Das Andere, das jetzt auch mitspielen darf
Ich und das Scheitern
Verpönt, versteckt, dethematisiert. Lange Zeit führte das Scheitern ein Schattendasein neben seinem strahlenden Bruder Erfolg. Geweint über das eigene Scheitern wurde im stillen Kämmerlein hinter dem Rücken anderer über deren Misserfolg getuschelt. Höchstens verschrobene Gestalten wie Kafka rückten das Scheitern in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen.
Scheitern ist in. Scheitern ist sogar hip genug fürs Fernsehen, das weiß sogar der 12-jährige Jan: »Die machen das doch extra so bei DSDS mit dem Scheitern. Sonst wär’s ja auch nicht so lustig.« Auf Jans Liste des Scheiterns befinden sich, neben Deutschland sucht den Superstar, noch weitere Sendungen: Wer wird Millionär?, Dschungelcamp oder Germany’s Next Topmodel. »Wenn der Bohlen immer nur gut oder schlecht sagen würde, dann würde das niemand gucken. Der muss die Leute schon fertig machen«, ergänzt Lisa. Getuschel hinter dem Rücken sieht anders aus. Offener Spott über das Scheitern anderer trifft es da schon eher. Massenscheitern für die Quote. Wer am Ende gewinnt spielt keine große Rolle. Die vielen, die im Verlauf der Sendung rausfliegen, also scheitern, sind die wahren Hauptfiguren.
Ich gestehe, Vater, ich bin gescheitert
Scheitern ist nicht nur in, scheitern lässt sich seit Neuestem sogar lernen. Zum Beispiel von Michael Heng, ehemaliger Skirennläufer und Gründer der Integralen Unternehmensberatung 1492 für Wachstum und Erneuerung. Hengs Anliegen ist es, Menschen dabei zu helfen, aus dem Scheitern zu lernen. Der richtige, Heng’sche Weg beginnt dort, wo das Sprechen über den Misserfolg mit »Ich ...« beginnt. Was Heng damit sagen will? Niemand anderes als du selbst, du ganz allein, bist verantwortlich für dein Scheitern.
Die fast 30 Prozent mehr, die der männliche Kollege verdient, sind also nicht durch sein Geschlecht erklärbar, sondern anhand ihrer miserablen Gehaltsverhandlungsleistung. Der kleine deutsch-türkische Junge sieht seinen deutschen Klassenkameraden nicht deshalb ohne ihn aufs Gymnasium gehen, weil der Lehrer letzteren aufgrund seiner Hautfarbe für kompetenter, vertrauenswürdiger und rational denkender halten würde. Der wahre Grund liegt natürlich in der mangelnden Arbeitsmoral des Kleinen, nicht in gesellschaftlichen Strukturen.
Zum Glück gibt es Menschen wie Heng, die die verzweifelte Frau und den kleinen Jungen – gegen etwas Bares versteht sich – an die Hand nehmen und ins Reich der Schönen bzw. Reichen führen. Alles was dafür verlangt wird, ist ein simples »Ich« zu Beginn des Satzes: »Ich gestehe, Vater, ich habe gesündigt.«
Wir sollen hinunter tauchen in die Abgründe unseres Selbst und darin die Ursache unseres persönlichen Scheiterns erkennen. Nicht mehr der Priester begleitet uns auf dieser Reise, sondern der Psychoanalytiker oder die Unternehmensberaterin.
Wir rechtfertigen uns für unser Handeln, hoffen auf Absolution und auf Wegweisung. Und nebenbei, fast unbemerkt, verfestigt sich die Du-kannst-alles-schaffen-Mentalität, lebt das alte Bild der Tellerwäscherin als Millionärin in spe wieder auf. Uncle Sams strenger Finger auf dich gerichtet: Can you?
Das ehemals Dethematisierte, das Verschwiegene ist heute Teil des Beredeten. Das Scheitern hat jedoch keinen eigenen Kreis an Wörtern um sich geschart. Vielmehr sind es die alten Metaphern des Erfolgs, die die Zügel in der Hand behalten. Sie sind das unterschwellige Rauschen, denn der einzige Sinn der Therapierung des Scheiterns ist die Rückkehr auf die Schnellstraße des Erfolgs.
