Sichtbarkeit zwischen allen Stühlen

Interview zur Situation von palästinensischen Lesben und Transgender in Israel

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Im Jahr 2002 trafen sich einige palästinensische Lesben in einem Internetforum. Den Raum, in dem sie miteinander zu diskutieren und sich auszutauschen begannen, nannten sie „Safe Space“. Etwa ein Jahr später beschlossen sie, sich persönlich zu treffen. Bei diesem ersten Treffen entstand die Idee, auch in der realen Welt einen solchen Safe Space für palästinensische Frauen und Transgender zu schaffen. Neben Austausch und Diskussionen sollte dort auch Raum sein, Bedürfnisse dieser spezifischen Gruppe auszuloten und dazu dann auch politisch in Projekten zu arbeiten. Die Gruppe nennt sich ASWAT – das arabische Wort Aswat bedeutet soviel wie ‚Stimmen‘. Damit spielt sie darauf an, dass die eigenen Stimmen hörbar gemacht und die eigenen Geschichten erzählt werden sollen.

¿Kannst Du die spezifische Situation palästinensischer Lesben in Israel und den besetzten Gebieten ein wenig näher beschreiben?

Ghadir: Wir sind mit einer Menge von Herausforderungen konfrontiert, die auch für andere LGBTIQ-Gruppen rund um die Welt gelten. Besonders an unserer Situation ist jedoch, dass wir als palästinensische Minderheit in Israel ohne Minderheitenrechte multiplen Formen von Unterdrückung ausgesetzt sind. Die meisten LGBTIQ-Organisationen 1 in Israel sind jüdisch. Wir können zwar punktuell mit ihnen kooperieren, im Grunde sind ihre Forderungen und Ziele jedoch andere als die unseren.
Als palästinensische Minderheit in Israel kämpfen wir für gleiche Bürger- und Menschenrechte, und als Frauen in einer sehr konservativen, patriarchalen palästinensischen Gesellschaft kämpfen wir für gleiche Rechte als Frauen. Jeglicher Ausdruck weiblicher Sexualität ist dort tabu, von nicht-heterosexueller Orientierung gar nicht erst zu reden. Diese mehrschichtige Form der Unterdrückung wollen wir in unseren Projekten thematisieren. In den letzten sechs Jahren hat ASWAT unablässig daran gearbeitet, LGBTIQ-Rechte in unserer palästinensischen Gesellschaft zu pushen. Das an sich ist schon eine große Herausforderung.

¿Wie sieht Eure Arbeit konkret aus?

Hauptsächlich bieten wir verschiedene Empowerment-Gruppen an. Daneben geben wir regelmäßig Publikationen heraus, wir haben eine Webseite, auf der all diese Informationen auch abrufbar sind. Und wir haben eine arabischsprachige Hotline. Eine Menge Frauen in der arabisch-palästinensischen Community sind nicht mobil, sie können ihre Häuser nicht ohne Erlaubnis verlassen. Nun können sie zumindest die Hotline anrufen, wenn sie Hilfe oder Unterstützung brauchen. Oder sie können sich Informationen über das Internet besorgen.

¿Was genau ist das Ziel der Empowerment-Gruppen, die Ihr anbietet?

Die Idee dieser Empowerment-Gruppen war es, Frauen in einem geschützten Raum zusammenzubringen, in dem sie sich kennen lernen und über Ängste und Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, sprechen können. Die Hintergründe, aus denen die Frauen kommen, sind dabei oft sehr unterschiedlich und somit auch ihre individuellen Situationen. Manche Frauen etwa kommen aus der Stadt, andere wohnen in Dörfern. Manche leben noch bei den Eltern und sind abhängig von deren Unterstützung und der Erlaubnis, das Haus verlassen zu dürfen. Andere leben unabhängig. Manche Frauen sind Christinnen, andere Musliminnen oder Jüdinnen. Ein Teil lebt in Israel, ein anderer in den besetzten Gebieten.
Aus all diesen Differenzen gilt es zunächst, Grade an Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Das nächste Ziel ist, dass die Frauen über ihre Sexualität und ihre Identitäten sprechen und darüber, wie diese verschiedenen Identitäten sie repräsentieren.
In einem dritten Schritt bilden wir dann Multiplikator_innen aus, die nach draußen gehen und für ihre Werte und Rechte auch anderen gegenüber eintreten. Im Moment besteht zum Beispiel ein großer Teil unserer öffentlichen Arbeit darin, dass diese Frauen zu Konferenzen und Workshops gehen – auf lokaler wie internationaler Ebene - und ihre Geschichte erzählen. Bei einer feministischen Konferenz in Nazareth im November 2008 bin ich beispielsweise erstmals auch innerhalb des Landes öffentlich als Teil von ASWAT aufgetreten. Diese Erfahrung hat mich sehr gestärkt.

¿Was für Publikationen bringt Ihr heraus?

Bis vor wenigen Jahren gab es überhaupt kein Material zu lesbischen Lebensweisen oder Homosexualität in arabischer Sprache. Sehr wenig in der Literatur, keine Untersuchungen, kein Datenmaterial, keine persönlichen Geschichten oder sonstige Referenzen. Es war eine komplette Leerstelle. Diese Lücke wollten wir füllen. Also begannen wir, Newsletter, Informationsblätter und auch Bücher herauszugeben.
Unsere erste Publikation war ein Glossar mit Begriffen wie lesbisch, schwul, transgender oder intersexuell. Zum Teil gab es dafür im Arabischen keine Worte oder sie waren sehr abwertend. Wir wollten dem neutralere Begriffe entgegensetzen, die nicht verletzen. Ein Wort etwa, dass übersetzt soviel wie „Schlampe“ bedeutet und zur Bezeichnung von Lesben benutzt wird, haben wir durch einen Begriff ersetzt, der „Frauen, die Frauen lieben“ meint.
Danach hatten wir Veröffentlichungen mit Coming-Out-Geschichten, bei denen Frauen mit unterschiedlichen Hintergründen ihre Erfahrungen weitergeben. Manche dieser Publikationen richten sich an bestimmte Altersgruppen, an Teenager zum Beispiel, die gerade beginnen, sich Fragen zu ihrer Sexualität zu stellen oder an Frauen zwischen 30 und 40, die entdecken, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlen, unter Umständen aber schon verheiratet sind und Kinder haben. Ich denke, diese Geschichten sind sehr interessant, und es lässt sich viel davon lernen.

