Wahnsinn, was man hier alles sagen kann?
Ein Bericht über die NPA, der ganz ohne ihren Vorsitzenden Olivier Besancenot auskommt
Bereits anderthalb Jahre sind seit der Entstehung der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA, Neue Antikapitalistische Partei) vergangen und ein knappes Jahr seit ihrem Gründungskongress im Februar 2009. Der richtige Moment, eine erste Bilanz zu ziehen und jenseits allgemeiner Prinzipien und Absichtserklärungen den Blick auf das zu richten, was die Partei tatsächlich umzusetzen vermag.
Hier soll nicht die Existenzberechtigung der NPA diskutiert werden – dies geschah bereits in zahllosen Artikeln zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Stattdessen soll ihre tatsächliche Praxis an ihren Ansprüchen gemessen werden. Dies wird im Folgenden vor allem hinsichtlich ihrer Struktur und inneren Logik versucht. In der Tat stellt die NPA ein interessantes Phänomen dar: Eine Partei – ehemals die Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR, Revolutionäre Kommunistische Liga) – transformiert sich, um neue Personen anzuziehen und damit Kräfteverhältnisse zu verändern. Auch mit dem Vorsatz, einen Schmelztiegel zu schaffen, in dem verschiedene politische Traditionen zusammenkommen. Hier geht es um die Frage, ob diese Zusammenkunft tatsächlich gelungen ist. Die Frage nach den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und der Bedeutung der NPA für die sozialen Bewegungen kann hier nicht beantwortet werden: Solche Entwicklungen müssen über größere Zeiträume als ein Jahr beobachtet werden. Die NPA hat ihre maximale Schlagkraft noch nicht erreicht, da sie bisher ausgiebig mit internen Fragen beschäftigt ist.
Die NPA wollte «alle Kräfte versammeln, die die Ära des Profits hinter sich lassen und mit dem Kapitalismus brechen möchten, um den Weg zu öffnen hin zu einer nie da gewesenen Gesellschaft – demokratisch und egalitär, feministisch und ökologisch». Hinsichtlich der Versammlung aller Kräfte war dieses Vorhaben bisher nicht wirklich erfolgreich, und das ist sicher zu begrüßen: Die Entstehung einer einheitlichen Organisation als einziges Sprachrohr der linksradikalen Bewegungen wäre beunruhigend und problematisch. Die politischen Organisationen und Vereine bilden in ihrer Vielzahl und Diversität ein Gewebe, das einen vielfältigen Bezug zur Außenwelt ermöglicht und eine Einheitspartei verhindert. Eine solche liefe Gefahr, zufrieden ob ihrer selbst einzuschlummern. Auch heute existieren also noch andere Organisationen, die die Ära des Profits hinter sich lassen möchten und nicht Teil der NPA geworden sind.
Wie ist ihr Verhältnis zur NPA? Zwar ist nicht die Gesamtheit aller rebellischen Gruppen mit der NPA verschmolzen, doch die Mehrheit scheint durchaus bereit zu sein, sich im Kampf mit ihr zu verbünden. Dies ist bereits geschehen – sowohl in Auseinandersetzungen vor Ort als auch bei Kämpfen nationalen Ausmaßes. Es zeigt sich allerdings ein gewisses Misstrauen gegenüber der Partei, gerade aufgrund ihres Aufrufs zur Vereinigung. Dieser Argwohn nimmt zwei Formen an. Gruppen, die einer Organisationslogik gehorchen, fühlen sich bedroht. So die Parti Communiste Français (PCF), die in einer sehr schwierigen Lage ist und ihre Existenz in vieler Hinsicht infrage gestellt sieht: In ihren Augen beschleunigt die NPA diesen Niedergang. Dies äußert sich teils in merklichen Spannungen zwischen den jeweiligen Aktivist_innen in lokalen Kämpfen. Die CGT, als führende Gewerkschaft, warf der NPA gar vor, in ihrem Revier zu wildern und weigerte sich, an der Sommer-Universität der NPA teilzunehmen. Mit Vertreter_innen des Unternehmertums und der etablierten Parteien hingegen trafen sich CGT-Offizielle zur gleichen Zeit durchaus. Dies ist bezeichnend für die politische Positionierung dieser Gewerkschaft, gleichfalls jedoch für das tiefe Misstrauen angesichts des Entstehens der NPA.
