen und dich belehren lassen. Denn sie haben Kritik und Vorstellungen, von denen du lernen kannst.
Die BrigadistInnen sind natürlich auch an den Haustüren von Faschisten und Militärs gewesen, von außen siehst du das nicht. Und sie sind weggejagt wor­den. Aber genau dabei stellst du fest, ob deine Vorstellungen mit der Wirklichkeit des Volkes etwas zu tun haben.
Das andere, was ich an Freire wichtig finde, ist die Verteidigung des Gedächt­nisses. D.h. eine unterdrückte Bevölke­rung darf die Erinnerung an ihre Geschichte nicht verlieren. Ich habe keine schriftstellerischen Ambitionen, ich begreife mich beim Schreiben als Kämp­fer für die Verteidigung unserer Geschichte.

Frage: Du besuchst bei deinen Rundrei­sen durch die BRD auch politische Gefangene aus der RAF. Du warst selber 15 Jahre lang im Gefängnis, wie ist es für dich in den Knast zurückzukehren?
A: Ja, ich besuche die Celler Gefange­nen. Mir gefallen die Gefängnisbesuche natürlich nicht. Selbst dann nicht, wenn ich Freunde sehen kann. Aber der Besuch der Gefangenen ist eine Ver­pflichtung, das ist eine prinzipielle Angelegenheit, daß man solidarisch zu den Eingesperrten bleibt. Ich weiß, was der Besuch für einen gefangenen Genossen bedeutet, er ist eine nicht-reli­giöse Messe, etwas ganz besonderes. Verglichen mit dem, wo ich eingesperrt war, erscheinen die deutschen Gefäng­nisse natürlich wie das Sheraton-Hotel. Aber was ich von den deutschen Gefängnissen gesehen habe, war ja auch nur die Besucherzone. Der eigentliche Knast ist da, wo wir nicht hinkommen. Und außerdem können auch die saube­ren, gut gestrichenen Gebäude Orte des Schreckens sein. Es gibt vielen Formen die Menschen zu foltern. Jede Freiheits­beraubung und jede Isolation sind eine Art Folter.

Frage: Und wie hast du die drei in Gelle erlebt? Lutz Taufer und Karl Heinz Dellwo sind seit 18 Jahren eingesperrt...
A: Ich war überrascht, wie sehr sie sich ihre Lebensfreude bewahrt haben. Wenn man sieht, wie lange sie sitzen, wie schrecklich diese Jahre gewesen sind, ...sie sind sehr lebendig geblieben, sehr aufrecht.

Frage: Wie ist das eigentlich für euch, daß ihr für so viele bewaffnete Kämpfe in der ganzen Welt als Vorbild gedient habt? Stört es euch manchmal, fühlt ihr euch in unzulässiger Weise kopiert? Ich meine, daß Anfang der 70er die aller­meisten neu entstehenden Stadtguerillas, egal ob in Italien, der BRD, Spanien oder in Lateinamerika von den Tupas redeten.
A: Wir haben das erst 1985 mitbekom­men, als wir aus dem Knast herauska­men. Bis dahin hatten wir keine Ahnung davon, was in der Welt passierte, nicht einmal Nachrichten aus unserem eige­nen Land erreichten uns.
Wir hatten aber nie daran gedacht, daß wir einmal als Vorbild dienen könnten. Ich bin ehrlich gesagt, auch gegen die Imitationen und Kopien. Man muß die Prozesse anderer Länder kennen und von ihnen lernen, aber immer dann, wenn wir versucht haben, etwas ganz einfach nur nachzumachen, hat es nicht funktioniert.

Frage: Du hast in Frankfurt gesagt, daß ihr demnächst ein „Komitee zur Unter­stützung der Revolution in Deutschland" gründen wollt...
A: ...das war natürlich eine Kritik, weil sich so viele europäische Linke damit beschäftigen, andere Länder paternali­stisch zu unterstützen, anstatt bei sich selber zu arbeiten...

