Das Einfache, das schwer zu machen ist

Eine Leseliste mit Geschichte und Geschichten über die Organisation des Kommunismus

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Bertolt Brecht bezeichnete den Kommunismus als „das Einfache, das schwer zu machen ist" und verwies damit auf den Widerspruch zwischen Utopie und politischer Praxis, auf die „Mühen der Ebene". Es ging um die alltägliche Schwierigkeit, sich mit vielen verschiedenen Menschen über ein gemeinsames Ziel zu verständigen und diese Verständigung nicht als Selbstlähmung, sondern als vorwärtstreibenden Kampf zu organisieren. Die politische Linke von heute steht dabei vor dem Problem, dass einst selbstverständliche Kollektive wie „wir Frauen" oder „die Arbeiterklasse" fragwürdig geworden sind, das revolutionäre Subjekt sich in „Multitude" und „Mosaik-Linke" auszufransen scheint. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass auch im 19. und 20. Jahrhundert Klasse und Klassenbewusstsein Begriffe waren, um die gestritten wurde, die unterschiedliche politische Identitäten und Organisationsformen beinhalteten. Die folgende kleine Auswahl von biographischen Annäherungen an Revolutionärinnen und Revolutionäre der Vergangenheit will diese Vielfalt auffächern. 

Der Begriff des Kommunismus

Eine vieldiskutierte Suche nach dem Begriff des Kommunismus wagte Bini Adamczak vor mittlerweile elf Jahren mit ihrem Buch Kommunismus. Eine kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird. Etwas historischer und komplexer ist ihr Folgewerk Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Dieses Buch beginnt mit dem Hitler-Stalin Pakt und der tragischen Erfahrung von Margarete Buber-Neumann, die 1940 als deutsche Kommunistin mit vielen anderen von der sowjetischen Geheimpolizei an die Gestapo ausgeliefert wurde. Diese und andere Memoiren und Biographien montiert Adamczak zu einer Collage, die den Weg vom Abgrund des Jahres 1940 hin zur Glut des revolutionären Begehrens von 1917 zurückgeht: „Ohne den Gang durch die Geschichte der revolutionären Versuche wird es keine revolutionäre Versuchung mehr geben. Trauer, Traum und Trauma, von denen das dritte sich um den zweiten schließt und nur durch die erste jemals sich wieder zu öffnen erweicht werden könnte. Auf der Möglichkeit kommunistischer Begierde lastet nicht nur das Ende der Geschichte, sondern vor allem das Ende der Revolution. Nicht nur 1989, sondern auch, mehr noch, 1939, 1938 und folgende bis 1924, bis 1917".

Arbeit und Klasse

Ohne Geschichte geht es also nicht, wenn wir heute wieder über revolutionäre Organisierung sprechen wollen. Doch Revolution und Kommunismus hatten nicht erst 1917 ihren Anfang. Das Jahr war vielmehr Gipfelpunkt einer langen Reihe revolutionärer Versuche in Europa, die in bitteren und oftmals verzweifelten Kämpfen sich bis zurück in das Jahr 1789 verfolgen lassen.

Im Mittelpunkt stand hier stets die Klasse der Arbeiter*innen, Frauen und Männer ohne Besitz und Status, von deren Kämpfen stets auch Erfolg und Misserfolg jeder bürgerlichen Revolution abhingen. Einen dieser Kämpfe beschreibt Emile Zola in seinem Jahrhundertroman Germinal aus dem Jahr 1885, der wie kein anderer die erbärmlichen Lebensumstände, aber auch den Stolz französischer Bergarbeiter und ihrer Familien schildert. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Streik, der innerhalb der Belegschaft des Schachtes „Le Voreux" hoch umstritten ist – ein Teil will aushalten, ein anderer sich mit dem Besitzer einigen. Streikgeld, Streikrecht oder eine gut gefüllte Gewerkschaftskasse existieren nicht, die Frage des Widerstandes und seiner Organisation wird zur Existenzfrage. Im Mittelpunkt des Romans steht der Maschinist Etienne Lantier, der für den Streik agitiert, jedoch am Ende Gefangener seiner Eitelkeit wird. Die Gegenseite erweist sich als stärker, ein Abbruch des Streiks durch die ausgehungerten Bergleute droht, der gefeierte Sozialist wird zur Persona non Grata. Zola zeigt mit dem Blick auf das Scheitern die Organisationsfrage als Existenz- und Überlebensfrage.

