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Refugee-Kämpfe, Support und Organisierung in Ӧsterreich

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Es gibt hierzulande wohl nur eine Wahl, die politische Prozesse ausreichend reflektiert: die Wahl zum österreichischen Wort des Jahres. Dem Gewinnerwort 2015 „Willkommenskultur“ steht dabei „besondere bauliche Maßnahmen“ als Unwort gegenüber, eine euphemistische Bezeichnung für den kilometerlangen Zaun an der slowenischen Grenze in Spielfeld/Špilje. Doch obwohl dieser vermeintliche Widerspruch in Österreich, wie in vielen anderen Ländern Europas, inzwischen staatspolitische Praxis ist, kommt darin auch eine gesellschaftliche Polarisierung zum Ausdruck, wie sie hierzulande nur selten erlebt wurde. Am Arbeitsplatz, im Seminar, in Schulklassen – den Debatten rund um die Flucht- und Migrationsbewegung konnte man sich spätestens seit September letzten Jahres nicht mehr entziehen. Dabei kam Österreich im langen Sommer der Migration genau genommen nur als Transitland eine herausragende Stellung zu. Die meisten Refugees, die zunächst über Ungarn und dann Slowenien nach Österreich gelangten, reisten direkt nach Norden weiter. Aber auch als Asyl-Raum wurde Österreich im Laufe des Jahres 2015 zunehmend relevanter. Etwa 85000 Menschen stellten einen Antrag auf Asyl, dreimal so viele wie im Vorjahr, und relativ zur Einwohner*innenzahl lag Österreich im EU-Vergleich damit an dritter Stelle.

Was die Asylpolitik betrifft, ist Österreich dabei, eine traurige Vorreiterrolle einzunehmen: Sprach man sich bis vor kurzem noch klar gegen eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten aus, so ist Österreich nun das erste Land Europas, das eine solche beschließt. Auf diese Weise soll das brüchig gewordene Fundament der Festung Europa wieder Stück für Stück untermauert werden. Weitere Maßnahmen betreffen eine geplante Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, eine Kürzung der Sozialleistungen für Asylsuchende, eine Erschwerung des Familiennachzugs, intensivierte Grenzkontrollen und 50000 Abschiebungen in den nächsten drei Jahren. Diese bevorstehenden Restriktionen setzen die Refugee-Bewegung erheblich unter Druck, und die kommenden Wochen und Monate werden entscheidend für den weiteren Verlauf des aktuellen Kampfzyklus sein.

Zu einem Zeitpunkt, an dem die große Koalition scheinbar beginnt, den Forderungskatalog der rechtsextremen FPÖ abzuarbeiten, ist auch eine Radikalisierung der rechten Szenen in Österreich zu beobachten. Verschiedene ultranationale Kleinstgruppen, die sich vorwiegend aus dem Burschenschafter- und Neonazimilieu rekrutieren, mobilisieren fast wöchentlich zu rassistischen Kundgebungen und Aufmärschen und versuchen so, ihren Einflussbereich auszuweiten. Wie jüngst veröffentlichte Statistiken zeigen, ist auch das Gewaltpotential – ähnlich wie in Deutschland – im letzten Jahr erheblich gestiegen. Im Sommer schien „Refugees Welcome“ noch in allen Köpfen, nun werden politische Diskurse und Praktiken zunehmend in reaktionäre Formen gegossen.

Refugee-Protest-Camps

Die Refugee-Bewegung ist in Österreich gleich in mehrerlei Hinsicht bedeutend. Es handelt sich dabei um die größte soziale Bewegung seit Jahrzehnten. Ins Auge fallen allerdings nicht nur ihre Größe, sondern vor allem auch ihre Entschlossenheit und der hohe Grad an Selbstorganisierung. Ein wichtiges Datum in diesem Zusammenhang ist der 24. November 2012, ein Tag, an dem sich hunderte Asylwerber*innen aufgrund der unerträglichen Zustände in ihren Notunterkünften zu einem Marsch von Traiskirchen nach Wien formierten. Im Wiener Sigmund-Freud-Park errichteten die Refugees ein Protest-Camp, das nicht nur die Funktion hatte, jene prekäre Lage von Asylwerber*innen öffentlich anzuprangern, sondern auch als Ort der Kommunikation, Organisierung und Solidarisierung fungierte. Nachdem das Camp aus fadenscheinigen Gründen polizeilich geräumt wurde, besetzten die Aktivist*innen die benachbarte Votivkirche, und es entbrannten monatelange Kämpfe um die Anerkennung von Forderungen der Bewegung. Refugees wurden so als aktive politische Subjekte sichtbar und die vorherrschenden Opfer- und Sicherheitsdiskurse zumindest ein Stück weit in Frage gestellt. Von staatlicher Seite wurde darauf mit Repression und Kriminalisierung geantwortet. Neben Räumungen und Abschiebungen wurden im Sommer 2013 acht Männer, die sich in der Bewegung engagiert hatten, unter dem Vorwurf der „Schlepperei“ verhaftet. Im sogenannten „Fluchthilfeprozess“ wurden sieben der acht Angeklagten nach § 114 FPG („Schlepperparagraf“) verurteilt.

