Editorial
Wir sehen heute ganz schön müde – man könnte fast sagen „alt“ – aus, so mit Fleischbrillen um die Augen, während wir hier sitzen an einem sonnigen Sonntag Ende Oktober und statt einer Runde Nordic Walking, wie es uns unsere Krankenkassen empfehlen, die übrig gebliebenen Cocktaildekorationen aus Weingummi essen und diskutieren, ob „rotgrün“ groß oder klein, mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird. Wir befinden uns in der Schlussredaktion der 33. Ausgabe der arranca!, deren baldiges Erscheinen wir gestern mit einer rauschenden Pre-Release-Party gefeiert haben. Vereinzelt haben wir auch ordentlich lange durchgehalten. Apropos durchhalten: Einige von uns halten ja schon weit mehr als drei Jahrzehnte durch. Als gestern beispielsweise gegen drei Uhr AC/DC aufgespielt wurde, haben es die drei Frauen auf der Tanzfläche auf ein Gesamtalter von 111 Jahren gebracht. Ihr wisst nicht, ob ihr „Wow!“ oder „wie peinlich!“ denken sollt. Macht nichts: Ihr habt jetzt die Möglichkeit, das auf den folgenden 64 Seiten für euch zu klären.
„Oh nein“, werden jetzt einige rufen. „Jetzt fangen die auch noch an, uns ihre Midlife-Crisis als politisch relevantes Thema zu verkaufen“. Keine Sorge. Ihr werdet keine Essays über die Probleme larmoyanter Mittdreißiger/innen lesen müssen, die ihre linksradikale Vergangenheit heute als Jugendsünde beschreiben, aber auch keine Tipps zu Erziehung von störrischen Szenekindern. Der aktuelle Schwerpunkt mit dem Titel „Andere Umstände – Zwischen Rebellion und Rente“ ist zwar auch ein Ergebnis unserer seit längerem in der Redaktion geführten Debatte darüber, wie man jenseits der 30 das politische Engagement in einer zwar undogmatischen, aber dennoch stark von subkulturellen „Traditionen“ und Gewissheiten geprägten linken Gruppe weiterführen kann – trotz stressiger Jobs, Kinderwünschen, Wünschen von Kindern und anderen Sorgen, die wir immer als die von bürgerlichen „Normalos“ abgetan haben.
Dabei sind wir allerdings nicht stehen geblieben. Vielmehr haben wir begonnen, uns viele Fragen rund um das Thema der politischen, aber auch der sozialen und biologischen Reproduktion zu stellen: Woran liegt es, dass gerade in Deutschland viele AktivistInnen jenseits der 30 der Politik in linken Gruppen bzw. der linken „Szene“ den Rücken kehren oder sich gar von ihrer linken Vergangenheit distanzieren? Oder: Welche Probleme tauchen auf, wenn – wie im Fall von FelS – die jüngsten AktivistInnen inzwischen die Kinder der Ältesten sein könnten? Mit einem per Email geführten Selbstinterview der Redaktionsmitglieder haben wir versucht, hierzu Stellung zu beziehen. Die weiteren Texte des Schwerpunktes behandeln Fragen, die über unsere Erfahrungen mit FelS hinausgehen: Wie können Generationen übergreifende linke Wohnprojekte aussehen? Wie verhält es sich zwischen den vorgeblich ab einem gewissen Alter „natürlichen“ Wünschen nach Sicherheit, Kindern, Familie und den betreffenden Bedürfniserzeugungs- und Regulationspolitiken des Staates? Welches sind linke Tabuthemen im Bereich der biologischen und sozialen Reproduktion? Wie gehen wir als Linke beispielsweise mit den Fragen „Erbschaften“, „Pränataldiagnostik“, dem „Altern“ oder mit körperlichen Einschränkungen und Behinderungen um? Und nicht zuletzt: Was bedeutet überhaupt „Altern“? Welche sozialen Konstruktionen, Stigmatisierungen und Techniken der Disziplinierung sind damit verbunden?
Außerhalb des Schwerpunktes sticht die Anzahl der Beiträge zu aktuellen linken Debatten hervor. „Befreiung der Körper“ widmet sich den philosophischen Fundamenten von Antonio Negris und Michael Hardts umstrittenem Begriff der Multitude. Die Reportage über die so genannten 1-Euro-Job-Spaziergänge in Berlin gibt nicht nur einen Einblick in die Realitäten moderner Zwangsarbeit im Zeichen von Hartz IV, sondern stellt auch die Frage nach angemessenen Formen politischer Intervention in prekäre Beschäftigungsverhältnisse. „Vorsicht Linkspartei“ ist eine späte Stellungnahme zum viel kritisierten „offenen Brief“ mit antirassistischen Forderungen an die neue Formation, der im Juli unter anderem von FelS veröffentlicht wurde. Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und parteipolitischen AkteurInnen steht auch im Mittelpunkt des Textes über Italien und des Beitrages „Parlamentarismus und Öffentlichkeit“, den wir als Anregung für Repliken und Kritik verstehen. Dank der ausgeprägten Reiselust unserer GenossInnen könnt Ihr dieses Mal auch einen Artikel über das Erbe der Apartheidspolitik, wie sie sich in der Stadtplanungspolitik der südafrikanischen Metropole Kapstadt zeigt, lesen.
Mit konkreten Aussagen und Versprechen für die Schwerpunkte der nächsten Ausgaben halten wir uns hier vornehm zurück. Soviel sei jedoch verraten: Die nächste Nummer wird im kommenden Frühjahr erscheinen. Zudem gibt es semiklandestine Verhandlungen über publizistische Kooperationen mit unseren GenossInnen von analyse & kritik (ak), Fântomas und So oder So anlässlich des Euromaydays und der Vorbereitungen für eine Kampagne gegen den 2007 in Heiligendamm stattfindenden G 8-Gipfel.
Wo wir gerade bei den GenossInnen anderer linker Zeitschriften sind: Der Redaktion von analyse&kritik – formerly known as Arbeiterkampf – aus Hamburg gratulieren wir heftigst solidarisch und herzlich zur 500ten, in Worten fünfhundertsten Ausgabe! Da liegen wir noch Jahre zurück. Ein dickes Wow! auch für Euer Gesamtalter, das schaffen wir auch noch nicht, aber wir sind euch auf den Fersen, obgleich bei uns gerade wieder der Altersdurchschnittssenker zugeschlagen hat: Er heißt Fritz und ist im September zur Welt gekommen. Auch für Fritz und Co. ein herzlicher Glückwunsch aus der Redaktion.
Ihr seht, FelS ist wie die arranca! eine offene Gruppe, zu der sich auf verschiedenen Wegen Zutritt verschafft wird. Der einfachste ist jedoch immer noch dieser: fels[ät]mail.nadir.org oder arranca[ät]lists.nadir.org anschreiben und Kontakt aufnehmen.
Und nun: Viel Spaß beim Lesen!
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Erschienen in arranca! #33