Über Synergien zwischen neonazistischem Terror und Staatsterrorismus

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Über 13 Jahre lang wurde die rassistische Mordserie stereotyp und unisono einem kriminellen ausländischen Milieu zugeordnet. Von „Döner-Morden“ war die Rede. Innerhalb von Tagen wusste man aber eine Menge über einen Nationalsozialistischen Untergrund/NSU, seine Mitglieder, über seine Verbindungen und das politische Umfeld.

Die Mitglieder des NSU waren jahrelang in neonazistischen „Freien Kameradschaften“ organisiert. Zu deren Credo gehört, alles, was nicht deutsch genug aussieht, in Angst und Schrecken zu versetzen, um „national befreite Zonen“ zu schaffen. Dazu zählten Angriffe auf MigrantInnen und Geschäfte, die diesen gehörten ebenso, wie Angriffe auf antifaschistische Gruppierungen. Dass Todeslisten dieser organisierten Neonazis existieren, ist seit Langem – auch den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden – bekannt.
Bislang werden im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 zehn Morde dem NSU zugeordnet. Zwei Mitglieder des NSU sollen sich 2011 das Leben genommen haben, das dritte Mitglied soll am selben Tag das Haus, in dem sie gemeinsam lebten, in Brand gesteckt haben.

Im Tal der Ahnungslosen

Diese ganze Zeit über verbreiteten Polizei, Verfassungsschutzbehörden und Medien über die politischen Motive der neun Morde lediglich eine Version. Es handele sich dabei um Abrechnungen innerhalb eines kriminellen und ausländischen Milieus. Obwohl genau dieses Motiv in keinem einzigen Fall bewiesen werden konnte und Hinweise auf rassistische Motive vorlagen, blieb man bei dieser Interpretation. Doch wenn Polizei, Verfassungsbehörden und Presse dieser Mordserie das Brandmal “Döner-Morde” geben, wenn sich eine Sonderkommission der Polizei den Namen “Soko Bosporus” gibt, dann verschweigen sie nicht nur rassistische, neonazistische Motive, sondern sie bedienen sich selbst rassistischer Zuschreibungen. Quasi über Nacht tauchen dann aber 24 Aktenordner beim Thüringer Verfassungsschutz auf, voll mit Indizien und Spuren, deren Auswertung zu raschen „Fahndungserfolgen“ führte.

Hat der Verfassungsschutz über Jahre die Verfolgung der NSU-Mitglieder durch die Polizei verhindert?

Man kennt es aus dem Fernsehen, aus vielen Krimiserien: Es kommt zu einem schweren Verbrechen. Die Polizei erscheint mit Blaulicht am Tatort und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt sie auf brisante Hinweise und will diesen nachgehen. Dann taucht entweder ein Beamter in Zivil auf, erklärt den Ermittlern, dass sie den Fall übernehmen oder der leitende Polizeibeamte wird zum Chef gerufen, der ihm mit vielsagenden Blicken erklärt, dass sie aus dem Fall raus sind. Anweisung von oben …

Diesen Konflikt zwischen Polizei- und Geheimdienststellen gibt es nicht nur im Fernsehen. Polizeidienststellen haben (für gewöhnlich) die Aufgabe, Straftaten aufzuklären. Geheimdienste, hier der Verfassungsschutz und möglicherweise der MAD/Militärischer Abschirmdienst, decken Straftaten und verhindern deren Aufklärung, wenn dies „übergeordnete Interessen“ gebieten.

Das Magazin Stern veröffentlichte Auszüge aus einem Observationsprotokoll des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA) vom Tag des „Polizistenmords von Heilbronn“. Darin wird detailliert beschrieben, dass in diese Schießerei nicht nur besagte Polizeibeamte, sondern auch ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes involviert waren. Nicht nur die Anwesenheit von Verfassungsschutzbeamten ist darin vermerkt, sondern ein weiteres wichtiges Detail. In dem Protokoll wird festgehalten, dass es sich bei den Attentätern um „right wing operatives“, also um Neonazis handelte.

Der Mordanschlag auf eine Polizistin dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Doch schon lange davor bauten sich Spannungen zwischen Polizeibehörden und Verfassungsschutzabteilungen auf. Das belegen Hinweise, die die Be- und Verhinderung der Polizeiarbeit auf Anweisung von oben dokumentieren. So war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, „dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.“ (Frankfurter Rundschau vom 8.12.2011) Es ist also eine Legende, dass die im Jahr 1998 abgetauchten Neonazis „spurlos“ verschwunden seien. Tatsache ist vielmehr, dass diese Neonazis nur abtauchen konnten, weil sie den Schutz von Verfassungsbehörden genossen.