Auch in Graz wurde ein selbstorganisiertes Refugee-Protest-Camp im September 2015 infolge einer Spontandemonstration gegen die unzumutbar langen Wartezeiten im Asylverfahren errichtet. Die Entwicklungen im Camp verliefen ambivalent. Die Refugees setzten auf enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden und erwirkten so einen legalen Rahmen, der das Camp als Protestform über mehrere Wochen sicherte. Das verschaffte den Asylsuchenden einen Spielraum, in dem verschiedenste Formen von Diskursarbeit ausprobiert werden konnten – es gab Pressekonferenzen, offene Plena, eine Refugees-Welcome-T-Shirt-Aktion und mehrere Demos. Viele Refugees hatten allerdings die Befürchtung, ihre Teilnahme am Protest-Camp gefährde ihren Antrag, anstatt ihn zu beschleunigen. Dass Spaltungen von oben auch in der Bewegung selbst wirksam werden können, zeigte eine offene Diskussion darüber, ob das Camp nur für Menschen aus Syrien und dem Irak eine Plattform bieten solle, weil in anderen Ländern „kein richtiger Krieg“ herrsche. Die Individualisierung von Interessen verhinderte so die Möglichkeit, durch einen breiten Schulterschluss den nötigen Druck aufzubauen, um die Forderungen einzulösen. Das Innenministerium legte noch während der Laufzeit des Camps einen Entwurf für ein neues Asylgesetz vor, das unter anderem den Familiennachzug für Geflüchtete erschwert.

Ermöglicht wurde das Camp in Graz maßgeblich durch den Support der Unicorns Against Borders, einer autonomen Gruppe, die sich angesichts der Ereignisse im August/September formierte und neben der Beteiligung einiger IL-Aktivist*innen vor allem von Einzelaktivist*innen getragen wurde. Die Arbeit in und an der Gruppe endete mit dem Camp. Diese Chronologie ist symptomatisch für die linke Szene in Graz: Eine stets ähnlich zusammengesetzte Gruppe arbeitet eventbezogen am Aufbau von Organisationsstrukturen, um diese wieder fallen zu lassen, sobald das Event vorbei ist. Nicht nur, dass diese spontanen Organisationsformen die daran Beteiligten oft in den Aktivismus-Burnout treiben, wie dieses Beispiel abermals zeigte, sie bleiben auch notwendigerweise in elitären Kreisen verhaftet. Als IL Graz versuchen wir, diese Erfahrungen für die eigene Organisierung aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit der linken Szene in Graz fruchtbar zu machen. So konnte ein Prozess angestoßen werden, der mit dem Aufbau der IL Graz vor etwas mehr als einem Jahr begann und dem nun allmählich weitere Zusammenschlüsse folgen. Dies ist Teil des Versuches eines umfassenden Re-Organisierungsprozesses der Linken in Österreich.

„March of Hope“ und Supportbewegung

Am 4. September 2015 setzte sich am Budapester Ostbahnhof eine Gruppe von etwa 1200 Refugees in Bewegung mit dem erklärten Ziel, zu Fuß nach Österreich zu marschieren. Ausschlaggebend dafür waren die desaströsen Zustände, unter denen Geflüchtete in Ungarn festgehalten wurden. Als ihnen schließlich sogar die Nahrungsversorgung verweigert wurde, beschlossen die Refugees, den etwa 50-stündigen Fußmarsch in Richtung österreichischer Grenze anzutreten. Dies löste eine breite Welle der Solidarisierung aus, deren Echo bis heute nachhallt. Bereits am nächsten Tag startete ein Konvoi aus Wien, um den Marsch zu unterstützen und teilweise auch aktiv Fluchthilfe zu leisten. Ihm sollten weitere folgen. Bemerkenswert war, dass sich trotz der damit verbundenen Gefahren und der Kriminalisierung von Fluchthilfe in der jüngsten Vergangenheit Menschen aus allen sozialen Gruppen an diesen Aktionen beteiligten. Dieser kollektive Akt erzeugte letztendlich auch den politischen Druck, der dazu führte, dass Deutschland und Österreich ihre Grenzen öffneten.

