Dokumentation

Das Zeltlager in Seeheim 1972

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Der hier folgende, aus dem "Sozialistischen Jahrbuch 5" entnommene Text von 1972 beschreibt die politische Arbeit eines sozialistischen Kollektivs in einem Ferienzeltlager von 14- bis 18-Jährigen. Die Verfasserinnen stellen sowohl ihre Erfahrungen während des Sommercamps, - die Politisierung und das Handeln der Jugendlichen, das Verhältnis zwischen den Betreuerinnen und den Kids - als auch ihr pädagogisches Konzept dar. Sie vermitteln, daß in dem Ferienlager kollektive Lernprozesse gefördert werden können, daß diese von konkreten Erfahrungen/Handlungen ausgehen müssen, daß Betreuerinnen und Jugendliche ein gleichberechtigtes Verhältnis entwickeln können, und daß gerade der Konflikt - in diesem Falle mit der Trägerin des Zeltlagers, der SPD-Jugend "Die Falken" - diesen Lernprozeß vorantreibt.
Wir finden diesen inzwischen 21 Jahre alten Text ausgesprochen interessant. Einerseits weil er beschreibt, daß revolutionäre Bildung davon ausgehen muß, daß Pädagoginnen Initiativen entwickeln können, ohne Ergebnisse vorwegzunehmen. Das heißt, daß es ihre Aufgabe ist, kollektives Verhalten in Gang zu bringen. Dabei werden die Lernenden vor allem als Handelnde gesehen, was in dem Text gut zum Ausdruck kommt.
Andererseits ist er aber deswegen von Bedeutung, weil auch heute viele linke StudentInnen bei verschiedensten Jugendverbänden (von der Sportjugend, über die Kirchen und Gewerkschaften bis hin zu städtischen Ferienprogrammen) jobben. Für viele ist es eine Möglichkeit in wenigen Wochen zu etwas Geld zu kommen. Kaum noch gesehen wird dabei heute der politische Wert und die Möglichkeiten einer solchen Arbeit mit Jugendlichen. Wir fänden es wichtig, daß über diese Arbeit in Schulen, Jugendclubs, Ferienprogrammen, Antifa-Gruppen usw., (die zum Geld verdienen oder aus individuellen Überlegungen gemacht wird), öfter mal ein öffentliches Wort fallen würde. Nicht wenige sind dort aktiv, ohne daß darüber diskutiert wird. Es wäre für uns und viele andere spannend zu wissen, welche Probleme, Erfahrungen, Möglichkeiten solche politische Arbeit (zum Teil in Institutionen und gegen sie) mit sich bringt. Das oft verkündete Verlassen des "Szeneghettos" bedeutet ja genau, daß in schwierigen Rahmenbedingungen mit ganz anderen Leuten politisch gelernt und gehandelt wird.
Uns ist natürlich klar, daß dieser Bericht vom "Seeheimer Zeltlager" 1972 mit den heutigen Erfahrungen nur sehr allgemein etwas zu tun hat. Heute fehlt das kulturell-rebellische Bewußtsein der Arbeiterjugend (damals das Rockertum), der Politisierungsgrad der Jugendlichen ist insgesamt niedriger, Individualisierung und passives Verhalten sind stärker geworden, und außerdem ist die Notwendigkeit, rassistische Vorurteile abzubauen, heute größer als sozialistisches Bewußtsein zu stärken.
Diese Unterschiede anhand von neueren Erfahrungen darzustellen, könnte ein Thema der nächsten Ausgaben sein - wenn sich unter den Leserinnen eineR findet, die oder der über ihre Arbeit schreibt...

 

Das Zeltlager in Seeheim war ein Falkenlager. Die Falken (der SPD nahestehender Jugendverband) führen jedes Jahr über 100 Zeltlager durch, in denen 30-40.000 Kinder und Jugendliche meist proletarischer Herkunft betreut werden. In der verdinglichten Sprache der Falken werden die Zeltlager „Sommermaßnahmen" genannt. Dieser Sprachgebrauch läßt schon erahnen, unter welchen Zielvorstellungen die Falken ihre Arbeit mit der Arbeiterjugend sehen. Wie dem auch sei, Zeltlager bieten eine günstige Voraussetzung für die Feriengestaltung von Jugendlichen(..)
Wir sind uns dabei bewußt, daß die Zeltlagersituation eine Ausnahmesituation schafft. Der durch die Zelte vorgegebene Wohn- und Lebenszusammenhang, die relative Isoliertheit von der normalen Lebenswelt, die damit verbundene Repressionsfreiheit, die Feriensituation und die Angebote zur Freizeitgestaltung, die sich im Zeltlager anbieten, schaffen insbesondere für die Entwicklung von Kollektivbewußtsein günstige Voraussetzungen. Die hier gemachten Erfahrungen sind demgemäß auch nicht unmittelbar übertragbar auf die normale Alltagssituation. Trotzdem sind wir sicher, daß auch die in der Extremsituation des Zeltlagers gemachten Erfahrungsprozesse sich >auswirken<. Allerdings können wir nur wenig darüber aussagen, wie die Lernprozesse der Jugendlichen in unserem Zeltlager die Kampf- und Organisationsbereitschaft auf lange Sicht verändert haben.

