V de Vivienda und die anonyme Mail
„Hallo Alle. Ich weiß, dass diese E-Mail vielen anderen ähnlich sehen mag, die im Netz zirkulieren, aber das trifft nicht zu. Diese E-Mail wird in ganz Spanien verschickt, um unsere Rechte einzufordern. Wir haben den gesamten März hindurch den Aufruf zu riesigen Saufgelagen in ganz Spanien miterlebt. Dieser Aufruf ist anders. In Frankreich protestieren die Jugendlichen für eine ‚Änderung‘ der ausbeuterischen Arbeitsverträge. Viele Stimmen in diesem Land haben sich darüber aufgeregt, dass die Jugendlichen nichts machen würden. Na gut, werden wir es ihnen zeigen? FÜR WÜRDIGEN WOHNRAUM, HER DAMIT!!“
Am Anfang stand eine anonyme Mail, die im Frühjahr 2006 durch das Internet zirkulierte. Über E-Mail-Listen, Blogs, Foren, SMS und soziale Netzwerke breitete sich die Forderung nach würdigem Wohnraum aus. In den folgenden Wochen beteiligten sich tausende Jugendliche an Sit-ins in spanischen Großstädten. Die Bewegung V de Vivienda entstand. Das erste Sit-in fand im Mai 2006 auf der Puerta del Sol in Madrid statt, es folgten Versammlungen in Barcelona, Zaragoza, Sevilla, Cordoba, Bilbao, Granada, Murcia und Logrono. Einen Monat lang versammelten sich jeden Sonntag Jugendliche auf öffentlichen Plätzen. Schilder mit selbst geschriebenen Sprüchen wie „Hypothek: lebenslängliches Zuchthaus“ prägten die Versammlungen. Herkömmliche politische Parolen fehlten. Passanten wurden von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen direkt angesprochen: „Ihr seid auch verschuldet.“ Zu diesen Sit-ins, die eher einer Party als einer Demonstration glichen, gab es keinen zentralen Aufruf einer Partei oder einer Organisation. Stattdessen riefen die Sit-ins selbst ihre Fortsetzung aus: „Nächsten Sonntag um fünf auf der Puerta del Sol!“
Du wirst in deinem verfickten Leben nie ein Haus besitzen!
Die Bewegung entstand auf dem Höhepunkt des spanischen Immobilienbooms. Allein seit 1999 hatten sich die Preise für Eigentumswohnungen fast verdreifacht. Gleichzeitig standen drei Millionen Häuser leer. Dies hatte massive Folgen, da es in Spanien nur wenige Mietwohnungen gibt und der Kauf einer Eigentumswohnung deshalb weitgehend alternativlos ist. Jugendliche und junge Erwachsene waren besonders betroffen. Viele mussten weiterhin bei ihren Eltern wohnen oder waren gezwungen, fast zwei Drittel ihres Einkommens dafür aufzubringen, die Hypotheken zurückzuzahlen. Diese hoffnungslose Situation kam vor allem in einem Slogan zum Ausdruck, der sich im Laufe der Zeit immer weiter verbreitete: „Du wirst in deinem verfickten Leben nie ein Haus besitzen!“
Gerade in ihrer Hoffnungslosigkeit lässt sich die Bewegung nicht von den immer prekärer werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen trennen. Längst ist Prekarität zu einem der zentralen gesellschaftlichen Konflikte Europas geworden. Ob Generation 1000 Euro, Generation 800 Euro, Génération précaire oder Generation Praktikum: Die soziale Krise hat ganzen Generationen ihren Namen gegeben. Dieser Zusammenhang wird nicht zuletzt in der anonymen Mail und dem darin enthaltenen Verweis auf die protestierenden Jugendlichen in Frankreich deutlich.
Leute, die viel im Internet sind …
Doch die Bewegung für würdigen Wohnraum lässt sich nicht allein durch diese soziale Krise erklären. Sie war zugleich ein Effekt der sozialen Medien, wie ein an der Bewegung beteiligter Blogger deutlich machte: „Der Kontext dieser Bewegung ist das Internet. 98 Prozent der Beteiligten sind Leute, die viel im Internet sind.“ Von Anfang an zirkulierten die Aufrufe der Bewegung durch die virtuellen Netze. Die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unpolitische spanische Blogosphäre wurde aktiv. Allein 160 verschiedene Blogs berichteten über die Sit-ins. Auch über E-Mails und vor allem über SMS wurde massiv mobilisiert. Medien, die zuvor in erster Linie privat gebraucht wurden, spielten plötzlich eine entscheidende politische Rolle. Und schon bald ging die Bedeutung des Internets über die Zirkulation von Aufrufen und Informationen hinaus. Zunehmend übernahm es eine unmittelbar organisatorische Funktion. Als die anonyme Mail auftaucht, „verwandelt sich das Netz in einen Katalysator, in die Stimme dieser Mail, die ein Grundrecht einfordert, das auf würdigen Wohnraum. Später wandelt sich das Netz von einem Ort, an dem man Informationen erhält, zu einem Treffpunkt.“ (Leodecerca, Aktivist und Blogger)
Virtuelle Werkzeuge
Dieser Wandel des Internets zeigte sich in den Ereignissen rund um die kommerzielle Online-Zeitung 20 minutos. Nachdem 20 minutos über die Sit-ins berichtet hatte, wurde der Artikel im angeschlossenen Forum der Zeitung viel kommentiert. Das Forum wurde zu einem Treffpunkt der Protestierenden. Schließlich schlug ein Beteiligter vor, die Diskussion in einem selbst eingerichteten Forum fortzusetzen. Gemeinsam wechselte man zu vdevivienda.megaslibres.com. Je mehr Initiativen in verschiedenen Städten entstanden, desto mehr verästelte sich das Forum. Gerade diese Verästelung versinnbildlicht den partizipativen und dezentralen Charakter der gesamten Bewegung. Es wurden Poster und Flyer produziert, Texte geschrieben, Aktionen geplant und Kampagnen für bestimmte Stadtteile vorbereitet. Hunderte Nutzer schrieben tausende Beiträge und machten das Forum damit zu einem Ort der kollektiven Produktion.
Auch wenn elektronische Medien eine entscheidende Rolle spielten, blieb die Bewegung V de Vivienda nie allein auf das Internet beschränkt. Neben den virtuellen Werkzeugen waren die in zahlreichen spanischen Städten entstandenen Nachbarschaftsversammlungen ihre organisatorische Stütze. Aber vor allem bildeten die Mobilisierungen auf der Straße das Zentrum der Bewegung. Dabei weisen die Sit-ins große Ähnlichkeiten mit der Tradition der Botellóns auf, die Mitte der 1990er entstand. Jugendliche, die sich die teuren Preise in Bars und Clubs nicht leisten konnten, feierten stattdessen auf der Straße und tranken Alkohol aus mitgebrachten Flaschen. Anfang des neuen Jahrtausends kamen dann die Macrobotellóns auf, zu denen sich Tausende über Webseiten, E-Mails und SMS verabredeten. Auf genau diese Ereignisse nahm die anonyme Mail Bezug und grenzte sich zugleich davon ab. Doch entscheidend sind nicht die Unterschiede zwischen Botellóns und Sit-ins. Entscheidend ist, dass die Bewegung V de Vivienda auf der Straße ebenso wie im Internet auf bereits bestehende soziale Dynamiken aufsetzte. Das Soziale geht dem Politischen voraus.
Trackback URL für diesen Artikel
Erschienen in arranca! #44
Kommentare
Kommentar hinzufügen