Am Wiener Westbahnhof wurden die Refugees von einem breiten Bündnis von Aktivist*innen empfangen, das autonom die Versorgung der geflüchteten Menschen sicherstellte. Die so aufgebaute „Willkommensklinik“ konnte über Wochen erhalten und genutzt werden.

Was hier und in vielen anderen Ländern Europas passierte ging weit über humanitäre Nothilfe hinaus. Selbst der kritischen Beobachter*in konnte der emanzipatorische Charakter dieser Bewegung nicht verhüllt bleiben, wobei es natürlich auch mit einiger Ambivalenz zu betrachten ist, wenn freiwillige Helfer*innen Aufgaben übernehmen, die eigentlich dem Staat obliegen. Dieser zögerte nicht, die gegen ihn und seine Politik gerichtete Bewegung nationalistisch zu vereinnahmen und die politische Dimension der Bewegung wegzuleugnen. Im Gegenteil aber wurde in diesen Tagen von einem relevanten Teil der österreichischen Bevölkerung mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass der mörderischen Politik des Grenzregimes kein gesellschaftlicher Rückhalt zukommt. Hier eine Trennungslinie zu ziehen und Verantwortungen klar zu benennen erwies sich als wichtiges diskursives Interventionsfeld.

Weitermachen?!


Von der überraschenden Solidaritätswelle regelrecht überrollt, blieb die österreichische Linke mit Hoffnung, Mut und einem großen Fragezeichen auf der Stirn zurück. Beide Pole der Bewegung – Refugee-Kämpfe und Support – trafen auf eine völlig unvorbereitete Linke. Dabei wären die Zeichen leicht zu erkennen gewesen, denn viele Menschen sind bereits seit Jahren in unzähligen kleinen Initiativen im Refugee-Support bundesweit aktiv – als Deutschlehrer*innen, Übersetzer*innen, Amtsbegleiter*innen et cetera.

Im Anschluss an das Protest-Camp in Graz etablierte sich eine regelmäßige, offene Austauschplattform, wo für und mit den Protagonist*innen des Camps „Strategien, Maßnahmen und Situationen“ entwickelt werden, die auf weitere Proteste und das Zusammenleben in Graz abzielen. Wir erfuhren dort, dass die Aktivist*innen nach dem Camp zwar mit einiger Enttäuschung auf ihren politischen Kampf zurückblicken, ihre Forderungen jedoch aufrechterhalten und weiterhin auf der Suche nach Support und Öffentlichkeit sind. Als IL Graz haben wir nun die Konsequenz gezogen und wollen antirassistische Arbeit stärker in den Fokus unserer politischen Praxis nehmen. Neben regelmäßigen Treffen mit den Genoss*innen aus Wien wird ein weiterer Schritt die Vernetzungsarbeit mit Aktivist*innen aus Slowenien, Kroatien und Italien sein; erste Treffen sind bereits in Planung.

Was antifaschistische Kämpfe betrifft, bildet Spielfeld/Špilje ebenfalls einen zentralen Bezugspunkt, denn Rechtsextreme und Neofaschist*innen mobilisierten im Herbst 2015 genau dorthin zu wöchentlichen Kundgebungen und Demonstrationen, während Antifaschist*innen versuchten, ihnen das „Spielfeld“ nicht zu überlassen. Dieses Verhältnis hat sich inzwischen weiter verschärft, sodass wir uns nun in einer besonders kritischen Phase befinden, in der auf beiden Seiten Neuzusammensetzungen des Protest-Spektrums stattfinden.

Wir glauben, dass es ein Erfordernis dieser Zeit ist, antirassistische und antifaschistische Arbeit zusammen zu denken und praktisch zu verbinden, denn alle diejenigen, die entgegen tiefsten Spaltungen und vermeintlichen Sachzwängen auch jetzt noch „Refugees Welcome“ aus tiefster Lunge schreien, sind unsere Verbündeten im Kampf um eine solidarische Gesellschaft.

Jürgen aus Graz



*Titel einer Kampagne des Refugee-Protest-Camps in Wien

Zum Weiterlesen:
Lisa Grösel: Fremde von Staats wegen. 50 Jahre „Fremdenpolitik“ in Österreich, Mandelbaum Verlag Wien, 2015
Blog des Refugee Protest Camp Wien: refugeecampvienna.noblogs.org
Martin Birkner: Wie geht’s weiter? 4 Thesen zur Re-Organisierung der Linken in Österreich, mosaik-blog.at

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Erschienen in arranca! #49

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