Diejenigen schließlich, die aus einer Anti-Parteien-Tradition stammen, seien es Libertäre, die Bewegung der Banlieues oder andere linksradikale Gruppen, misstrauen der Parteienform per se und hinterfragen den durch die NPA bemühten Diskurs der Offenheit, der nur als Maske diene.
Tatsächlich: Betrachtet man die interne Praxis der Partei, so wird deutlich, dass derzeit von Demokratie nicht die Rede sein kann. Damit blamiert sich der durch die NPA zur Schau getragene Wille, ein echter Ort der Versammlung zu werden, und Zweifel kommen hinsichtlich ihrer derzeitigen Fähigkeit auf, eine nie da gewesene Gesellschaft zu errichten. Es gibt zwei Gründe für dieses Demokratie- Problem: Zum einen die Logiken, die der Mitgliederstruktur der Partei entspringen, sich also dem unmittelbaren politischen Willen entziehen. Zum anderen die politische Struktur, die sich die NPA gegeben hat und die durchaus schneller verändert werden könnte.
«Bildet halt eine Strömung»
Der Versuch einer breiten Sammlung war für die NPA erfolgreich: 9000 Mitglieder hatte sie bereits zum Zeitpunkt des Gründungskongresses im Februar 2009. Diese kommen aus verschiedenen politischen Traditionen: Zu einem Drittel stammen sie aus der ehemaligen LCR, die restlichen zwei Drittel waren entweder zuvor in anderen Organisationen aktiv oder sind Neuankömmlinge. Problematisch an dieser Struktur ist, dass die LCR-Mitglieder die einzige bedeutende Gruppe bilden, die schon vor der Gründung als solche bestand, mit eigener politischer Kultur und eigenen Umgangsweisen. Es soll hier nicht, wie es oft geschieht, der LCR unterstellt werden, dass sie sich mit machiavellistischer Intention nur scheinbar transformiere, um neue Personen anzuziehen, zugleich aber weiterhin alles kontrollieren wolle. Jedoch gewinnt die Kultur der Ligue auf geradezu ‹natürliche› Weise Oberhand. So fühlen sich diejenigen, die einer anderen politischen Kultur entstammen, zwar oft mit Wohlwollen betrachtet und auch angehört – wie um die reklamierte Offenheit unter Beweis zu stellen –, ohne dass jedoch die von ihnen eingebrachten Punkte wirklich aufgenommen würden. Der erste Eindruck lautet dabei oft: «Wahnsinn, was man hier alles sagen kann!»
Doch auch die aus der LCR kommenden Aktivist_innen stehen vor einem Problem: Oft sehen sie sich einer Vielzahl vereinzelter Positionen isolierter Individuen gegenüber. Man kann ihnen schwerlich vorwerfen, dass sie bei dem bleiben, woran sie glauben – sie werden kaum um des Pluralismus willen Minderheitenpositionen übernehmen, die nicht die Ihrigen sind.
Eine Lösung, die sich abzuzeichnen scheint, besteht in der Bildung von Strömungen innerhalb der Partei. Dies soll jedem und jeder erlauben, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Aus der Diskussion zwischen einer Trotzkistin und einem Libertären am Rande der NPA-Sommeruniversität 2009: «Bildet halt eine Strömung! Formiert euch!» Dies mag Anlass zum Schmunzeln geben, birgt aber ein ernstes Problem in sich: Damit eine dissidente Stimme gehört wird, muss sie sich an die politischen Ausdrucksformen der Ligue anpassen. Dies beeinflusst natürlich den Inhalt. Für die Libertären und die Aktivist_ innen einiger anderer Gruppierungen ist dies umso problematischer, als sich ihre Kritik gerade auf Fragen der internen Organisation bezieht. Auch das Gewicht der ehemaligen Mitglieder der LCR – insbesondere in den informellen Momenten – ist ein Faktor, der den Raum für abweichende Positionen einschränkt. So ist beispielsweise der Begriff des ‹Öko-Sozialismus›, der mit einem Zweig der radikalökologischen Bewegung seinen Weg in die NPA gefunden hat, in informellen Zusammenkünften oft Gegenstand von Spott. Wie aber soll man unbeschwert in eine Versammlung gehen, eine solche Position verteidigen und zu erklären versuchen, wenn man in der Minderheit, vielleicht politisch eher unerfahren ist und zuvor jene höhnischen Bemerkungen hören musste? Um in der NPA eine Minderheitenposition zu vertreten, braucht es manchmal eine sehr dicke Haut.
