Die radikale Linke in der Behindertenbewegung

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Obwohl die radikale Linke die westdeutsche Behindertenbewegung bis in die 1990er Jahre entscheidend geprägt hat, spielt sie in ihr derzeit keine bedeutende Rolle. Zugleich befindet sich die Behindertenbewegung in einer tiefen Krise, die Anlass geben könnte, das Verhältnis zur Linken neu zu bestimmen. Ein Symptom dieser Krise ist, dass die spektakulären Aktionen, mit denen die Bewegung eine breitere Öffentlichkeit erreichte, Jahre zurück liegen – so z.B. Blockaden von Buslinien, die nicht rollstuhlzugänglich sind, oder die Kampagne gegen öffentliche Auftritte des Euthanasie-Propagandisten Peter Singer. Im Gegensatz zum Internationalen Jahr der Behinderten 1981, das von massiven Protesten begleitet wurde, verging das entsprechende Europäische Jahr 2003 ziemlich sang- und klanglos.

Gemeinsamkeiten und Gegensätze

Die Linke brachte in die Behindertenbewegung vor allem die Bereitschaft zur Wahrnehmung von und zum Kampf gegen Unterdrückung ein. Radikalität und Militanz waren notwendig, um zu fordern, was selbstverständlich sein sollte: Keine Aussonderung im gesellschaftlichen Leben (insbesondere in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit, Mobilität); Nutzbarkeit der gesellschaftlichen Infrastrukturen durch Menschen mit verschiedenen Behinderungen; Kontrolle über die Bedingungen der persönlichen Assistenz (als Alternative zu paternalistischer Betreuung) und Selbstvertretung der Betroffenen.

Seit 1979 gründeten sich in der BRD zahlreiche „autonome Krüppelgruppen“, die sich als „autonom“ gegenüber „gemischten“ Organisationsformen verstanden, also auch gegenüber den Gruppen der nichtbehinderten Linken. Es ging darum, politische wie physische Räume zu schaffen, die frei von Paternalismus und zugänglich für Menschen mit verschiedenen Behinderungen sind. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Spannungen zwischen den Krüppelgruppen und anderen Linken. Beispiele waren die Konfrontation mit der Emma-Redaktion und deren Unterstützung für den bereits erwähnten Peter Singer oder die Kritik an dem gegen den § 218 gerichteten Slogan „Mein Bauch gehört mir“: Diese Kritik bezog sich auf die so genannte „eugenische Indikation“, die nach Auffassung der Krüppelgruppen keineswegs eine Frage individueller Entscheidungen, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Problem darstellte.

Das Verhältnis zu anderen unterdrückten Gruppen war umstritten. Die einen gingen von der Gemeinsamkeit verschiedener Diskriminierungserfahrungen aus, andere betonten die spezifische Situation von Menschen mit Behinderungen. Diese spezifische Situation sahen manche darin, dass „Krüppelfeindlichkeit“ ein allgemein-geschichtliches Phänomen sei, das auch in der nichtbehinderten Linken dominiere. Viele Aktive fuhren zweigleisig: Einerseits engagierten sie sich in den militanten Krüppelgruppen, andererseits unterstützten sie die „Grünen“, um auf diesem Weg Veränderungen durchzusetzen. Insgesamt wurden „Regenbogen-Koalitionen“, d.h. der Austausch mit schwul-lesbischen und feministischen Gruppen bevorzugt. Kontakte zu Menschen nicht-deutscher Herkunft blieben die Ausnahme, diese Gruppe ist auch heute noch stark unterrepräsentiert.

Zweischneidiger Erfolg: Stabilisierung zum Preis der Entpolitisierung

Während der zweiten Hälfte der 1980er Jahre orientierte man sich verstärkt an der US-amerikanischen und internationalen Behindertenbewegung. In dieser Zeit entstanden selbstverwaltete Beratungsstellen – die „Zentren für Selbstbestimmtes Leben“ (ZSL). Sie fungierten als Kontaktbüros für die politische Arbeit und boten über finanzielle Förderungen Erwerbsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung.