Frage: Klar, und zur Soli-Arbeit gehört immer auch der gute Ratschlag für die Genossinnen anderswo. Was empfiehlst du als Mitglied des uruguayischen Soli­daritätskomitees der Linken in der BRD?
A: Na ja, vor allem die Revolution zu machen...(lacht)
Ich kenne die Wirklichkeit in der BRD natürlich nur sehr wenig. Aber das wich­tigste fände ich, daß die Linke hier mehr mit den Bevölkerung zu tun hat, daß sie aufhört, von den „normalen Leuten" zu reden, daß sie sich als Teil dieser Gesell­schaft erkennt. Dieses Argument, daß man sich abgrenzen müsse, um über­haupt links zu sein, erscheint mir völlig unsinnig.
Zum anderen ist die Linke unorganisiert. Das hat Vor- und Nachteile. Die Autono­mie der westdeutschen Linken hat ihr eine große Lebendigkeit eingehaucht, sie ist nicht zusammengebrochen, als der Realsozialismus fiel. Das ist sehr positiv. Unabhängig davon, ob es viele sind oder nicht, die Linke hier lebt. Die Größe spielt da nur eine Nebenrolle. Die negative Seite ist die Aufsplitterung in unzusammenhängende, lose beste­hende Grüppchen. Die BRD-Linke ist sehr sektiererisch, auch die Autonomen. Die Frage ist also, wie diese vielfältige Autonomie aufrecht erhalten werden kann und sich gleichzeitig Kräfte mit gemeinsamen Zielen bündeln. Ihr müß­tet lernen, mit Unterschieden umzuge­hen und dennoch eng zusammenzuar­beiten.

Wenn das gelingen würde, wäre das eine ziemlich interessante Synthese.

Frage: Danke, Nato, für dieses Gespräch

 

 

 

 

  • 1. Fokismus: das Wort kommt vom spanischen foco (Brennpunkt). Die Theorie des foquismo behauptete, daß revolutionäre Gruppen durch die Aufnahme des bewaffneten Kampfs in einer bestimmten Gegend die Verhältnisse insgesamt in einem Land zum Kochen bringen könnten: der Brennpunkt weite sich zum Flächenbrand aus. In den 60ern und 70ern war der foquismo die bestimmende Theorie der unabhängigen Linken Lateinamerikas. Sie breitete sich vor allem deshalb aus, weil sie in Cuba in klassischer Form funktioniert hatte. In einer Situation gesellschaftlicher Unzufriedenheit landeten nicht einmal 2 Dutzend Revolu¬tionäre unter der Führung von Fidel Castro und Che Guevara auf der Insel und es gelang ihnen, innerhalb von drei Jahren den Diktator Batista zu stürzen. Danach jedoch erlitten foqui¬stische Guerillas zahlreiche Niederlagen.
  • 2. Der Franzose Regis Debray schrieb 1966 das Buch „Revolution in der Revolution", das den Ruf hat, den Fokismus als Theorie begründet zu haben. Ein Jahr später war Debray zusammen mit Che Guevara in der Guerilla in Bolivien, verließ diese aber sehr schnell, weil er mit den har¬ten Bedingungen auf dem Land nicht klar kam. Nach längerer Haft in Bolivien kehrte er nach Frankreich zurück und begann sich von seinen revolutionären Ideen zu verabschieden. 1981 wurde er zum Lateinamerikaberater des sozialdemokratischen Präsidenten Francois Mitterrand.
  • 3. Apriorismen sind Grundannahmen, von denen man ausgeht. Hier wären die Apriorismen, von den Huidobro spricht, a) die Einstellung, daß die bewaffnete Konfrontation an und für sich gut ist, und b) die bedingungslose Ablehnung des bewaffneten Kampfs wie sie von vielen Refor¬misten vorgebracht wird
  • 4. Demobilisierung: Entwaffnung und Wiedereingliederung der Guerilla im Rahmen von Friedensverträgen

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