„Was wir wollen, ist kein Witz..."
Organisierungsansätze im Feld sozialer Reproduktion
Am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg steht seit Mai 2012 eine kleine Holzhütte, die das Stadtbild verändert hat. Seitdem die Mieter_innengemeinschaft Kotti & Co ihrem Protest gegen die Politik im sozialen Wohnungsbau einen permanenten und allem voran öffentlichen Ort gegeben hat, trifft sich hier die direkte und erweiterte Nachbarschaft zum Diskutieren, Tee trinken, Reden, Filme schauen und vielem mehr. Mit dem Gecekondu (türkische Bezeichnung für eine informelle Siedlung) ist so nicht nur ein neuer politischer Raum entstanden, an dem zuvor individuell wahrgenommene Probleme als gemeinsame verstanden und bearbeitet wurden. Als die Miete stieg, waren immer mehr der Alt-Eingesessenen lautlos weggezogen. Nun wurde der „politische Wille“ für die Festlegung einer Mietobergrenze eingeklagt. Gleichzeitig öffnete sich mit dem Gecekondu auch ein sozialer Raum, der die Begegnung unterschiedlicher Menschen und Erfahrungen befördert, die gewöhnlich durch eine Vielzahl an sozialen Spaltungen getrennt bleiben. Was wir an Kotti & Co – im Bewusstsein der unzähligen Hürden und Widersprüche – spannend finden, ist die Artikulation und Politisierung bestimmter Bedürfnisse, die hier stattgefunden hat. Sie ermöglichen die Verschränkung der beiden Dimensionen – der politischen und der sozialen – nicht nur, sondern wurden auch durch sie ermöglicht. Denn jene Bedürfnisse, die wir hier meinen, sind Teil eines Aushandlungsprozesses, der die Anerkennung verschiedener gesellschaftlich zugewiesener Positionen umfasst und daher im eigentlichen Sinn solidarisch ist. Und diesen Prozess sehen wir durch den Aufbau von Vertrauensbeziehungen gestärkt.
Das Primat der Bedürfnisse
Den Aspekt der Aushandlung und Artikulation von Bedürfnissen hat die Nachbarschaftsvernetzung mit einer zunehmenden Zahl an Kämpfen gemein: Beispielsweise mit der Tarifbewegung am Berliner Universitätsklinikum Charité, die für einen festen Schlüssel von Patient_innen pro Pflegekraft streitet und damit nicht nur für die Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen, sondern der Versorgung im Krankenhaus generell. Sie bezieht die Perspektive der Patient_innen mit ein. Auch queerfeministische Zusammenhänge diskutieren vermehrt darüber, wie Menschen mit unterschiedlichen Lebensformen zu Wahlfreiheit über Sorge und Versorgtwerden gelangen können. Modelle also, die mehr Realitäten berücksichtigen als der patriarchale Wohlfahrtsstaat und die biologische Familie. In eben diesem Sinne formuliert das Netzwerk Care Revolution, das alle genannten Initiativen vereint, sein Ziel einer „bedürfnisorientierten Care-Ökonomie“.
Wir argumentieren in diesem Artikel, dass eine solche öffentliche Verhandlung von Bedürfnissen den Boden für Forderungen und Kämpfe bereitet, die verschiedene Unterdrückungsmechanismen in den Blick nehmen und sich darüber mit einer umfassenden Kapitalismuskritik zusammenbringen lassen. Für eine radikale (interventionistische) Linke, die es mit der Entwicklung einer Transformationsperspektive ernst nimmt, ist es daher notwendig, die Impulse dieser Auseinandersetzungen aufzunehmen. Wir möchten zuletzt überlegen, was dem heute noch im Wege steht oder wie dies geschehen könnte.