?Warum war es so wichtig, diese Geschichten zu veröffentlichen?

Du weißt ja, Leute denken, es ist das Ende der Welt, wenn sie sich ihren Eltern, der Familie oder Kindern gegenüber outen. Wir stellen dem andere Geschichten gegenüber und zeigen: Diese Frauen haben sich geoutet und leben trotzdem weiter. Und für die, die die Geschichten lesen, wird damit die Frage aufgeworfen, ob das vielleicht auch etwas über sie aussagt.
Es geht aber auch darum, die Herausforder-ungen zu teilen, mit denen die Frauen konfrontiert sind. So können andere mehr Empathie entwickeln und auch ihre Sichtweisen verändern. Dann sagen sie vielleicht nicht mehr: „Mit dir stimmt etwas nicht“, sondern stattdessen vielleicht: „Du wurdest so geboren und versuchst, mit den Herausforderungen, die das mit sich bringt, umzugehen.“

¿Welche Effekte aus Eurer Arbeit in den vergangenen Jahren seht Ihr?

Ich denke, eine der größten Veränderungen besteht darin, dass wir diesen Safe Space geschaffen haben. Darüber hinaus gelingt es uns heute, mehr Leute von LGBTIQ- und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenzubringen. Wir haben begonnen, Partnerschaften und Allianzen sowohl mit palästinensisch-arabischen als auch mit jüdischen Organisationen zu schließen. Es hat fünf Jahre gedauert, bis wir an diesen Punkt gekommen sind. Ich denke, wir mussten als Organisation erst reifen und uns mit vielen Themen zunächst selbst auseinandersetzen.
Zu Beginn waren wir vor allem auf lokaler und israelweiter Ebene aktiv. Jetzt haben wir auch Kooperationen in der Region aufgenommen, beispielsweise mit einer Organisation im Libanon, die einen ähnlichen Ansatz hat wie wir.
Unsere Forderungen werden jetzt stärker auch von anderen Gruppen aufgenommen. Beispielsweise sind wir ein Teil der Women‘s Coalition. 2
Lange Jahre waren wir von den politischen Agenden vieler palästinensisch-arabischer Organisationen ausgeschlossen. Es gab starke Vorbehalte, und andere Gruppen befürchteten, dass es ihre eigene Legitimität und Akzeptanz gefährden würde, wenn sie die Forderungen von ASWAT auch als eigene Forderungen deklarieren würden.
Eine Menge Organisationen hier arbeiten für Minderheitenrechte von Palästinenser_innen, aber sie sehen die Gruppe der LGBTIQ darin nicht als eigene Minderheit. Andererseits fielen wir bisher auch aus dem Profil vieler feministischer Organisationen heraus. Dort waren wir willkommen, wenn wir für feministische Ziele eintraten. Legten wir jedoch unsere eigene Agenda vor, in der sich diese Themen überkreuzen, waren wir oft isoliert. Langsam, sehr langsam, ändert sich das.
Auf eine Art schaffen wir dadurch eine soziale Bewegung, die unsere Sichtbarkeit und ein Bewusstsein für unsere Situation erhöht. Wir brechen mit Stereotypen und mit dem riesigen Tabu, dass Frauen über ihre Sexualität nicht reden. Dazu sind es dann auch noch lesbische Frauen. Ich denke, in diesem Zusammenhang macht es einen riesigen Unterschied, dass ASWAT existiert.

¿Was sind Eure Ziele für die Zukunft?

Eines unserer hauptsächlichen Ziele für die nächsten Jahre ist es, weiter den Boden für eine Bewegung zu schaffen, die zu einem sozialen Wandel führt. Wir wollen daran arbeiten, dass ASWAT tatsächlich ein Teil der LGBTIQ-Community wird, dass also andere Organisationen nicht nur ihre Haltungen, sondern auch konsequent ihre Forderungen und Ansätze verändern.
Wir wollen eine Community schaffen, die uns nicht nur Sichtbarkeit als Lesben ermöglicht, sondern die uns auch als eine gleichwertige Minderheit einschließt. Wir kämpfen quasi als eine Minderheitengruppe von LGBTIQ-Frauen um gleichen Zugang zu Rechten in der Community.
In unserer Realität ist das eine große Herausforderung, denn die politische Situation beeinflusst so ziemlich alles hier – speziell die Netanjahu-Regierung, die jetzt an der Macht ist, ruft sogar nach noch strengeren Restriktionen gegenüber der palästinensischen Minderheit. Dadurch werden wir als Palästinenser_innen noch stärker ausgeschlossen und das wiederum führt dazu, dass der Kampf um Gleichberechtigung auf dieser Ebene wieder stärker ins Zentrum rückt, nicht der um unser Lesbisch-Sein.

Das Interview führte Atlanta Athens

  • 1. LGBTIQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer
  • 2. Breites Netzwerk verschiedener feministischer Organisationen in Israel

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Erschienen in arranca! #42

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