Gnadenlos unerträglich

Fernsehen zur Erziehung der Arbeitslosen

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Die neue Reality-Show auf Sat1, Gnadenlos gerecht, dokumentiert die Arbeit von zwei ‚Sozialfahndern’ im Kreis Offenbach in Hessen. Sie belauern und befragen Leistungsbezieher, um sie des Bruchs von Vorschriften zu überführen oder um nicht angegebenes Eigentum oder zusätzliche Verdienste aufzudecken. Wie die einzelnen ‚Fälle’ auf ihren Schreibtisch kommen, ist nicht immer klar - mehrfach werden schriftliche Denunziationen aus der Bevölkerung gezeigt. In diesen wird etwa behauptet, die Leistungsbezieher seien „seit Monaten in der Türkei“ oder der Lebensstil passe einfach nicht zum Bezug von Hartz IV. Dann werden die Fahnder aktiv – „wir müssen da hin“. Die Kamera immer dabei, obwohl man meist nur Nebel sieht, weil ohne die Zustimmung der Betroffenen nichts gezeigt werden kann, was auf ihre Identität hinweist. Also ist die meiste Zeit fast alles mit Weichzeichner hinterlegt – bis auf die beiden Sozialfahnder, die hölzerne Sätze zwischen sich hin- und herschieben. Und natürlich bis auf die Erfolgsgeschichten: wenn der Vater Alkoholiker ist, ist die Sozialfahnderin Frau Fürst auch mal großzügig und gewährt dem jungen Mann, obwohl er noch unter 25 ist, ein paar Euro für die eigene Wohnungseinrichtung. Nicht ohne zu kontrollieren, ob er sie auch richtig ausgegeben hat. Keiner der Aufgesuchten erhält eine Rechtsbelehrung, im Zweifelsfall wird eben das Kind einer Leistungsbezieherin an der Gegensprechanlage in die Mangel genommen, wo denn die Mama sei. Als die Kleine was von einer Fahrradtour erzählt, ist Frau Fürst wieder einen Schritt weiter: Das ist ihr ja schließlich nicht erlaubt, sich ohne Abmeldung von zu Hause zu entfernen - zumindest dieser Tag wird ihr schon mal gestrichen. Und wie dieses erste Anzeichen schon andeutet, wo Rauch ist, ist schließlich auch Feuer, bleibt es nicht bei der Fahrradtour. Durch ‚verdeckte Ermittlungen‘ und extensives Rumlungern in einer Kneipe weisen die Sozialfahnder auch noch Schwarzarbeit in der Kneipe nach. Leistungen werden gestrichen, Rückzahlforderungen, Anzeige wegen Betrugs.
Der Titel Gnadenlos gerecht soll andeuten, dass hier nur dem Recht Geltung verschafft wird. Tatsächlich stellen sich Frau Fürst und ihr Gehilfe (die zwei sind ein bisschen wie in schlechten Fernsehkrimis: damit die Zuschauer den ohnehin schon dürftigen Spannungsbogen mitkriegen, wird dem Kollegen Sicherheitsexperten alles ganz genau erklärt) als eine Art Über-Eltern- Instanz dar: Wer ordentlich fragt und nicht betrügt, dem wird gewährt, ansonsten werden andere Saiten aufgezogen. Der Jargon der Denunziationsbriefe wird gerne von Frau Fürst noch mal wiederholt – „die fährt ’nen dicken fetten BMW“, „die sind also offensichtlich(!) seit Monaten in der Türkei“ –, eine Differenz zwischen Ressentiment und Amtsauftrag scheint es nicht zu geben.

Die ganze Wirklichkeit?

Die Sendung arbeitet Denkformen aus, die nahe legen, Gesellschaft so zu denken, „als ob die Unmittelbarkeit seiner Lebenslage/- praxis die ganze Wirklichkeit wäre“, wie Klaus Holzkamp es 1983 in „Grundlegung der Psychologie“ nennt. Holzkamp bezeichnet das als „deutendes Denken“, als kognitiven Aspekt restriktiver Handlungsfähigkeit: also einer Handlungsfähigkeit, die um den Aspekt des Eingreifens verkürzt ist. Gesellschaftliche Vermittlungen werden ausgeblendet. Das ist herrschaftsfunktional und ermöglicht den Einzelnen sich selbst darin so zu denken, dass sie nicht an die gesetzten Grenzen stoßen.