Abgespalten, abgewertet, unsichtbar gemacht
Dafür gilt es, zunächst die Spezifik jener Kämpfe herauszustellen. So mehrt sich die Formulierung von Bedürfnissen nicht zufällig im Feld der sozialen Reproduktion – mit dem wir ganz allgemein die Gesamtheit der „Strukturen und Bedingungen, die zum Erhalt und Fortbestand des menschlichen Lebens notwendig sind“ meinen (trouble everyday collective). Denn ihre Bestimmung verläuft ja zwingend über die Frage, was für ein gutes Leben gebraucht wird. Eine klare Abgrenzung des Feldes ist demnach per se unmöglich. Besonders sichtbar sind derzeit jedoch neben dem Thema Wohnen gerade jene Bereiche, die Sorgearbeit an sich und anderen umfassen, irrelevant ob bezahlt oder unbezahlt, zuhause oder in einer Institution geleistet – also etwa Gesundheitsversorgung, Pflege, Erziehung, aber auch Haushalts- oder Sexarbeit. Charakterisiert wird das Feld der sozialen Reproduktion ebenso über seine spezifische Strukturiertheit im Kapitalismus, die an dieser Stelle nur sehr knapp umrissen werden kann. Roswitha Scholz etwa bezeichnet das hier wirkende Prinzip als „Wert-Abspaltung“: Bestimmte Reproduktionstätigkeiten und damit verbundene Gefühle und Haltungen (etwa Emotionalität und Fürsorglichkeit) werden vom System der abstrakten Arbeit getrennt und einer „weiblichen Lebenswelt“ zugewiesen. Sie gelten als natürlicher Wunsch, gar Instinkt von Frauen. Damit einhergehend werden sie abgewertet und unsichtbar gemacht – was sich als schlecht bezahlte Lohnarbeit auch in kommodifizierter Form fortsetzt. Wo Frauen ausreichend Ressourcen haben, die Tätigkeiten weiter zu delegieren, geschieht dies darüber hinaus anhand rassistischer und klassenbezogener Linien – etwa an oft illegalisierte, migrantische Hausarbeiter_innen. All das führt zu einer enormen Belastung – wenn auch nicht für alle Menschen gleich stark. Leider wird das meist nicht als strukturelles Problem wahrgenommen, sondern als persönliches Scheitern. Vor dem Hintergrund neoliberaler Umstrukturierungen (Kürzungen im sozialen Sektor und arbeitsmarktpolitische Veränderungen) haben allerdings immer breitere Bevölkerungsschichten Schwierigkeiten damit, ihren Alltag zu meistern: Sei es, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können, als Erzieher_innen an den Rand der Belastung gedrängt werden, oder weil sie neben dem Beruf noch Pflege für Kinder und Angehörige leisten müssen.
Sprechfähigkeit als erster Schritt
Für Organisierungsansätze im Feld der sozialen Reproduktion hat das gewichtige Folgen. Moralische Aufladung, Unsichtbarkeit, Individualisierung und das Gefühl des persönlichen Versagens stellen Hürden dar. Und auf die Frage, warum diese Hürden an manchen Orten durchbrochen werden und an anderen nicht, gibt es keine allgemeingültige Antwort. Der erste Schritt aber hat in vielen Fällen die gleiche Form: Jemand beginnt zu reden. Nicht automatisch, aber im besten Fall mit verschiedenen Folgen. So kann die Erfahrung, dass andere Menschen Ähnliches erleben, zu der Erkenntnis führen, dass die eigenen Probleme nicht so individuell sind wie vielleicht gedacht. Kommunikation ist eine notwendige Bedingung dafür, überhaupt private Probleme zu re-politisieren und anderen diesen Sprung zu erleichtern. Das ist keine neue Erkenntnis und wird doch viel zu oft nicht ausreichend beachtet - oder als Befindlichkeitspolitik abgestempelt. „Erschrocken (Zitat aus dem Protokoll) wurde in einem Workshop auf der Aktionskonferenz Care Revolution, die den Auftakt des Netzwerkes bildete, die Erkenntnis geteilt, dass die biologische Familie noch immer eine hohe Bedeutung habe und in Krisen oft noch verbindlicher sei als die Community. Die fortdauernde Bedeutung heterosexistischer Normen schränke die eigene Wahlfreiheit hinsichtlich alternativer Lebensformen und Sorge-Arrangements ein. Der Austausch darüber wurde seither weitergeführt. Das Besprechen von „privaten“ Konflikten, eng verbunden mit dem Aufbau von Vertrauensbeziehungen, kann auch in sogenannten Ein-Punkt-Initiativen, die sich um ein spezifisches Thema formiert haben, ein Verständnis für unterschiedliche Betroffenheiten und damit eine echte Solidarität befördern. Echt in dem Sinne, dass es sich nicht (nur) um die zufällige Übereinstimmung von Interessen handelt, sondern um die Anerkennung der Belange anders Betroffener und die Einbeziehung jener in die Formulierung von Forderungen.