Für die „Sommermaßnahme" hatten sich 35 Jugendliche gemeldet. Die Teilnehmer (..) waren 14-18 Jahre alt und kamen aus Düsseldorf, Essen und Bochum. Die meisten kannten zu Beginn des Lagers niemanden, allenfalls einen anderen Lagerteilnehmer. Eine Ausnahme machte die Gruppe aus einem Düsseldorfer Bezirk, die sich von den Falken bzw. vom Fußballclub her kannte.
Die meisten Jugendlichen steckten in einer Lehre, einige standen unmittelbar davor. (..) Mit Ausnahme von 5 Jugendlichen kamen alle aus proletarischen Verhältnissen.
Bei den Jungen konnte man zu Anfang des Lagers drei Verhaltenstendenzen beobachten: eine erste Gruppe, gruppierte sich in Cliquen. Sie wollten saufen, legten ein terroristisches Verhalten an den Tag, verhielten sich untereinander unsolidarisch, waren aggressiv, suchten förmlich Situationen, um sich gegenseitig anpöbeln zu können, nutzten jede Chance, um Streit handfest auszutragen. Die Cliquen stabilisierten sich insbesondere auf Kosten der Mädchen: sie pöbelten sie an, machten sich über sie lustig, griffen sie auch tätlich an, Eine zweite Gruppe von Jungen machte sich gleich zu Anfang systematisch an die Mädchen ran. Dabei entwickelten sie bisweilen eine ausgeprägte Perfektion in der Provokation bestimmter Situationen, die die Kontaktaufnahme mit Mädchen ermöglichten. Zwei Jugendliche, Freunde, arbeiteten hierbei arbeitsteilig und strategisch zusammen und warfen sich gegenseitig die Bälle zu. Eine dritte Gruppe, zumeist jüngerer Jugendlicher, fixierte sich auf die Älteren oder waren Einzelgänger. Die Mädchen bildeten zumeist Zweiergrüppchen und verhielten sich deutlich defensiv. Vor Lagerbeginn gab es nur eine feste Beziehung (..)
5 der Jugendlichen bezeichneten sich als Rocker oder hatten Rockererfahrungen; vier waren im Fußballclub, zwei im Boxverein. 5 der Jugendlichen waren Falkenmitglieder, ein Lehrling arbeitete in einer autonomen Lehrlingsgruppe. Drei der eben genannten hatten politische Erfahrungen durch die Arbeit in linken Gruppen. Bei zweien von ihnen hatten die Väter in der illegalen KPD gearbeitet.
Insgesamt könnte man über die gesamte Truppe zunächst urteilen: ein „unpolitischer" Haufen. Nach gängigem Falkenjargon war man geneigt zu sagen: „Mit denen kann man nichts machen!" Mit ihnen soll auch nichts gemacht, es sollen keine Maßnahmen an ihnen vorgenommen werden; sie sollen selber was tun.
Die Leitung des Lagers hatte Alvons (der im Verlauf des Konflikts mit der Falkenleitung abgesetzt wurde, Anm.d.S.) (...) Außerdem nahmen noch 4 studentische Genossen teil, die alle in sozialistischen Hochschulorganisationen arbeiten und Lehrer werden wollen.

Ein Tag im Zeltlager Seeheim

Die ersten 3 Tage verliefen ziemlich konfus: es kamen individualistische Feri­envorstellungen zum Tragen. Die Jugendlichen wollten zuerst mal das tun, was in der normalen Familien- und Arbeitssituation verboten ist. Die machten voll einen drauf nutzten die „Freiheit" der Lagersituation aus: Sauen, die Nächte durchmachen, Aggressionen ungestraft äußern, Unterdrückung van Schwächeren, antiautoritäres Ausleben, oft bei bewußter Mißachtung kollektiver Bedürfnisse und auch „vernünftiger" Lagerregelungen: Nichterscheinen beim Essen, bewußtes Provozieren hei Lagervollversammlungen, betontes Absondern bei Gruppenaktivitäten.
Die Überwindung dieser Verhaltensweisen und die Entwicklung, kollektiver Formen des Lagerlebens deuteten sich aber bereits in diesen Tagen in 4 Punkten an:

 1. Wir betonten bei allen Möglichkeiten die Vorzüge von kollektivem Handeln und solidarischem Verhalten. immer wieder gaben wir Impulse, die bei den Jugendlichen bewußt Selbstorganisationsprozesse in Gang setzen sollten. So schlugen Wir zum Beispiel vor, daß jede Zeltbesatzung über die Namensgebung ihres Zeltkollektivs diskutieren sollte (es wurden bis auf eine Ausnahme nur politische Namen gewählt: Anne Frank Frieden, Langer Marsch, Vietnam, Spalte, Petra lebt!), daß sich für die Lagerzeitung Artikelkollektive bilden sollten, daß Jungens und Mädchen auch zusammen Fußball spielen können, daß wir alle, um die Ungleichheit an Taschengeld auszugleichen, unser Geld in einen Topf schmeißen und dann gleichmäßig aufteilen sollten. (Dieser Vorschlag wurde nach langer Diskussion abgelehnt). Einige Jugendliche unterstützten vom ersten Tag an solche Bestrebungen.
2. Gerade an der Benennungsfrage von Zelten kam es zu einem scharfen Konflikt mit dem Vertreter des Falkenverbands (ein Zelt hatte sich nach der von der Polizei erschossenen, mutmaßlichen RAF-Militanten Petra Schelm „Petra lebt" genannt, Anm. d.S.). In diesem Konflikt wurden die Jugendlichen gezwungen, Stellung zu beziehen. Die Schärfe der Auseinandersetzung, die an ihr einsetzenden Mechanismen politischer Unterdrückung seitens des Falkenverbands und seiner Vertreter einerseits (nach nur 10 Tagen wurde das Zeltlager aufgelöst und der Verantwortliche, Alvons, entlassen, Anm. d.S.) und unsere Solidarität, mit der wir in dieser Frage zu den Jugendlichen hielten, andererseits haben bestimmt viel dazu beigetragen, die Atmosphäre im Lager zu politisieren.
3. Am dritten Tag erschien die erste Lagerzeitung. Bereits hier gelang es, zahlreiche Jugendliche an der Herstellung von Artikeln zu beteiligen.
An der Entstehung der Lagerzeitungen kann man gut zeigen, welche Rolle Intellektuelle in der Zusammenarbeit mit Arbeiterjugendlichen spielen können, wie sie ihre Fähigkeiten und politischen Erfahrungen einbringen können, ohne sich von den Jugendlichen zu isolieren, ohne an derer Interessenlage vorbeizugehen, ohne eine elitäre Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Es ist klar, daß die Jugendlichen von sich aus, so wie sie sich in unserem Lager vorfanden, nicht auf den Gedanken kamen, eine Lagerzeitung zu formulieren. Es fehlen ihnen dazu einfach die technischen Qualifikationen. Schreibmaschineschreiben, Umgang mit Matrizen und Abzugsmaschinen, die Organisierung von Material usw. sind, „Künste“ von denen sie zunächst keine Ahnung haben. Dazu kommt noch, daß die Jugendlichen auf Grund der terroristischen Sozialisation, die sie in der Schule über sich ergehen lassen müssen, gerade gegen das, was sie ausschließlich dort betreiben, nämlich intellektualistisches Zeug, eine gründliche Aversion entwickeln. Bei der Erstellung von Zeitungsartikeln muß man sich aber hinsetzen können, muß man Sätze aneinanderreihen, muß man sich längere Zeit konzentrieren. (..)
Die Zeitung wurde dann ein Ereignis, an dem sich unsere Vorstellungen von Kollektiverziehung- zu unserer eigenen Überraschung- sehr gut realisierten. Zumeist auf Vollversammlungen riefen wir die Jugendlichen auf eine Zeitung zu machen. (...)Immer wieder betonten wir den Wert, den eine Zeitung für das kollektive Lagerleben haben müßte. Derart abstrakte Appelle allein nutzten aber nichts. Um Artikelkollektive konstituieren zu können, mußten wir die Jugendlichen (...) persönlich ansprechen: wir forderten ganze Zelte auf die gerade eine dufte Aktion gemacht hatten, darüber zu schreiben, oder einzelne junge Genossen, die nichts zu tun hatten, oder informelle Gruppen, die gerade über ein bestimmtes Problem diskutierten, genau über dieses Thema etwas zu machen.(...) Die endgültigen Formulierungen wurden dann von kleinen Gruppen erledigt. Fast immer war daran ein Student beteiligt. Es war nun aber ganz und gar nicht so, daß dieser Student den Artikel schrieb. Vielmehr versuchten wir möglichst alle Formulierungen aus den Jugendlichen herauszuholen. Wir gaben Tips, bisweilen auch Anregungen für Formulierungen und übernahmen das Aufschreiben. Große Spannung herrschte zumeist beim Finden einer zündenden Überschrift. Wichtig dabei ist, daß ein Artikel ziemlich schnell abgeschlossen wird. Bei aller Begeisterung, die die Jugendlichen an der Arbeit in Rot Front (der Name der Zeitung, Anm.d.S.) entwickelten: allzulange hat man in den Ferien nicht Lust, Kopfarbeit zu leisten. So war die Zeitung dann auch an einem Vormittag fertig. Das Abziehen übernahmen die Jugendlichen selbst. Natürlich war die Abzugsmaschine defekt und somit die Qualität der Zeitung recht vorsintflutlich. Dafür wußte aber jeder im Lager: das ist die Zeitung des Seeheimer Zeltlagers, unsere Zeitung.(...)
4. Einige Jugendliche zeigten erste Sättigungserscheinungen an einigen ihrer Individualaktionen. Sie wollten nicht dauernd isoliert im Freibad rumhängen, sie hatten genug von der Diskothek, sie wollten nicht mehr den ganzen Tag im Zelt rumgammeln. Daß sie dies äußerten, lag wohl nicht zuletzt daran, daß wir immer versucht haben, die Jugendlichen zu ermuntern, alternative kollektive Lebenszusammenhänge zu erproben. Dabei kam uns die Ausnahmesituation des Zeltlagerlebens genauso entgegen wie die Tatsache, daß den Jugendlichen bereits jetzt das Geld ausging.(...)