Revolutionäre Biographien Europas

Bei Zola als Problem angelegt, jedoch in der Schwebe bleibend ist das Verhältnis der Masse zu den Revolutionär*innen. Letztere waren es, die ihr Leben für die Sache hingaben, gleichzeitig jedoch auch immer Führung waren und Macht ausübten – Macht, die auch missbraucht werden konnte. Die besten Biographien der Revolution sind vielleicht aus diesem Grund von den „Besiegten", Schriften aus dem Exil und Reflektionen gescheiterter Existenzen. Eine beeindruckende literarische Annäherung an diesen Typus ist Michel Ragons Roman Das Gedächtnis der Besiegten, dessen französisches Original im Jahr 1990 erschien. Ragon beschreibt die Kunstfigur Fred Barthelemy, ein französischer Anarchist, der sich als Kriegsgefangener der Oktoberrevolution anschließt und im Folgenden den Spanischen Bürgerkrieg, die französische Résistance und als alter Mann die 68er Bewegung erlebt. Mitunter wirkt die allgegenwärtige Präsenz der Hauptfigur etwas konstruiert, schablonenhaft ist auch die linke Variante der Totalitarismustheorie, mit der Ragon Faschismus und Stalinismus gleichsetzt. Dennoch lässt das Buch viel erahnen von den Hoffnungen und Enttäuschungen der revolutionären Versuche des kurzen 20. Jahrhunderts zwischen 1917 und 1989. Für den Realismus von Ragon spricht die Tatsache, dass viele Leser*innen auf dem Pariser Friedhof Pére

Lachaise vergeblich das fiktive Grab der Hauptfigur suchten. Wer hinter die Fiktion sehen will, sollte Victor Serges autobiographische Erinnerungen eines Revolutionärs – 1901–1941 lesen. Serge ist der eigentliche Fred Barthelemy: Sohn russischer Emigranten in Frankreich, Anarchist in der russischen Revolution. Er beschreibt seinen politischen Lebensweg von der belgischen Sozialdemokratie zum französischen Anarchismus bis hin zur kommunistischen Internationale, in der er als enger Mitarbeiter des Vorsitzenden Grigorij Sinowjew tätig war. Aus Enttäuschung über die autoritäre Wende der Revolution schloss sich Serge der linken Opposition Leo Trotzkis an, was ihn in Gefängnisse und Verbannung führt. Nur durch eine international Solidaritätskampagne erreicht er eine Ausreisegenehmigung, die ihn vor dem Tod im Lager rettet. Es existiert keine andere Autobiographie, die so authentisch die Auseinandersetzung mit Sozialdemokratie, Anarchismus und Kommunismus sucht und dennoch sich selbst treu bleibt.

Vergleichbar mit Serge ist allenfalls die 1929 unter dem schlichten Titel Mein Leben erschienene Autobiographie von Leo Trotzki, der dem Anarchismus fernstand, dafür jedoch Einblicke in Aufstieg und Fall des Bolschewismus bietet wie kaum ein anderer. Trotzki, verfemt und verleumdet von der Propaganda des Stalinismus und lächerlich gemacht durch manch sektiererische Nachahmer*innen, ist ein in der radikalen Linken unterschätzter Autor. Wer seine Autobiographie zur Hand nimmt, lernt nicht nur den Organisator des Oktoberaufstandes von 1917 und den Gründer der Roten Armee kennen, sondern auch den Alltag eines russischen Provinznestes, in dem Trotzki als Kind eines jüdischen Gutsbesitzers seine Jugend verbrachte. Als Gymnasiast in revolutionäre Zirkel gelangt, wurde er gleich nach dem Schulabschluss verhaftet – seine Universitäten waren Gefängnis, Exil und Verbannung, prägende Erfahrung für eine ganze Generation revolutionärer Jugendlicher. Als Organisationsformen lernen wir hier die sozialdemokratische Partei in ihrer besten Zeit kennen: als illegale Organisation im Kampf gegen die absolute Monarchie, daneben auch das marxistische Zirkelwesen, ebenfalls ein Kind der Repression. Erst später geht es dann um die Dialektik von Räten, Revolution und Stalinismus, in der Trotzki die „Diktatur des Proletariats" als Parteidiktatur nicht nur verteidigt, sondern auch mit Gewalt durchsetzt – und dann erleben muss, dass mit derselben Härte in den Händen Stalins die Revolutionär*innen und ihr Werk vernichtet werden. 

Die Frage der Identität – Herrsch Mendels Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs

Ein jüdischer Revolutionär wie Leo Trotzki war auch Herrsch Mendel, der Fragen von Identität und Kultur jedoch eine weit größere Bedeutung zumaß als Trotzki. Mendels Judentum prägt nicht nur den Titel seiner 1959 erschienenen Autobiographie, sondern auch die Erzählung selbst. Er entführt seine Leserinnen und Leser in die untergegangene Welt des polnisch-russisch-jüdischen Proletariats, beginnend mit einer Kindheit im jüdischen Arbeitermillieu Warschaus um 1900, damals Teil des russischen Imperiums. Ohne die Revolution von 1905, so berichtet Mendel, „wäre ich bestimmt im Sumpf der kriminellen Unterwelt der Smocza Gasse versunken". Doch er entdeckt die Bewegung, berichtet von Streiks und Arbeitskämpfen und schließt sich schließlich dem Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland an, einer sozialistischen Organisation in der das Jiddische Umgangssprache war und die Forderung einer „national-kulturellen Autonomie" in einem nachrevolutionären Russland aufgestellt wurde. Es waren Organisationen wie diese, die Lenin und die Bolschewiki zu ihrer offenen Nationalitätenpolitik bekehrten und die Gründung der Sowjetunion als Anti- Nationalstaat mit der Internationale als Hymne und zahlreichen Amtssprachen ermöglichten. Errungenschaften, die später ebenfalls dem Stalinismus zum Opfer fielen. Mendel berichtet aus der Perspektive eines einfachen Aktivisten über diesen Wandel. In wenig literarischer doch eindringlicher Sprache erzählt er von Gefängnissen, Aufständen, zerbrochenen Träumen und dem tragischen Untergang einer jüdischen Revolutionsbewegung, der ihn schließlich ins israelische Exil trieb. Für deutsche Leser*innen, die das Judentum oft nur aus der Perspektive von Opfern des NS nahegebracht bekommen, ist das Buch die Entdeckung einer unbekannten Welt. Zur Frage der Organisation zeigt es eindrücklich, dass sozialistische Solidarität gegen Antisemitismus und jenseits ethnischer Abschottungen möglich ist.