Die einzige Struktur, die sich schon zuvor formiert hatte und ein Gegengewicht hätte bilden können, ist L’étincelle (der Funke), eine Abspaltung von Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf) – ebenfalls eine traditionsreiche trotzkistische Partei. Die Konfrontation zwischen zwei solcher Gruppen hätte vielleicht die monolithische Entwicklung verhindern und einen Raum eröffnen können, der das Auftreten dissidenter Stimmen erst ermöglicht. Jedoch ist die Mitgliederstärke von L‘étincelle nicht ausreichend, um diese Rolle auf nationaler Ebene überzeugend auszufüllen. Derzeit scheint tatsächlich in der Bildung von Strömungen der einzige Weg zu bestehen, die Situation zu ändern. Doch dafür zahlt man einen hohen Preis: Dies ist genau das, was immer gemacht wurde und immer zum gleichen Typ politischer Praxis führt, nämlich zum Ausfechten interner Kämpfe. Diese zermürben die Aktivist_innen und erschöpfen sich im Allgemeinen in einer sterilen Konfrontation zweier Wahrheiten, weit entfernt von einer gemeinsamen Weiterentwicklung. Die Folge sind über kurz oder lang Brüche und Spaltungen. Eine andere Option bestünde darin, von Zeit zu Zeit Plattformen bezüglich spezifischer Themen zu bilden und ansonsten die Dinge so zu belassen wie sie sind. So könnte die Debatte früher oder später doch noch in Gang kommen, auch wenn kurzfristig nichts an der beschriebenen Logik geändert würde.
Die politische Struktur: Autonomie statt Demokratie
Es bleibt die Frage der internen Struktur. Derzeit herrscht parteiintern keine Demokratie. Dies spiegelt sich in der Entstehungsgeschichte der NPA wieder. Zur gleichen Zeit bildeten sich parallel die nationale Leitung und vor Ort die Betriebs-, Stadtteil- und (in ländlichen Gegenden) Regionalkomitees. Es fehlten also alle Zwischenebenen, die die lokale mit der nationalen Ebene verbinden. Beim Gründungskongress im Februar 2009 wurde mit dem aus 192 Personen bestehenden Conseil Politique National (CPN, Politischer Nationalrat) eine solche Zwischenebene ins Leben gerufen, die die Vertretung der Parteimitglieder garantieren soll. Darüber steht der Exekutivrat, der sich aus 20 Mitgliedern des CPN zusammensetzt. Die geschaffenen Instanzen sind durchaus akzeptabel, problematisch sind jedoch die Verbindungen zwischen ihnen. Momentan verfügen sie alle über eine Art Autonomie. So ist nicht klar, mit welchem Mandat die Mitglieder des CPN tagen. Manche sind sehr gewissenhaft und tun alles, um eine Verbindung zwischen ihrem Komitee und dem CPN herzustellen. Andere pfeifen darauf. Die gleiche Sorge muss der Verbindung zwischen Exekutivrat und CPN gelten. Diese Versäumnisse machen sich schmerzhaft bemerkbar, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, wie zum Beispiel über Wahlbündnisse mit anderen Parteien. Vielen ist es übel aufgestoßen, dass sie von den Verhandlungen, die in ihrer eigenen Partei dazu liefen, aus der Presse erfahren haben. Über diese Frage läuft eine lebhafte Debatte in der NPA. Es besteht also Hoffnung auf strukturelle Veränderungen.