Walter Benjamin analysierte das Interesse der Massen am aufkommenden Film als eines daran, sich selbst und ihre Arbeit ins Zentrum zu rücken. In der kapitalistischen Filmindustrie allerdings werde das Interesse der Selbst- und somit auch der Klassenerkenntnis umgelenkt auf das Interesse an Intimitäten der Stars. Die neoliberale Fernsehpraxis der Reality-Shows kann als herrschaftliche Reartikulation dieser verdrängten Interessen gesehen werden: Hier wird der ‚Anspruch’ eines jeden, gefilmt zu werden, nicht mehr bekämpft, sondern aufgegriffen. Diese Selbstverständigung über Lebensweisen und Gerechtigkeitsvorstellungen ist aber von Klassenerkenntnis denkbar weit entfernt. Gleichzeitig wird der Zuschauer in die Position des „halben Fachmanns“ (Benjamin) versetzt, der/die selber darüber befinden kann, was berechtigte Ansprüche sind, was ‚irgendwie verdächtig’ wirkt – und erscheint so plötzlich handlungsmächtig und ‚auf der richtigen Seite’.

In einer europaweiten Interviewstudie zu den Erfahrungen von Menschen mit den aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen zeigt sich immer wieder das Gefühl des „aufgekündigten Vertrages“ (vgl. www.siren.at). Gemeint ist die von vielen geteilte implizite Vorstellung, dass sich „harte Arbeit gegen gesellschaftliche Absicherung, Lebensstandard und Anerkennung tausche.“ Die Interviewten äußern durchaus Bereitschaft, härter zu arbeiten und mehr zu leisten, müssen aber feststellen, dass legitime Erwartung in Bezug auf verschiedene Aspekte von Arbeit, Beschäftigung, sozialen Status oder Lebensstandard dauerhaft frustriert werden: der Vertrag ist ‚einseitig gekündigt‘ worden. Dies führt zu Ungerechtigkeitsgefühlen und Ressentiments in Bezug auf andere soziale Gruppen, die sich den Mühen der Arbeit anscheinend nicht in gleichem Maße unterziehen müssten und für die besser gesorgt werde oder die ihre Sachen (illegal) selbst arrangierten: einerseits Manager, Politiker mit hohem Einkommen, die sich großzügige Pensionen zusprächen, andererseits Menschen, die von der Wohlfahrt lebten, statt zu arbeiten oder Flüchtlinge, die vom Staat unterstützt würden. Hier können rechte Mobilisierungen ansetzen, die ‚das Volk’ nach oben und unten zu verteidigen vorgeben.

An solchen Gefühlen kann auch Gnadenlos gerecht ansetzen. Auf der Focus-Webseite unter einem Bericht über die Sendung fragt ‚Klingone’ im Blog: „Aber müssen wir dies als steuerzahlende Bürgerinnen und Bürger dulden, dass wir ausgenommen werden wie die Weihnachtsgänse?“ Wie kommt es, dass ‚Klingone’ gar nicht merkt, dass er von den 750 000 Euro, die das Fahnderduo dem Landkreis gespart haben will, nichts abbekommen hat? Zur Kontrastierung der ‚Schmarotzer‘ greift die Sendung auf rassistische Stigmatisierungen zurück: überdurchschnittlich viele angeblich entlarvte ‚Betrüger’ werden als ‚Türken’/‚Ausländer’ charakterisiert – das macht es einfacher, sich selbst nicht in der Lage der ‚Anderen‘ zu sehen.

Klassengesellschaft

„Diese Soap ist einfach schwer erträglich“, schreibt Michael Hanfeld am 21. August 2008 für Faz.net - und das ist wahrscheinlich das Wahrste, was dazu gesagt werden kann. Allerdings scheinen die Grenzen für Fremdscham unterschiedlich verteilt zu sein, wie Nachmittags-Talksendungen, Toto&Harry, Big Brother oder Frauentausch zeigen.
Und doch fragt man sich, ob die Sendung auch gegen den Strich geschaut werden kann? Kann der offensichtliche Zwangscharakter dieser Sozialkontrolle die Wahrnehmung für gesellschaftliche Zusammenhänge stärken und kommt vielleicht irgend jemand mal auf die Idee, die 750 000 angeblich gesparten Euro mit den 480 Milliarden zu vergleichen, die der deutsche Staat von jetzt auf gleich den Banken zur Verfügung stellt? Zumindest finden sich auch Diskussionsbeiträge, die gegen „Stasiund Gestapo“-Methoden wettern und von „Neo-Hexenjagd“ sprechen (Differenzierung ist auch hier nicht gerade die Stärke der Blogger). Kann es sein, dass Menschen aus der Sendung lernen, wie sie nicht so schnell erwischt werden? Dass es sinnvoll sein kann, mit seinen Nachbarn über Zumutungen des Sozialstaates zu sprechen, der ihnen nicht mal die Fahrradtour gönnt? Den Kommentar auf der Faz.net-Seite lesen wohl wieder nicht die Richtigen: „Es geht um [...] ein beeindruckendes Spektakel [...], das vor allem den noch Arbeitenden deutlich vor Augen führen soll, welche Zumutungen man als Arbeitsloser ertragen muss. [...] Die Klassengesellschaft ist mitnichten tot.“

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Erschienen in arranca! #39

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