Was man alles machen kann!!!

(es folgen 16 gemeinsam beschlossene Aktivitäten; ein Volksfest mit Seeheimer Jugendlichen, eine Fahrradrallye, ein Stadtspiel usw. Anm.d.S.) (..)

 Wir betonen nochmals, daß wir in dem Stadtspiel Seeheim erobern wollen. Das heißt, wir wollen die Funktionsträger und Institutionen der Stadt kennenlernen und wir wollen uns dabei nicht verstecken, sondern offen als sozialistische Jugend auftreten. Wir wollen aus Seeheim eine neue Stadt machen: Falkenheim. Denn es gibt hier mehr Falken als Seen! Also werden wir die Stadt abklappern und erobern. Mit der Parole wird auch assoziiert, daß man hier nicht richtig baden kann, wir quasi um die Seen betrogen sind. Damit kommen wir zum Problem Baden.
Alvons erörtert, daß er gehört habe, daß einige es langsam satt haben, immer allein zum Baden zu gehen, daß sie lieber zusammen was machen wollten. Außerdem seien 1,20DM Eintritt zu teuer. Sofort kommt der Vorschlag, daß wir ja einmal alle zusammen schwimmen gehen könnten. Vorschlag, dort Flugblätter zu verteilen, um für unsere Fete am Samstag zu werben. Im Schwimmbad sollen Flugblätter verteilt werden - und mit den Jugendlichen diskutiert werden. Vorschlag, das Megaphon mitzunehmen. „Und dann können wir alle auch umsonst reingehen!" Begeisterte Zustimmung. Manfred, Lutz und Rudi übernehmen den Nachdruck von den Flugblättern. Am Abend Geländespiel: das Vietnam-Zelt soll die Vorbereitungen treffen. Renate sind 100 DM weggekommen, ihr ganzes Taschengeld. Appell an die Solidarität der anderen. Es wird beschlossen, beim Mittagessen zu sammeln: jeder soll, je nach Vermögen, 1,- bis 1,50 DM geben. Da viele ein ganzes Jahr für die Ferienreise gespart haben, sahen alle ein, daß der Renate geholfen werden muß.
Die Mädchen bleiben sitzen und machen Weiberrat. Wir quatschen über unsere Erfahrungen mit den Typen und bleiben über eine Stunde zusammen. Die Jungens werden weggescheucht.
Während die Mädchen zusammensitzen, sind die Jungens teilweise ziemlich verunsichert. „Was machen die denn da?", fragen einige. Nach einiger Zeit fangen die Jungs an, die üblichen Pöbeleien (du Tier, du dickes Viech ...) den Mädchen zuzurufen, mit Megaphon, damit sie es auch ja richtig verstehen können. Typ aus dem Pärchenzelt kann‘s nicht fassen, daß seine Freundin sich nicht um ihn kümmert, sondern er ihr nun Zigaretten und was zu Saufen besorgen muß. „Ich geh jetzt. Du kannst nachkommen! Wir treffen uns im Cafe!", ruft er später sichtlich nervös durchs Megaphon.
Mächtige Stimmung beim Mittagessen: alle singen mit Ton-Steine-Scherben: „Macht kaputt, was euch kaputt macht" und „weil der Mensch ein Mensch ist." Die Teller springen beim wilden Beat- Geklopfe hoch.(...) Gleichzeitig wird das Geld für Renate eingesammelt. Alle geben was! Es kommt fast der gleiche Betrag zustande wie vorher.