Die Annexion der DDR 1990 veränderte auch die behindertenpolitische Situation. Die DDR hatte, wie auch andere osteuropäische Länder, ihre eigene Behindertenbewegung, deren differenzierte Darstellung noch aussteht. Dass die Geschichte der Behindertenbewegung häufig nur als westdeutsche Geschichte gezeigt wird, ist symptomatisch für das Machtgefälle zwischen West und Ost. (Eine Korrektur dieser Einseitigkeit muss an anderer Stelle geleistet werden.) Heute ist die ostdeutsche Bewegung überwiegend in Verbänden organisiert, z.B. im Allgemeinen Behindertenverband oder im Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverband. Die ZSL in Jena und im Ostteil Berlins blieben die Ausnahme.

Der allmähliche Bedeutungsverlust der Linken in der Bewegung hat insbesondere etwas mit deren Erfolgen zu tun. Musste man in den 1980ern noch radikal sein, um für etwas „Utopisches“ wie gemeinsame Schulen für Kinder mit und ohne Behinderungen oder selbstbestimmte Assistenz zu kämpfen, sind diese Forderungen heute mainstream und z.T. verwirklicht. Mittlerweile gibt es „inklusive“ Schulen und Pädagogik, Behindertenbeauftragte an den Universitäten und in großen Städten Assistenzgenossenschaften oder –dienste. Trotzdem sind sie nicht der Regelfall: Bezogen auf die Schule weist die BRD eine der niedrigsten Inklusionsraten in der EU auf, viele Hochschuleinrichtungen sind trotz Behindertenbeauftragter und Bauvorschriften unzugänglich, die Assistenzdienste erreichen nur einen kleinen Teil von Menschen und müssen ökonomisch ums Überleben kämpfen.

Mit der Etablierung der ZSL veränderte sich die Rolle vieler Aktiver: Aus Militanten wurden Lobbyisten, die hauptsächlich mit politischer Kontaktpflege und der finanziellen Sicherung ihrer Projekte beschäftigt sind. In der Bewegung werden Schlüsselpositionen verstärkt von Männern mit relativ geringem Assistenzbedarf eingenommen.

So unvermeidlich diese Entwicklung z.T. auch war, hat sie die Bewegung doch in eine tiefe Krise geführt. Zwar ist es gelungen, z.B. das Prinzip der Selbstbestimmung salonfähig zu machen und den Anspruch auf Arbeitsassistenz gesetzlich zu verankern; gleichzeitig konterkariert der Sozialabbau diese Erfolge und gefährdet die Arbeit der ZSL. Die einseitige Strategie der Verhandlung mit Regierungsvertretern verurteilt auf Dauer zur Ohnmacht – Druckpotenzial geht verloren, Nachwuchs und die Unterstützung gleichbetroffener Gruppen bleiben aus. Die Neoliberalen lenken durch ihre Kürzungspolitik die Aufmerksamkeit auf die materiellen Voraussetzungen der Emanzipation. Sie fordern bei ihren Gegnern die Infragestellung von Besitz- und Herrschaftsverhältnissen geradezu heraus. Die Veränderung zugunsten der Besitzlosen und Subalternen aber ist das, woran man die Linke erkennt. Deren dringlichste Aufgabe besteht nicht, wie noch in den 1980er Jahren, im Geltendmachen der Interessen subalterner Gruppen (Lesben, Schwule, Migranten, Behinderte usw.) gegen Homogenisierungsdruck in Parteien, Verbänden und Gewerkschaften. Heute geht es darum, die zersplitterten Kräfte zu einen, wobei für diese Einigung gelten muss, was der zapatistische Grundsatz in Bezug auf eine künftige Gesellschaft besagt: In ihr müssen „viele Welten Platz haben“, d.h. sie müssen einen gemeinsamen Raum schaffen, in dem die verschiedenen Interessen der Subalternen artikuliert werden können. Guter Wille reicht dafür nicht aus, es bedarf der politischen Auseinandersetzung.

Behinderung als individuelle Eigenheit und soziales Verhältnis

Was heißt Behinderung, was Selbstbestimmung? Der Begriff Körperbehinderung wurde wahrscheinlich 1919 von Otto Perl geprägt, einem Mitbegründer des Selbsthilfebundes der Körperbehinderten. Heute gelten Menschen mit sehr verschiedenen Beeinträchtigungen als behindert. Die Grenzen sind verschiebbar. Einen Menschen, der an einem Ort für etwas „langsam“ gehalten wird und der als Hilfsarbeiter tätig ist, diagnostiziert man anderswo, wo die Ökonomie weniger Platz für Hilfsarbeiter bietet, als „lernbehindert“. Es geht dabei nicht nur, wie uns der Poststrukturalismus weismachen will, um „Diskurse“ oder „Sichtweisen“. Der Begriff der Behinderung ist der richtige Ausdruck verkehrter gesellschaftlicher Verhältnisse. In diesen gibt es zwar keine definitive Trennlinie zwischen Behinderung und Nichtbehinderung, aber deutlich unterscheidbare soziale Positionen. Daher ist die Behauptung, wir seien alle auf diese oder jene Weise behindert, interessierte Schönfärberei.

