«Wer nicht arbeitet, soll nicht essen»

Geschichte, Gegenwart und Kritik des Antiziganismus

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Antiziganismus ist aktuell und brisant wie selten zuvor und stellt auch Linke vor die Aufgabe, sich dieses Problems anzunehmen und für eine wirksame Bekämpfung des Antiziganismus und seiner Ursachen einzustehen und zu streiten. Denn wenn in Berlin die B.Z., die Bild-Zeitung und der Tagesspiegel gegen «Roma-Bettler» hetzen und die Taskforce Okerstraße des Quartiersmanagments Schillerpromenade in Berlin-Neukölln von «umherziehenden Roma-Kindern» fabuliert, stellt dies nur die Spitze eines Eisberges dar. Antiziganismus als Phänomen, das die stereotype Vorstellung vom ‹Zigeuner› genauso umfasst wie direkte Praxen, die sich gegen betroffene Roma, Sinti und andere als ‹Zigeuner› stigmatisierte Gruppen und Individuen richten, muss als allgegenwärtig bezeichnet werden. Dabei gehört Antiziganismus zu den wirkmächtigsten Ressentiments, die in Europa existieren, wobei Roma gleichzeitig die größte ‹ethnische Minderheit› in der EU stellen. In den letzten 24 Monaten gab es eine ganze Reihe antiziganistischer Ereignisse, die es in die Medien geschafft haben.

Die Gegenwart des Antiziganismus

In Neapel griffen Anwohner_innen im Mai 2008 ein Camp von Roma mit Molotowcocktails, Steinen und Eisenstangen an. Im tschechischen Litvinov versuchten Anhänger_innen der rechtsradikalen Arbeiterpartei seit Oktober 2008 wiederholt, das mehrheitlich von Roma bewohnte Stadtviertel Janov zu stürmen. Sechs Monate später versprach die Nationale Partei in einem Wahlwerbespot im tschechischen Fernsehen die «Endlösung der Zigeuner-Frage». In der Slowakei wurden im April 2009 acht jugendliche Roma auf einer Polizeistation gezwungen, sich gegenseitig zu schlagen. Seit November 2008 wurden in Ungarn bei zahlreichen Attacken mit Molotowcocktails, Handgranaten und Schusswaffen mindestens acht Roma ermordet und zahlreiche weitere schwer verletzt. Zuletzt wurde am 2. August 2009, der dieses Jahr erstmals international als Gedenktag an die Vernichtung der Roma in Auschwitz begangen wurde, in Ungarn eine 45-jährige Romni erschossen, ihre Tochter wurde schwer verletzt. Im Mai 2009 wurden in Belfast 20 Roma-Familien von der faschistischen Gruppe Combat 18 unter Morddrohungen aus ihren Häusern gejagt. Im August 2009 vertrieben Ortsansässige einer österreichischen Gemeinde gewaltsam eine Gruppe Roma. In einem slowakischen Dorf ist geplant, eine hohe Mauer zwischen dem Kern des Dorfes und der dortigen Roma-Siedlung zu errichten. Und in der Bundesrepublik sind aktuell circa 10000 Roma, die 1999 bei pogromartigen Ausschreitungen und Angriffen nationalistischer albanischer Gruppen aus dem Kosovo vertrieben worden waren, von einer Abschiebung in das Kosovo bedroht. Und das, obwohl Roma im Kosovo beinahe täglich antiziganistischen Übergriffen ausgesetzt sind, von der Unmöglichkeit der Partizipation an Gesundheitsversorgung, Schulbildung oder Arbeitsmarkt ganz zu schweigen.

Diesen offenen antiziganistischen Praxen zur Seite gestellt sind antiziganistische Einstellungen und Diskriminierungsmechanismen, die sehr viel subtiler ablaufen. Die letzte repräsentative Studie, die auch nach antiziganistischen Einstellungen fragt, datiert von 1994 und wurde vom American Jewish Comittee in Auftrag gegeben und von EMNID in Deutschland durchgeführt. 64 Prozent der Befragten gaben an, dass sie «Zigeuner lieber nicht als Nachbarn» haben wollten. Sie landeten damit auf Platz eins der Ablehnung durch die Deutschen, in großem Abstand gefolgt von «Arabern», «Polen», «Afrikanern », «Türken», «Vietnamesen» und «Juden», die alle deutlich unter 50 Prozent und größtenteils um die 30 Prozent rangieren.