"Schon am ersten Tag hat die ihr Geld verloren. Ihr ganzes Taschengeld für das Lager - 100 DM - waren weg. Wir haben das Problem so gelöst, wie es sich für Sozialisten gehört: solidarisch haben wir beim Mittagessen eine Sammelaktion durchgeführt, bei der jeder so viel gegeben hat, wie er erübrigen konnte. 67,50DM haben wir zusammengekriegt. Solidarität ist eine Waffe! ! ! ! " aus der Lagerzeitung Rot Front II

"Die Eroberung des Schwimmbads!!"

Am Mittwoch beschlossen wir auf unserer Vollversammlung im Schwimmbad Flugblätter zu verteilen und für unser Fest am Samstag zu werben. Mit vielen roten Fahnen bewaffnet und kräftigen Gesängen und Parolen zogen wir ins Schwimmbad ein. Die meisten von uns gingen einfach so rein ohne zu zahlen. Wir suchten uns einen Platz, wo wir unsere Fahnen aufstellten. Dann sprangen wir sofort mit Gebrüll und Rot Front ins Wasser. Der Bademeister guckte blöd und meinte, daß Alvons eine Bademütze überziehen müsse. Wir lachten ihn aus. Wir stellten uns neben den Bademeister in einer Reihe auf und sprangen alle zusammen vom Beckenrand direkt neben dem Bademeister aus Protest ins Wasser. Dort bildeten wir Kampftrupps und Schwimmbrigaden. Der Bademeister drohte uns, die Bullen zu holen. Daraufhin riefen wir alle zusammen: Haut den Bullen auf den Sack zack! zack! Der Bademeister wollte uns nur einschüchtern. Aber da hatte er sich getäuscht. Sozialistische Jugendliche lassen sich nicht von einer Bademeisterfigur einschüchtern und den Spaß verderben. Wir waren so lustig, daß auch andere Badegäste einfach bei uns mitmachten. Anschließend verteilten wir unsere Flugblätter und machten uns auf den Heimweg. Wir riefen folgende Parolen: Haut den Unternehmern in die Fressen, daß es kracht - Arbeitermacht, Arbeitermacht! Nixon-Mörder USA-SA-SS und Ho-Ho-Ho Chi-Min (...)
„Manche Leute freuten sich. Manche Oma griff sich an den Kopf. Doch die sozialistische Jugend läßt sich nicht das Maul verbieten." aus der Rot Front III
(Zur Ergänzung sei noch bemerkt: es wurden nicht nur linke, sondern auch Fußballsprüche wie: Mußt du mal scheißen und hast kein Papier, dann nimm doch den Wimpel von Schalke 04 gebrüllt. Das ergänzte sich wunderbar.)
(...)

Die Frauengruppe: Haut den Jungens in den Sack - Zack Zack

Der Weiberrat ist im Zeltlager zu einer notwendigen Gruppe geworden. Die Studentengenossinnen haben zur Entstehung der Gruppe ihren Teil beigetragen. Bei der Vorbereitung des Lagers sind wir davon ausgegangen, daß die Unterdrückungssituation proletarischer Mädchen ungleich stärker ist, als unsere eigene, daß es den Arbeitermädchen noch beschissener geht, als uns und daß sie noch weniger dagegen tun können. Es war uns klar, daß jeden Tag Konflikte zwischen Jungen und Mädchen und auch unter den Mädchen aufbrechen werden. An diesen wollten wir anknüpfen. Es gab theoretisch 3 Möglichkeiten, um die Probleme der Unterdrückung aufzugreifen:

1. Wir lesen mit den Mädchen zusammen einen Text zu Problemen der Frauenunterdrückung und versuchen darüber die spezifische Situation der Frauenunterdrückung in den Griff zu bekommen.

 2. Wir versuchen die objektiven Seiten der Frauenunterdrückung klarzulegen (z.B. durch die Besichtigung einer Frauenfabrik die extreme Ausbeutungssituation der Frau zu zeigen), um die individuelle Situation als allgemeine zu erfahren.