NPA in Aktion
Und was ist mit den Kämpfen? In der kurzen Zeit ihrer Existenz wurde die NPA darin eine wesentliche Akteurin. Wer in Frankreich zu einer Demonstration, einer Besetzung oder einer Versammlung geht, wird viele - manchmal gar ausschließlich - Aktivist_innen der NPA sehen. Jedoch gelingt es der Partei momentan nicht, eine eigene Dynamik der Kämpfe zu erzeugen. Sie bildet einen Rahmen, der es Aktivist_innen erlaubt, sich zu organisieren, allerdings zum Teil mit erheblichen Koordinationsschwierigkeiten. So ist es einigen dank der NPA gelungen, sich anlässlich der Kämpfe im Bereich der Universitäten und der Forschung zusammenschließen und lokal eine Strategie zu erarbeiten, auf nationaler Ebene war dies jedoch nicht der Fall. Obwohl die Bewegung mehrere Monate andauerte, kam es nicht zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe mit dem Exekutivrat und somit nicht zur Entwicklung einer Strategie. Ein weiteres Beispiel – zweifellos erfolgreicher, weil lokal begrenzt: Sans Papiers (illegalisierte Migrant_innen) hatten ein Gewerkschaftshaus besetzt und wurden durch die CGT brutal geräumt. Diese Besetzung und ihre Beendigung waren Gegenstand sehr heftiger Debatten, die die Unterstützer_innen der Sans Papiers entzweiten. Die NPA – selbst sehr uneins in dieser Frage – besetzte einen neuen Ort, getauft Ministerium für die Legalisierung aller Sans Papiers. Diese Aktion ermöglichte es, die Krise mit aufrechtem Gang zu überwinden und dem Kampf von Neuem eine politische Perspektive zu geben. Angesichts der Arbeit, die die Besetzung erfordert, ist klar, dass eine kleine Gruppe dies nicht geschafft hätte. Nicht überraschend finden sich also auf der Ebene der Kämpfe die gleichen Verhältnisse wie parteiintern: viel Energie, viel Motivation, aber eine fürchterliche Unbestimmtheit und Unsicherheit, insbesondere die Strukturen betreffend.
Um ein Fazit zu ziehen: Die NPA steckt voller Möglichkeiten und ist heute die einzige Akteurin, die in Frankreich ein vielversprechendes Kräfteverhältnis herstellen könnte, und dies auf revolutionärer und zugleich offener Grundlage. Sie kann erste Erfolge in einzelnen Kämpfen verbuchen. Die Offenheit trägt jedoch zu einer gewissen Unschärfe bei, welche zwar auf den ersten Blick sympathisch wirken mag, aber auch die politische Linie der Partei oft verschwimmen lässt. Bezüglich der in ihren Prinzipien angekündigten «revolutionären Transformation der Gesellschaft» bleiben folglich Zweifel bestehen. Wird versucht, alle und jede zufrieden zu stellen, bleiben letztlich die meisten unbefriedigt und werden demotiviert. Die Mehrzahl der Libertären hat sich schon wieder verabschiedet und den anderen Radikalen wie L‘étincelle und Gauche Révolutionnaire, ebenfalls trotzkistisch, fällt es schwer, einen wirklichen Impuls zu geben. Theoretische Debatten werden nicht geführt: Anstatt die Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Ideen zu suchen und so eine gemeinsame politische Kultur zu schaffen, verharrt man in jener sterilen Unschärfe. Als einzige Option scheinen interne Flügelkämpfe alten Stils zu bleiben – mit der Gefahr, dass eine Idee die andere besiegt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist die Gründung der Louise-Michel-Gesellschaft um den trotzkistischen Philosophen Daniel Bensaïd, die einen dringend benötigten theoretischen Schmelztiegel schaffen will. Freilich wird diese Aktivität einiger externer Intellektueller nicht ausreichen, um die internen Gegebenheiten der Partei massiv zu verändern. Ein weiteres wesentliches Hindernis für eine positive Entwicklung ist die Zentralität der Wahlen für die Aktivitäten der Partei. Zum einen fressen Wahlkämpfe ungeheuer viel Zeit, zum anderen kristallisiert sich die innerparteiliche Debatte um sehr sensible Fragen (das Verhältnis zu anderen Parteien etc.), was die verschiedenen Positionen erstarren lässt. Die Scheidelinie zwischen Reform und Revolution wird anhand taktischer Fragen gezogen, ohne dass die Möglichkeit bestünde, sie in kluger und politischer Weise zu diskutieren. Raus aus der NPA ...? Ja, aber wohin dann?
Die Autorin ist Mitglied der NPA in Paris mit libertärem Hintergrund.
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Erschienen in arranca! #41
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