Bei einer vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma durchgeführten Befragung unter deutschen Roma und Sinti von 2006 gaben 76 Prozent an, schon häufiger bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, in Gaststätten oder von Nachbar_innen diskriminiert worden zu sein. Diese Daten mögen vielleicht nicht verwundern, aber sie beunruhigen. Während es bezüglich des Antisemitismus in der Bundesrepublik wenigstens eine Art Sprachregelung gibt, die dazu geführt hat, dass offen antisemitische Äußerungen verpönt sind und sich Antisemitismus in der Gegenwart wahlweise als sekundärer Antisemitismus oder als Antizionismus äußern muss, gibt es für einen sekundären Antiziganismus gar keine Notwendigkeit. Die wenigen existierenden Tabus sind sehr leicht zu umschiffen, fast alles ist sagbar in Bezug auf Roma und Sinti.

Vom Deutschen Reich bis zur Bundesrepublik

Daran hat auch die mittlerweile zumindest im Gedenkkanon etablierte Erinnerung an die Massenvernichtung von Roma, Sinti und anderen als ‹Zigeuner› stigmatisierten Gruppen im Nationalsozialismus durch die Deutschen und ihre Helferinnen und Helfer nichts geändert. Einerseits bleibt dieses Gedenken selbst innerhalb des Gedenkkanons ein absolutes Randphänomen. Bei genauerer Analyse kann sogar festgestellt werden, dass selbst in das Gedenken an den Massenmord antiziganistische Muster eingeschrieben sind und dort reproduziert werden.

Der Verfolgung im Nationalsozialismus fielen circa 500000 Roma, Sinti und andere, die als ‹Zigeuner› stigmatisiert waren, zum Opfer. Ungezählte weitere wurden zwangssterilisiert, deportiert, zu Zwangsarbeit gezwungen oder waren in Lagerhaft. Als Fluchtpunkt bleibt der Holocaust Maßgabe jedes anti-antiziganistischen Denkens und Handelns. Dabei muss jedoch festgestellt werden, dass die nationalsozialistische Politik bezüglich der ‹Zigeuner› in den Anfangsjahren relativ bruchlos an die Politik der Weimarer Republik und des Deutschen Reiches anschließen konnte und diese Politik in der BRD teilweise fortgesetzt wurde. 1899 wurde bei der Münchner Polizei eine Zigeunerzentrale eingerichtet, die bis in die 1960er Jahre unter wechselnden Namen und Systemen maßgeblich für die Erfassung der als ‹Zigeuner› titulierten Menschen in ganz Deutschland zuständig war. Eine moderne Bürokratie und Verwaltungsstruktur ermöglichte eine Totalerfassung aller ‹Zigeuner› mittels Karteien und Lichtbildern. 1926 trat in Bayern das «Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen» in Kraft, das einen neuen Höhepunkt in der Politik gegen als ‹Zigeuner› diffamierte Gruppen darstellte. Die so bestehende Infrastruktur wurde im Nationalsozialismus übernommen und Stück für Stück ausgebaut. Auch in der neu gegründeten Bundesrepublik nahmen spezielle Behörden und Institutionen sofort wieder ihre Arbeit auf. Die nunmehr Bayerische Landfahrerzentrale getaufte Institution war bereits ab 1953 erneut faktisch bundesweit zuständig. Das «Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen» von 1926 wurde ebenfalls 1953 – mit einigen Veränderungen – neu aufgelegt. ‹Zigeunerforscher› wie Hermann Arnold konnten ebenso wie zahlreiche Landeskriminalämter einen Großteil der während des Nationalsozialismus angelegten Akten von der Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens im Reichskriminalpolizeiamt und der Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt weiter nutzen. Diese ungeheuerlichen Vorgänge wurden bis heute weder juristisch noch politisch aufgearbeitet. Während der Bundesgerichtshof in einem berüchtigten Urteil von 1956 feststellte, dass Roma und Sinti bis 1943 nicht aus ‹rassischen› Gründen, sondern aufgrund ihrer ‹Asozialität› verfolgt worden seien, schlossen sich brave schwäbische Dorfbewohner_innen 1957 im Örtchen Magolsheim zusammen, um ein Haus niederzureißen, in das am nächsten Tag eine Familie von Sinti einziehen wollte.