 3. Wir gehen von konkreten Lagerkonflikten aus und versuchen uns auf diesem Weg zu verständigen und Möglichkeiten zu finden, wie wir es schaffen können, daß die Typen uns nicht spalten und kaputt machen. Schon während der Vorbereitung war uns klar, daß wir den konkreten und den vom individuellen „Schicksal" geprägten Weg zu gehen haben und nicht den abstrakten, der schon eine Kenntnis von den verallgemeinernden, gesellschaftlichen Bedingungen voraussetzt. Auch unser Bewußtwerden der eigenen Situation ist primär über die tagtäglichen Auseinandersetzungen mit den Typen gelaufen.(...) Es hat sich herausgestellt, daß unsere Einschätzung richtig war: an jedem handfesten Konflikt, von denen es gleich zu Beginn des Lagers sehr viele gab, haben wir uns mit den betroffenen Mädchen solidarisiert und mit ihnen gequatscht. Renate und Brigitte sind gleich in der ersten Nacht von 5-6 besoffenen Jungs bestürmt worden und hatten keine Möglichkeit sowohl ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, als auch Sich gegen die Meute zu wehren, da sie der Situation ganz allein gegenüberstanden. Hier waren genügend Ansatzpunkte gegeben, sich an Diskussionen der Mädchen zu beteiligen. Einige Mädchen legten typisches Konkurrenzverhältnis an den Tag. Das Verhalten von Renate ist von ihnen kritisiert worden („Die ist ja auch besoffen“ „Das geschieht ihr ganz recht!“) und nicht die repressiven Verhaltensweisen der Jungs.

Darüber und über andere Gemeinheiten der Jungs (Reden wie „Du dickes Viech! Blöde Ziege! ...“) sind Diskussionen entstanden, die wirklich versucht haben, einerseits Wut und Haß loszuwerden und andererseits andere Bedürfnisse zu erkennen und Lösungsmöglichkeiten dieses Widerspruchs zu suchen.

Petra lebt

Das Zeltlager Seeheim wurde kaputtgemacht. Nach 10 Tagen intensiven Lagerlebens wurde das Seeheimer Lager von der Falkenfunktionärsspitze aufgelöst, Alvons, der pädagogische Betreuer fristlos gekündigt und aus dem Verband ausgeschlossen. In der Presseerklärung des Falken-Pressedienstes liest sich das so:

„Der Bundesvorsitzende (Dieter Lasse) und der Bezirksvorsitzende des Bezirks Niederrhein (Bruno Neurath) sahen sich zu der Auflösung des Lagers veranlaßt, da durch den verantwortlichen Leiter der Maßnahme Dieter Diemer (Alvons) politische und pädagogische Maßnahmen getroffen wurden, die im Widerspruch zu den Beschlüssen und zum Programm der Sozialistischen Jugend Deutschlands stehen. Es wurden u.a. in den Lagerzeitungen die Taten der Baader-Meinhof-Gruppe beschönigt und in diesem Zusammenhang gesagt, daß diese Leute erkannt haben, daß eine Veränderung der Gesellschaft nur mit Mitteln der Gewalt erfolgreich sein kann. Aussagen ähnlicher Tendenz wurden von den verantwortlichen Beteiligten auch in Spruchbändern auf dem Lagergelände angebracht.
Diemer wurde noch gestern aus dem Verband ausgeschlossen und fristlos aus seiner hauptamtlichen Tätigkeit bei der Organisation entlassen."
(Es folgt eine ausführliche Chronologie der Ereignisse, die wir aus Platzgründen rauskürzen mußten, Anm.d.S.)