Selbst in Zeiten der Krise bleibt das Scheitern ein individuelles. Manager haben versagt, es gibt unfähige oder böswillige Banker; einzelne, die sich am Schneeballsystem bereichern oder die verfehlte Zinspolitik Alan Greenspans. Ihnen gegenüber stehen die Masse der rechtschaffenen SparerInnen und FirmenchefInnen, die um ihr Geld betrogen worden sind.
Der Fehler liegt nicht im System, sondern Einzelne haben die ganze Misere zu verantworten. Gier ist das Leitmotiv, vor nicht allzu langer Zeit war es die Nutznießermentalität oder das Sozialschmarotzertum. Der Mensch ist böse, »Vater« vergibt uns.
Gescheitert im Sprechen über das Scheitern – was bleibt?
Was tun also angesichts eines Diskurses über das Scheitern, der den Einzelnen die Verantwortung zuschiebt?
Zunächst einmal anerkennen, dass es nicht grundsätzlich verwerflich ist, das Scheitern (sofern als solches anerkannt) produktiv zu nutzen. Aus dem Scheitern lässt sich tatsächlich lernen. Die Frage ist nur: Wie und Was? Die Auseinandersetzung mit dem Scheitern soll schließlich nicht, wie Heng es gerne hätte, zu einer Hantel werden, die dann die Muskeln des zukünftigen marktkonformen Erfolgs stählt.
Auf welche Weise sich aus dem Scheitern lernen lässt, hängt von der Blickrichtung ab. Eine Auseinandersetzung mit dem Misserfolg, die nicht individualisierend wirken will, sollte strukturelle Ebenen bewusst integrieren. Scheitern kennt Geschlechter, Hautfarben, Ethnien, Klassen, Alterstufen, Sexualitäten und vieles mehr. Unterschiedliche Sprechpositionen und Verortungen im gesellschaftlichen Raum strukturieren unsere Erwartungen, beeinflussen die Träume, die wir träumen, den Mut, den wir haben, die Wagnisse, die wir eingehen, unsere Möglichkeiten. Vergeschlechtlichung ist eine dieser Ortzuweisungen. Sie eröffnet und verschließt uns Handlungsmöglichkeiten, bestimmt, ob wir unsere Ängste, unser Scheitern teilen können oder als einsameR KämpferIn mit dem Misserfolg alleine umgehen.
Die individualisierende Art, in der das Scheitern derzeit verhandelt wird, ist ein gewaltsames Gleichmachen. Eine Herrschaftsstrategie, die überdeckt, wer privilegiert, benachteiligt, nicht gehört oder ausgeschlossen wird. Universalisierend. Das »Ich«, welches von uns, den Angerufenen, gefordert wird, dieses »Ich«, das sind nicht wir als Person. Wir rechtfertigen uns vor einer Norm, die uns auf unterschiedliche Art und Weise ignoriert und verleugnet. Eine weiße Norm, eine männliche. Die Norm einer Leistungsgesellschaft mit makellosen, funktionierenden Körpern.
Trotz aller Kritik, Ablehnung, Verweigerung empfinden wir häufig noch Stolz oder Genugtuung, wenn wir von selbiger Gesellschaft Bestätigung erhalten. Nur wenn alternative Anerkennungsstrukturen stark genug sind, können wir Kraft schöpfen, um Anderes auszuprobieren. Darin scheitern. Unsere Unterschiede nicht wegwischen, sondern gemeinsam beleuchten, nicht durchleuchten. Zuhören, versuchen zu verstehen. Wieder aufstehen und von Neuem beginnen. Was folglich aus dem Scheitern zu lernen ist, hat tausend Gesichter, Geschichten und Stimmen.
Für den 12-jährigen Jan ist nach einer halbstündigen Diskussion wichtig, dass Scheitern nicht gleich verlieren ist: »Wenn wir im Handball Dritter werden wollen, weil zwei andere viel besser sind und ins Endspiel kommen und dann verlieren, dann haben wir verloren. Wir sind aber nicht gescheitert, weil wir ja Zweiter sind.« Mit einem Vorhaben zu scheitern bedeutet nicht, den ganzen Kampf zu verlieren. Vielmehr sollten gescheiterte widerständige Projekte und Lebensentwürfe als reichhaltiger Fundus der Reflexion dienen, um immer wieder den Mut zu haben, Neues zu wagen.
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Erschienen in arranca! #40
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