Gesellschaftliche Genese

Wie kommt es zu dieser langen Tradition und tiefen Verankerung des Antiziganismus? Wie bei allen Ressentiments ist es wichtig, die Ursachen nicht mit den vermeintlichen ‹Eigenschaften› oder ‹kulturellen Eigenheiten› der Roma in Verbindung zu bringen. Grundsätzlich ist die Verfasstheit der Mehrheitsgesellschaft zu analysieren, um ein Ressentiment zu verstehen. Für den modernen Antiziganismus sind insbesondere die Entwicklungen der bürgerlichen Vergesellschaftung zentral, die mit Arbeitsgesellschaft, Heteronormativität und Nationalstaatlichkeit beschrieben werden können. Im Sinne einer «pathischen Projektion» – ein Konzept, das Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung beschrieben hat – werden auf ‹die Zigeuner› all jene Eigenschaften projiziert, die gesellschaftlich tabuisiert sind. Mit der Arbeitsgesellschaft der bürgerlichen Ökonomie begann sich eine neue gesellschaftliche Norm der Arbeit durchzusetzen, begleitet von der Drohung der Einlieferung in Arbeitshäuser oder anderer Zwangsarbeit als Strafe für Faulheit. Auf ‹den Zigeuner› wird nun die gesellschaftlich unerwünschte Eigenschaft der ‹Faulheit› projiziert. «Wer nicht arbeitet soll nicht essen» könnte das neue Motto genannt werden. ‹Der Zigeuner› wird verfolgt, weil er scheinbar diese Regel unterläuft, indem er angeblich von der Produktion anderer lebt, also bettelt, stiehlt oder betrügt.

Bei der Durchsetzung der Nationalstaatlichkeit greift ein ähnlicher Mechanismus: Alle Menschen müssen am Ende dieses Prozesses eine ‹nationale Identität› aufweisen können, eine Herkunft und eine Heimat. ‹Die Zigeuner› scheinen sich durch ihr Umherziehen, ihr Nomadentum und ihre Ortlosigkeit dieser Entwicklung zu widersetzen.

Auch die bürgerlichen Geschlechterverhältnisse mit den Grundfesten der Monogamie, der biologischen Zweigeschlechtlichkeit und der Heteronormativität korrespondieren mit antiziganistischen Stereotypen. Das Konstrukt der ‹rationalen Männlichkeit› scheint durch die ‹verführerische sinnliche Zigeunerin› in seiner Selbstbeherrschtheit in Frage gestellt. Als eine ständige Verlockung aus Tanz, Magie und Erotik repräsentiert sie den Typus der ‹femme fatale›, die wie Carmen in Mérimées Novelle den selbstbeherrschten Mann um den Verstand bringt und dafür am Ende mit dem Leben bezahlen muss.

Eine anti-antiziganistische Linke muss diese Hintergründe reflektieren und zu einer angemessenen Praxis finden, ohne sich dabei in einer philoziganistischen Projektion vermeintlicher ‹Freiheitsliebe› und ‹Ungebundenheit› zu verlieren. Eine Theoriebildung ist von Nöten, die auf die engen Verschränkungen mit Antisemitismus, Rassismus und Sexismus eingeht und gleichzeitig auf den Zusammenhang mit bürgerlicher Vergesellschaftung hinweist. Mögliche Praxen sind beispielsweise die Kritik an der und der Protest gegen die Abschiebepraxis der Bundesrepublik, die zur Zeit alle nötigen Vorbereitungen trifft, um mehrere Tausend Roma aus dem Kosovo wieder abzuschieben, sowie die politische und materielle Unterstützung der Betroffenen. Hierzu arbeiten bereits einige Gruppen und Initiativen in Deutschland. Eine andere konkrete Möglichkeit wäre, sich die Strategiepapiere der bereits genannten Taskforce Okerstraße genauer anzusehen und das darin sich abzeichnende antiziganistische Projekt zu problematisieren und öffentlich zu kritisieren. Soweit es möglich und gewünscht ist, sollte dabei eine Zusammenarbeit mit Selbstorganisationen von Roma, Sinti und anderen von Antiziganismus betroffenen Gruppen gesucht werden.

Zum Weiterlesen:

Markus End, Kathrin Herold und Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster 2009.

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Erschienen in arranca! #41

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