Der traditionelle, medizinisch geprägte Behinderungsbegriff unterstellt Behinderung als gleichbedeutend mit oder als natürliches Resultat einer körperlichen Verfassung, die als beeinträchtigend betrachtet bzw. erfahren wird. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung dagegen vertritt ein „soziales Modell“ von Behinderung: Hier rückt man, anstelle der körperlichen Konstitution, deren Besonderheit nicht geleugnet wird, die Beschaffenheit der gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse ins Zentrum. Diese sind es, die im eigentlichen Sinne behindern – Mängel an Assistenz, an Gebärdendolmetschern, an Rampen in Gebäude, an finanziellen Ressourcen, an Respekt. Diese sind es, die verändert werden müssen.

Selbstbestimmung und inklusive Aktionsformen

Selbstbestimmung ist der Kampfbegriff, der gegen vorfindbare Formen der Fremdbestimmung von Behinderten ins Feld geführt wird. Er bezeichnet die Möglichkeit, all die Dinge selbst entscheiden zu können, die Menschen ohne Behinderung normalerweise selbst überlassen sind. Dies betrifft insbesondere den Alltag: Menschen mit Behinderung fordern ihr Recht ein, selbst zu entscheiden, wann und mit wessen Hilfe sie aufstehen, sich waschen und zur Toilette gehen, welche Kleidung sie tragen, mit wem sie befreundet oder liiert sind, wo sie Arbeit suchen, wofür sie ihr Geld ausgeben usw. Leider ist all dies für viele Menschen noch nicht verwirklicht. Sie leben, weder unmündig noch verurteilt, unter aufgezwungenen Bedingungen, die denen von Kindern oder Strafgefangenen nicht unähnlich sind. Selbstbestimmung kann aber nicht auf formale Gleichheit innerhalb der bestehenden Verhältnisse beschränkt werden. Gefordert wird, dass auch Menschen mit eingeschränkter bzw. ohne Erwerbsfähigkeit über genügend Mittel verfügen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können; dass Erwerbswillige einen Ausgleich für Behinderungen auf dem „Arbeitsmarkt“ erhalten; dass Menschen an der Gesellschaft praktisch teilhaben können. Konsequenterweise müsste man dies auch denen zugestehen, deren Behinderungen wie Besitzlosigkeit, soziale Herkunft usw. nicht als Behinderung gelten: Selbstbestimmung, die nur eine Ausnahme und auf bestimmte Behinderungen beschränkt ist, wird zum Etikettenschwindel. Auf diese Weise wendet man sie zur neoliberalen Propaganda, die Freiheit unter Armutsbedingungen verspricht. Hier gilt es, den Trennstrich zu ziehen.

Zum Schluss noch ein praktischer Vorschlag. Linke Politik soll möglichst inklusiv sein, d.h. die Interessen von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen zugleich berücksichtigen und vereinigen. Eine Kampagne gegen Kürzungen im öffentlichen Nahverkehr z.B. kann verschiedene Gruppen ansprechen: die von Stellenabbau bedrohten Beschäftigten, Fahrgäste, die weniger für ihr Ticket zahlen wollen, ökologisch Aktive, alte Menschen, Mütter (manchmal auch Väter) mit Kindern, Rollstuhlfahrer, die in ihrer Mobilität eingeschränkt werden, Flüchtlinge, die gegen „Residenzpflicht“ protestieren…

Eine Voraussetzung derartiger Kampagnen ist, über die jeweiligen Lebenssituationen und Interessen im Bilde zu sein. Von daher ist ein behindertenpolitischer Beitrag in linken Medien hin und wieder am Platze.

Literatur

die randschau. Zeitschrift für Behindertenpolitik (1986-2000, vierteljährlich)

Michael Zander (2005): Independent Living. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6.2, hgg. v. W.F. Haug, Berlin, Hamburg

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Erschienen in arranca! #33