Die Legende von den Pannen innerhalb der Sicherheitsbehörden

Die „Versäumnisse“ und „Pannen“, die Polizei- und Verfassungsbehörden einräumen, werden mit mangelnder Zusammenarbeit erklärt. Dies geht mit der Forderung aus der Politik einher, dass in Zukunft Polizei und Verfassungsschutz enger und koordinierter (in Lagezentren) zusammenarbeiten müssten. Diese Eingeständnisse führen nicht nur in die Irre, die Forderung nach koordinierten Lagezentren stellt zudem eine weitere Verhöhnung der Opfer dar. Die Tatsache, dass über 13 Jahre hinweg erfolgreich verhindert werden konnte, was innerhalb von Wochen möglich wurde, beweist, dass über ein Jahrzehnt lang alle daran Beteiligten an einem Strick gezogen haben.

Die Selbstmordthese ist so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos verschwunden

Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Zwickau im November 2011 wird unisono als Selbstmord kommuniziert. Diese Version wird in allen Medien vertreten, obwohl dieselben Medien einräumen, dass sie sich jahrelang an der Nase herumführen ließen und so mitgeholfen haben, falsche Fährten festzutreten.

Allein die Tatsache, dass es für den Tathergang zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt, müsste jedoch stutzig machen.
Die erste Version entstand kurz nach dem Überfall und wird von der Thüringer Allgemeinen, die sich dabei auf Polizeiangaben stützte, so beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen Wohnwagen, dessen Spur auch Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die Beamten näherten sich dem verdächtigen Wohnwagen. Dann hörten sie „aus dem Innenraum zwei Knallgeräusche“ … Kurz darauf brannte der Wohnwagen und dann war alles vorbei.

Die zweite Version ist jünger und stammt vom Leiter der Soko in Thüringen, der mit seinem Einsatzkommando am selben Tatort war: Dieses Mal benutzten die Täter Fahrräder für ihren Banküberfall. Dieses Mal wurden diese ihr Verhängnis. Als die Beamten auf den Wohnwagen stießen, wurden sie sofort mit MP-Salven empfangen: „Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen“. Dann soll die MP geklemmt haben, worauf die Schützen sich selbst umgebracht hätten.
Wenn beide Versionen so deutlich auseinanderliegen: Warum wird die Selbstmordthese nicht in Frage gestellt? Hat man Angst davor, sich vorzustellen, wie es anders gewesen sein könnte?

Inszenierter Selbstmord?

Wenn irgendjemand über 13 Jahre hinweg im „Untergrund“ sicher war, dann der NSU! Was war an dieser staatlich lizenzierten Erfolgstory aussichtslos? Warum sollte eine klemmende MP der Grund sein, sich selbst zu erschießen, obwohl die beiden Neonazis noch im Besitz anderer Waffen waren?
Wie darf man sich das vorstellen: Zuerst schießen die beiden mit der MP um sich, dann klemmt diese, Zeit genug, mit der rechten Hand ihre Komplizin anzurufen, mit der linken den Campingwagen in Brand zu setzen, und nachdem alles ordentlich erledigt wurde, sich selbst umzubringen?Das In-Brand-Setzen des Campingwagens, das Abbrennen des Basislagers/Hauses in Zwickau, die Beseitigung von Spuren, macht nur Sinn, wenn jemand an die Zeit danach denkt, was in aller Regel Lebende tun …

Wie viele V-Männer hatte die NPD im Verfassungsschutz – oder war es doch umgekehrt?

Fügt man alle bis heute aufgetauchten Indizien und Spuren zusammen, darf festgehalten werden: Die Existenz des NSU ist ohne die NPD denkbar, aber nicht ohne die finanzielle, logistische und geheimdienstliche Unterstützung des Verfassungsschutzes in Thüringen.

Die Legitimation des Verfassungsschutzes wird immer wieder damit begründet, dass die von ihm finanzierten V-Männer Einblick in neonazistische Strukturen gewähren, um Straftaten und Verbrechen zu verhindern. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Ohne das Zutun verschiedener Verfassungsschutzbehörden wäre die Mordserie nicht möglich gewesen.

Der Rettungsschirm für den NSU liegt im Innenministerium

Selbstverständlich reichen auch die Befugnisse des Verfassungs
schutzes nicht aus, schon gar nicht über einen Zeitraum von über 13 Jahren, in aller Selbstherrlichkeit die Polizei zu behindern bzw. zu hintergehen.
Ganz gleich, welchen Anteil Polizei und Verfassungsschutz an der Mordserie des NSU hatten, oberste Dienststelle ist das Innenministerium.
Der Schlüssel für die fortgesetzte Untätigkeit, der Schlüssel für den verbrecherischen Umstand, dass Mitglieder des NSU über zehn Jahre hinweg morden konnten, liegt also im Innenministerium des Landes Thüringen.

Warum wird bis heute nicht gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Strafvereitelung und des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ermittelt?

Eine ausführliche Version des Textes gibt’s unter: https://wolfwetzel.wordpress.com

Wer davon noch nicht genug hat bzw. das hier Beschriebene für einen landesspezifischen Sonder-, also Einzelfall hält, wird zu einer Reise durch hessische Geheimdienste eingeladen:
„Es geht nicht darum, einen guten Verfassungsschutz zu haben, sondern gar keinen“
(gleiche Website)

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Erschienen in arranca! #45

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