Weltrevolution – Tina Modotti und die Komintern

Von der Länder und Kulturen übergreifenden Faszination des Kommunismus berichtet abschließend auch die romanhafte Nacherzählung des Lebens der Fotografin und Revolutionärin Tina Modotti, deren Fotos wie die Frau mit Fahne aus dem Jahr 1928 bis heute linke Bilderwelten prägen. Elena Poniatowska hat in ihrem 1992 erschienenen Roman Tinissima das Leben Tina Modottis nachgezeichnet. Sie folgt ihrer Protagonistin von der Kindheit in einer italienischen Kleinstadt über die USA, das Mexiko der 1920er Jahre, aus dem sie im Jahre 1930 als Kommunistin ausgewiesen wurde, bis ins sowjetische Exil und den Spanischen Bürgerkrieg. Modotti erscheint als schillernde Figur, als Schauspielerin und Aktmodell, später Fotografin mit eigenem Werk, als Krankenpflegerin im Bürgerkrieg und Übersetzerin im Apparat der Komintern. So entsteht ein wahrhaft kosmopolitischer Lebensroman, der die weltumspannende Faszination des Kommunismus in den 1920er und 30er Jahren aufzeigt, gleichzeitig jedoch auch die Spannung zwischen Utopie und Apparat, zwischen Intellektuellen und den Massen und die Zerrissenheit einer Frau in einer Männerwelt. Modottis Lebensweg steht somit weniger für die Organisationsfrage vor Ort, sondern zeigt, dass auch globale Solidarität in Form von Kampagnen und transnationalen Netzwerken eine Organisation erfordert. Für Modotti waren dies die Kommunistische Internationale und die Rote Hilfe, deren Degeneration zu Werkzeugen von Stalins Außenpolitik sie jedoch nicht zu verhindern suchte: durch Rituale von Kritik und Selbstkritik eingeschüchtert, beugte sich auch Modotti und akzeptierte die Diktatur einer Geheimpolizei als notwendig zur Rettung der Revolution. Wie viele der vorgestellten Biographien zeigt somit auch dieser Lebensroman den Umschlag von Organisation in Herrschaft.

Erfahrungen wie diese, in denen die Organisation zur Partei und die Partei zum Staatsapparat wird, haben die radikale Linke für Generationen geprägt. Neben dem Stalinismus ist hier auch die Transformation der Sozialdemokratie zu nennen – sie wurde nie zur Diktatur, gab jedoch in der Verschmelzung mit dem Staat Stück für Stück ihre utopischen Ansprüche auf. Beide Erfahrungen wirkten prägend, führten zu Suchbewegungen nach einem „Dritten Weg" in der radikalen Linken, nach 1968 jedoch oft zur Organisationsfeindlichkeit. Denn wer sich nicht organisiert, muss keine Kompromisse eingehen, ist an keine Gruppenbeschlüsse gebunden oder kann sich die Kleinstgruppe nach eigenem Gusto suchen. Dass damit jedoch auch die Perspektive, mehr zu werden und die Welt zu verändern stillschweigend aufgegeben wurde, wird mittlerweile wieder hinterfragt. Kommunismus, aber auch Organisierung sind keine Tabubegriffe mehr – es gilt, sie sich neu anzueignen. Weder die Nachahmung der Vergangenheit noch der Bruch mit allem je Gewesenen sind eine Lösung – gefragt ist die kritische Aneignung vergangener Erfahrungen, und biographische Literatur ist dafür geeignet wie kaum eine andere Textsorte.

Leseliste

  • Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, 2011
  • Emile Zola: Germinal, 1885
  • Michel Ragon: Das Gedächtnis der Besiegten, 1990
  • Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs, 1951
  • Trotzki: Mein Leben, 1929
  • Hersch Mendel: Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 1959
  • Elena Poniatowska: Tinissima. Der Lebensroman der Tina Modotti, 1992

Die Auswahl ist ein erstes Ergebnis aus dem Projekt „Büchergruppe“, das an einer umfassenden Leseliste für kritische Jugend- und Kulturarbeit werkelt. Ziel ist es, eine Auswahl von „wichtigen“ Büchern für eine „linke historische Grundbildung zusammenzustellen, ein kleiner Kanon linker Literatur. Mehr über das Projekt hier.

 

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Erschienen in arranca! #48