Zur Konzeption des Lagers in Seeheim

Wir hatten das Lager in Seeheim unter die Parole Zusammen leben, zusammen lernen, zusammen kämpfen gestellt.(...) Das Prinzip des kollektiven Leben-Lernen-Kämpfens betont und fordert, Prozesse der Selbstorganisation des Lebensprozesses in Gang zu setzen. In der konkreten Zeltlagersituation gingen wir dabei davon aus, daß das was die Arbeiterjugendlichen an Verhaltensdispositionen, Erlebnismuster und Reaktionsbereitschaft mitbringen, schon immer geprägt ist von ihrer klassenmäßigen Bestimmtheit als Arbeiter. (..)
Prinzipien wie kollektives Handeln, das Finden einer Identität als Arbeiterjugendliche, Solidarität, Erkennen und Austragen von Konflikten mit der Außenwelt sind dabei wichtige Merkmale, die konstituierend für den Prozeß der Bewußtseinsentwicklung werden. Man könnte sagen, die sozialistischen Pädagogen müssen nicht so sehr etwas in die Arbeiterjugendlichen hineintragen, vielmehr müssen sie das in der Arbeiterjugend bereits angelegte herausholen, bewußter machen, vorwärtstreiben. Es gilt Bedingungen zu schaffen, in denen die Jugendlichen beginnen, ihre Bedürfnisse zu entfalten, um sich darin als handelnde Subjekte der Arbeiterklasse wiederzufinden. Die Bedürfnisse werden dabei nicht bewußt, indem man sie über die Köpfe eintrichtert, sondern im aktiven Handeln. Klassenbewußtsein wandert nicht über den Kopf in die Bedürfnisse, sondern über die Bedürfnisse ins Hirn. Ein wichtiges Moment dabei ist allerdings, daß die Jugendlichen ticken, daß die Formen individueller Glückserwartungen allein nichts bringen, daß die Individualisierungen aufgehoben werden. Dies ist allerdings für die Arbeiterjugendlichen gar nicht so sehr schwierig; sie entwickeln schon immer das Bedürfnis, zusammen etwas zu machen, haben einen starken Drang, zusammen zu sein, zusammen zu handeln, zusammen etwas zu erleben.
Das Prinzip des kollektiven Leben-Lernen-Kämpfens bedeutet für die sozialistischen Pädagogen, daß sie lernen müssen, sich selbst in die Gemeinschaft einzuordnen. Ihr Verhältnis zur Arbeiterjugend darf nicht ein pädagogisierendes sein, es muß radikal solidarisch sein. Auch die Erzieher müssen erzogen werden. Sie müssen es wagen, sich von den Jugendlichen erziehen zu lassen. Nur dann kann es gelingen, daß sie das, was sie an Wissensvorsprung und politischen Erfahrungen mitbringen, auch vermitteln können. Alles andere wäre bürgerliche Pädagogik. Das heißt nun aber ganz und gar nicht, daß die Intellektuellen duckmäuserisch und ergeben den Jugendlichen gegenübertreten sollten. Im Gegenteil - sie brauchen ihre eigene politische Identität nicht unter den Scheffel zu stellen. Es gab bei uns keinen „Lagerleiter". Alle Ideen und Vorschläge der Jugendlichen wurden aufgenommen, auch wenn sie noch so „albern" waren. Eine Kuh zu entführen und zu schlachten ist z.B. so eine Idee. Es war immer klar, daß dies kaum in die Tat umzusetzen gewesen Wäre. Sie zeugt aber von der draufgängerischen Grundeinstellung vieler Jugendlichen die, wäre ein Rindvieh in Lagernähe aufgetaucht, sich durchaus in Handeln umgesetzt hätte. Wir freuen uns darüber. „Gute Pädagogen''. z.B. der Falkenfunktionär Neurath, sahen allein schon bei dem Gedanken die Konterrevolution am Werk, denn, so dozierte er, Kleinhintern gehörten auch zur ausgebeuteten Klasse, daran sei stets zu denken, deshalb müsse man ihnen ihre Kühe lassen. (Ede: „Der tickt nicht richtig!") Wir verhielten uns den Aktivitäten und Ideen der Jugendlichen gegenüber nicht abwieglerisch und besserwisserisch. Das führte auf der einen Seite dazu, daß uns die Jugendlichen als dufte Kumpel akzeptierten, auf der anderen Seite aber durchaus Respekt vor uns hatten. Sie akzeptierten uns, weil wir in Aktivitäten, die das Selbstbewußtsein der Jugendlichen stark prägen (Fußballspielen, Kraftsport, Radikalität) immer mitmachten und - an manchen Ecken- sogar etwas besser waren; vor allem aber auch, weil wir viele Vorschläge machten, die voll einschlugen, auf die die Jugendlichen von sich aus nicht gekommen wären. Wir selber haben dies erst im Umgang mit den Jugendlichen gelernt. Wir haben es wohl deshalb gelernt, weil wir uns mit einigen Verhaltensweisen der Jugendlichen, vor allem denen, die kämpferische Ansätze zeigten, identifizierten. Das sind wohl die Merkmale, die Klassifikationen wie „Chaotenlager" oder „Räuberhauptmänner" einbrachten.