Die Mieter_innen-Gemeinschaft Kotti & Co betont, dass sich die gesellschaftlichen Trennlinien auch in ihr selbst widerspiegeln – der junge Akademiker, dessen Miete vom Jobcenter nicht mehr übernommen wird, ist anders betroffen als die migrantische Krankenpflegerin, deren Gehalt nicht mehr ausreicht. Und doch sind starke Beziehungen entstanden, in denen die gegenseitige Unterstützung über das Mietproblem hinausgeht. Die Sorgen und Nöte des Alltags sind in einer sozialen Organisierung stärker präsent und müssen beständig neu bearbeitet werden: Nicht umsonst positioniert sich Kotti & Co auch gegen rassistische Diskriminierungen. Zuletzt geht es auch um die Erfahrung solidarischer, kollektiver und selbstermächtigender Praxen. Unseres Erachtens ist diese Anerkennung die Basis für eine umfassende Kapitalismuskritik, die nicht auf dem Ausschluss anderer beruht. Dies ist kein Automatismus, sondern eine Chance – eine Chance, diese Kämpfe mitzuprägen. Es kann also nicht darum gehen – wie oftmals gefordert wird – die eigenen politischen Ansichten zurückzuhalten, weil man sonst dominiere, sondern sie zur Diskussion zu stellen und sich auf die Erfahrungen und die Organisierungsformen einzulassen. Denn fern davon, fertige Antworten servieren zu können, haben wir von jenen Kämpfen noch viel zu lernen.
Herausforderungen für die radikale Linke
So führt die Spezifik des Felds der sozialen Reproduktion etwa dazu, dass es (noch) keine institutionalisierte Form gibt, wie Konflikte um Bedürfnisse ausgetragen werden können. Stattdessen müssen die Formen der Politik in den Kämpfen selbst neu erfunden werden. Der Tarifbewegung an der Charité etwa gelang dies über die Formulierung einer qualitativen Forderung nach mehr Personal im Krankenhaus. Denn der Mangel führt nicht nur zu einer psychischen wie physischen Überforderung der Pflegekräfte durch die hohe Arbeitsintensität, sondern direkt damit verbunden mit einer Gefährdung der Patient_innen. Unter dem Motto „Mehr von uns ist besser für alle“ formte sich dann auch ein breites Bündnis, das die Bedürfnisse beider Seiten verhandelt. Die Forderung nach einer Mindestpersonalbemessung widerspricht der Profitlogik im kapitalistischen Krankenhaus und bereitet daher den Boden für weiterführende Auseinandersetzungen, für grundlegende Veränderungen. In vielen Kämpfen im Feld der Reproduktion ist dieses Potential allerdings nicht an dem Vokabular der radikalen Linken zu erkennen – einem Vokabular, das oft sehr szenespezifisch ist und meist radikaler als die eigentliche Politik. In anderen Auseinandersetzungen wird eine solch weitreichende Forderung hingegen überhaupt nicht erhoben.
Um für uns einen Maßstab zu erhalten, müssen wir lernen, situationsspezifisch jene Forderungen zu erkennen, um sie zu unterstützen, für uns selbst zu formulieren und zu verbreiten. Allem voran müssen wir aus jenen Auseinandersetzungen jedoch lernen, selbst die Abspaltung der reproduktiven Sphäre in unseren eigenen politischen Zusammenhängen zu überwinden. Zugespitzt formuliert ist unsere verbreitete Form des Aktivismus selbst eine Hürde für den Anschluss an jene Kämpfe im Feld der sozialen Reproduktion. Er ist dadurch kennzeichnet, dass Fragen und Probleme der sozialen Reproduktion ausgeklammert werden oder zumindest untergeordnet sind. Die_der typische Aktivist_in ist zwar selbst oft prekär, aber es gehört zum Arrangement, dass sie_er zumindest zeitweise von einigen Zwängen der Reproduktion befreit ist. In unseren politischen Strukturen herrscht noch immer eine Trennung zwischen unserer politischen Subjektivität und unserer (unsichtbaren, privaten) Subjektivität im Feld sozialer Reproduktion vor. Obwohl wir versuchen, in andere Kämpfe zu intervenieren, machen wir das noch immer „von außen“, als Nicht-Betroffene. Wir organisieren uns noch immer fast ausschließlich ideologisch und nicht sozial. Dabei gibt es gute Ansätze bei FelS (dafür können wir sprechen) – wie Kinderbetreuung während Polittreffen, der Versuch der Militanten Untersuchung am Jobcenter Neukölln, die queerfeministische Selbstbefragung. So gilt, was wir für andere Ansätze fordern, auch für uns selbst: jene Ansätze zu erkennen und auszubauen.
Zum Weiterlesen
• trouble everyday collective: Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien, Unrast Verlag, 2014
• Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die post-moderne Metamorphose des Patriarchats, Horlemann Verlag, 2000
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Erschienen in arranca! #48