Editorial
Es ist Krise und wir schlagen vor, über Methoden zu reden. Methoden, die da ansetzen, wo wir leben, lieben und kämpfen. Methoden, die fragen, zuhören und hinschauen – Untersuchungen. Nicht „Wie hängen Finanz-, Ernährungs- und Energiekrise zusammen?“ (wüssten wir trotzdem gerne), sondern „Wie geht es mir beim Hangeln von Projekt zu Job zu Projekt?“ / „Wie würdest Du gerne wohnen, arbeiten, leben?“ / „Was macht mich krank?“ / „Wo können wir zusammenkommen?“ Dank der Krise(n) herrscht auf der Makro-Ebene der Analyse in den letzten Wochen viel Gedränge und wir hoffen, davon bleiben erhellende Spuren zurück. Trotzdem meinen wir, dass brauchbare praktische Antworten auf diese Krisen vor allem auf der Mikro-Ebene handfester sozialer Auseinandersetzungen entstehen werden. Auch deshalb Untersuchungen: Solche Antworten werden nicht am Schreibtisch geboren, weil wir dank der überlegenen Analyse Bescheid wissen, sondern vor Ort. Dort, wo wir sowieso schon sind, und weil die richtigen Fragen gestellt werden - die richtigen Fragen, denn wir gehen nicht als leere, 'objektive' ForscherInnen-Hüllen an die Untersuchungen heran sondern immer auch als beteiligte Subjekte. Wir bringen die praktischen Erfahrungen und die Debatten unserer Geschichte mit und wollen, dass die ganze Scheiße aufhört, dass es besser wird.
Trotz des gegenwärtigen Hypes um das Label ‚Militante Untersuchungen’ ist es auffällig, dass es kaum einen Austausch zwischen den unterschiedlichen Ansätzen gibt. Mit diesem Heft wollen wir einen solchen Austausch zwischen den unterschiedlichen Ansätzen anregen. Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrem Ort – soziale Bewegungen in Argentinien, Callcenter im Ruhrgebiet, Orte weiblicher Prekarität in Madrid, ein Filmfestival und eine Mayday-Parade in Berlin, Opel in Rüsselsheim, die linksradikale Szene in den USA – sondern eben auch in ihrer Form. Eine Ausstellung wird kuratiert und gerät außer Kontrolle, Callcenter-ArbeiterInnen organisieren sich, Menschen mit Behinderung untersuchen zusammen mit ForscherInnen die Geschichte und Rezeption eines Kunstwerks, oder AktivistInnen agitieren MalocherInnen in der Fabrik. Interviews werden aufgeschrieben, aufgenommen oder gefilmt. Dahinter steht ein Teil des akademischen Apparats, eine organisierte, linksradikale (Klein-)Gruppe, der Wille, dem Kunstbetrieb ans Bein zu pissen, ein bundesweites linkes Nicht-Bündnis oder die Forderung „Nichts über uns ohne uns!“ Das Resultat ist Ernüchterung, eine wissenschaftliche Veröffentlichung, gestiegenes Selbstbewusstsein chinesischer Wanderarbeiterinnen, ein arranca!-Artikel, Flugblätter und ein bisschen Unruhe im Callcenter, ein Buch oder das Entstehen eines neuen Zusammenhangs feministischer Aktivistinnen und Theoretikerinnen.
Die meisten dieser Untersuchungen beziehen sich auf die operaistische conricerca (Mit-Untersuchung) im Italien der 1960er Jahre. Der Bezug reicht von einer lockeren Inspiration bis hin zu einem bewussten Weiterentwickeln. Wer das Label ‚Militante Untersuchung‘ verwendet, setzt sich häufig auf diese Spur (manchmal jedoch einzig des radikalen Klanges wegen). Mit diesem geschichtlichen Faden verknüpfen auch wir diese arranca!, ohne einerseits das historische Vorbild auf den Sockel der Unangreifbarkeit heben zu wollen, aber auch ohne uns allzu lange mit begrifflichen Abgrenzungen aufzuhalten: Die Operaisten selbst sind seinerzeit, gemessen an ihren eigenen Kriterien, nie über Vor-Untersuchungen zu einer 'wirklichen' conricerca hinausgekommen ... Anstatt also über den Begriff zu streiten, wollen wir über konkrete Praktiken sprechen. Und zu Militanten Untersuchungen ermutigen: Gucken, was geht, und dabei pragmatisch sein, sich nicht allzu sehr um die (akademischen) Regeln kümmern. Natürlich ist es toll, wenn die Differenz zwischen untersuchendem Subjekt und untersuchtem Objekt aufgehoben wird, wenn da nicht eineR von außen kommt, sondern die Untersuchung eine Selbst-Untersuchung in der ersten Person ist, wenn am Ende nicht der akademische Wissensstand oder die Argumente einer Partei, Gewerkschaft oder Politgruppe fundierter geworden, sondern sich selbst vervielfältigende Kerne von Selbstorganisierung entstanden sind ... Aber wollen wir die Latte so hoch hängen und dann doch am Schreibtisch sitzen bleiben, weil die Ressourcen zu knapp, die geforderte Authentizität eine Illusion und die zu erwartenden Erfolge eher bescheiden sind? Das befruchtende Moment Militanter Untersuchungen bleibt der Versuch, auf Tuchfühlung mit der (post)fordistischen Realität zu gehen und angemessene Widerstandsformen zu entwickeln, anstatt lediglich über die festgefahrene Lage zu jammern.
Übrigens wollten wir für diesen Schwerpunkt ursprünglich die Themen „Militante Untersuchungen“ und „Organisierung“ verknüpfen. Beide haben sich jedoch bei näherer Betrachtung als zu umfangreich erwiesen, so dass „Organisierung“ ein Schwerpunkt einer der folgenden arranca!s werden wird. Artikelvorschläge können gerne schon an arranca@nadir.org geschickt werden.
An dieser Stelle noch einen herzlichen Dank an unsere beiden Layouterinnen, die mit Mut und großem Engagement in die Bresche gesprungen sind und diese wunderschöne Nummer gestaltet haben.
Die arranca! ist eine Zeitschrift der Gruppe FelS (Für eine linke Strömung). FelS ist eine offene Gruppe und Ihr seid zur Mitarbeit eingeladen. Meldet Euch einfach unter fels@nadir.org oder arranca@nadir.org.
Die arranca!-Redaktion
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Erschienen in arranca! #39
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