Unsere Erfahrungen lassen sich durch folgende Punkte zusammenfassen: es muß geschafft werden, daß alles, was im Lager geschieht, von den Jugendlichen begriffen wird als Moment ihres Lebensprozesses. Auch wenn sie sich an bestimmten Aktivitäten nicht selbst beteiligen, müssen sie doch den Sinn und den Bezug als Bestandteil ihres kollektiven Ferienlebens begreifen und einordnen.
Alles was im Lager geschieht, hat Prozeß kollektiver und öffentlicher Planung zu sein,
- es muß geschafft werden, daß im Prozeß der Selbstorganisation die Jugendlichen lernen, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Phantasie zu entwickeln, Selbst- und Massenkritik zu üben,
- alle Versuche, dem Lager vorn ersten bis zum letzten Tage eine verbindliche Organisationsstruktur (z.B. Zeltdelegierte) zu geben, hauten nicht hin. Tragendes Organisationsprinzip war die Vollversammlung. Das Interesse an der Vollversammlung stieg in dem Maße, wie sich die kollektiven Lageraktivitäten entfalteten und es notwendiger wurde, das Lager gegen Angriffe von außen seitens der Falkenfunktionäre, Lagerverwaltung u.a. (…) zu verteidigen.
Bei akuten Anlässen wurden Aktivitäten spontan organisiert. Dabei erwies es sich oft als wichtig, daß ein studentischer Genosse die Initiative ergriff. Oft mußten wir dazu intensiv mit einzelnen Jugendlichen oder Gruppen diskutieren und an ihre Solidarität appellieren: Gemacht haben sie aber nur etwas, wenn ihnen etwas unmittelbar einleuchtete. Bisweilen ergriffen wir auch selbst die Initiative und mußten bestimmte Dinge (z.B. die erste Lagerwandtafel) selber machen.
- die Jugendlichen müssen die Erfahrung machen, daß alle ihre Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Ansprüche ernst genommen werden und geäußert werden können.
- es ist eine große Gefahr, ein Lager gestalten zu wollen unter dem Vorsatz, die Jugendlichen zu „organisieren" mit einer „festen, arbeitenden“ Gruppe aus dem Lager heimzukehren. Das Lager kann nicht Mittel sein, um z.B. eine Lehrlingsgruppe aufzubauen. Warum? Erstens führt dies dazu, daß das Zeltlagerkollektiv gespalten wird: diejenigen Jugendlichen, die politisch arbeiten wollen, diskutieren andauernd über ihre Erfahrungen und Perspektiven. Sie isolieren sich dabei von denen, die halt Ferien machen wollen, was für sie nichts mit „Politik" zu tun hat. Sie verkneifen sich ihre Ferienbedürfnisse und laufen nur noch verkniffen rum. Bei einer solchen „Strategie" wird - zweitens- völlig vergessen, daß auch an den sogenannten unpolitischen Verhaltensweisen Lernprozesse gemacht werden. Das Erkennen von Bedürfnissen und die kollektive Organisierung von Bedürfnisbefriedigung, die Politisierung des gesamten Lebensprozesses machen das Zeltlager zu einer politischen Anstalt. Insbesondere darf nicht vergessen werden, was Urlaub für Arbeiterjugendliche bedeutet: es ist die Reproduktion ihrer Arbeitskraft, Freizeit, wo sie nicht unter kapitalistischen Zwängen arbeiten. Und da wollen die „Pädagogen“ mit Kopfarbeitsprogrammen kommen! Ziel der Freizeitgestaltung muß es sein: die Bedingungen schaffen helfen, daß die Jugendlichen eine Alternative, eine sozialistische Alternative von Lebensgestaltung erfahren, erleben, bewußt erleben. Das allerdings schließt eine praktische Kritik bürgerlicher Freizeitvorstellungen und damit immer schon einen Angriff auf die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse mit ein.
- der Prozeß der Selbstorganisation, das Erlernen kollektiven Verhaltens, die Findung einer proletarischen Identität - auch wenn sie sich im Rahmen der Urlaubs - und Freizeitgestaltung vollzieht - stellt sich nicht naturwüchsig her (etwa nach den Vorstellungen antiautoritärer Selbstregulation der Gruppe), sondern nur an Projekten und Aktionen, die aktiv in gesellschaftliche Prozesse eingreifen und von den Jugendlichen auch auf das Leben außerhalb bzw. nach dem Lager bezogen werden können.
- gelingt es, eine bewußte Freizeitgestaltung zu realisieren, so wird sich bei den Jugendlichen notgedrungen die Frage stellen, wie sie ihre Erfahrungen auch nach dem Lager organisiert weitermachen können. Die Frage des Organisierens wird zum Bedürfnis.

Aus: Sozialistisches Jahrbuch 5, Wagenbach 1973; zuerst abgedruckt in „Erziehung und Klassenkampf“ 8/1972.

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Erschienen in arranca! #1

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