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Bruch und Kontinuität in linken Biographien

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Momentaufnahme dieser Tage in Europa: Frankreich, Stéphane Hessel, 94 Jahre alt, Autor der Broschüre „Empört Euch“, Widerstandskämpfer der Résistance, ruft die Jugendlichen Europas auf zu widerstehen. „Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegungen und der Kampfgruppen des freien Frankreich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben.“ In Spanien nehmen Tausende von prekarisierten Jugendlichen seine Ideen auf und besetzen zentrale Plätze. In Griechenland unterstützen die Ikonen des antifaschistischen Widerstandes Mikis Theodorakis und Manolis Glezos den militanten Kampf der Bürger_innen des Ortes Keratea gegen eine Mülldeponie. In diesen alten Männern lebt die Flamme des antifaschistischen Widerstandes, offenbart sich dessen geschichtliche Bedeutung und eröffnet den Horizont, dass ein Leben in Opposition möglich ist. Und in Deutschland?
1993 formulierte die arranca! Nr. 1 unter dem Titel „Lernprozesse“ eine kritische Betrachtung des Umgangs mit der Geschichte und den Erfahrungen in der deutschen radikalen Linken. Diagnostiziert wurde, dass ein wesentliches Problem der deutschen Linken das Fehlen von älteren Erfahrungsträger_innen in den Bewegungen, das Fehlen von Sichtbarkeit und Überlieferung der Prozesse des Alterns ist. Warum ist das besonders in Deutschland so? Warum gibt es hier nur wenige Personen, die als Ikonen des Widerstandes mit ihrer Ausstrahlung Symbolkraft entwickeln können, die vermitteln, dass ein Leben als Linke_r „rockt“? Gibt es Personen, die militante Widerstandserfahrungen weitergeben und in ihren Biographien die Möglichkeit zum Widerstand mit der Möglichkeit zum Leben und Altern vereinen?
Kaum geeignet sind Rainer Langhans als Vorkoster im Dschungelcamp, Alice Schwarzer in der Bild oder Joseph Fischer als Berater bei RWE und BMW. Auch Claudia Roth als Ex-Managerin von Ton Steine Scherben oder Udo Lindenberg sind als Idole für ein radikales Dagegen, für eine Kontinuität lebbarer oppositioneller Lebensentwürfe kaum geeignet. Sie beweisen vielmehr das Gegenteil: In Deutschland führt der Weg häufig von links unten nach rechts oben oder aber in die völlige Trivialisierung.
Dem gegenüber verkörpern die in Kinofilmen und unzähligen Features popularisierten und idealisierten Militanten Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Holger Meins die Nichtvereinbarkeit von Widerstand und Leben inmitten der Gesellschaft. In der Absolutheit der von ihnen formulierten Unmöglichkeit eines „richtigen“ Lebens „im Falschen“ wird ihre Message schemenhaft auf die Alternative zwischen dem Bruch mit dem System oder Anpassung reduziert.
Ist die Repression eine zentrale Ursache für die kurze Verweildauer in den linken Bewegungen oder die Nichtlebbarkeit der spezifischen Aktionsformen? Repression und Druck auf die Linke haben in Deutschland eine lange Tradition, viele Kämpfer und Kämpferinnen sind in den Nazi-KZs ermordet worden. Das Verbot der KPD 1956, die Berufsverbote insbesondere der Lehrer_innen in den 1970ern haben sich als Warnung massiv ins Bewusstsein eingebrannt.
Kämpfen und leben und dabei bleiben? Alle die, denen das „Dazwischen“, ein lebbares widerständiges Leben wichtig ist, sehen sich massiven Schwierigkeiten ausgesetzt. Widerstand zu leben bedeutet immer häufiger auf anderes zu verzichten - eine Familie, einen Lebensentwurf mit Umwegen, ein gesichertes Einkommen, einen bürgerlichen Job.
Als junge Menschen migrieren wir in die Metropolen, die uns mit ihren Subkulturen locken, mit den geilen Parties und dem wilden Leben. Wir wagen den Bruch mit dem Alten, wir gehen ohne Familienbezug, ohne die Stoffe und Bilder der Kindheit, ohne die festen Verankerungen, die uns in unseren Kämpfen Orientierung geben. Wir versuchen uns zu finden, aber in der Fluktuation bleiben wir fremd - das macht es so einfach, uns auseinanderzureißen. Uns fehlt die Kontinuität, der Boden unter den Füßen, der das Kämpfen erst möglich macht. Und so werden viele irgendwann von den Zentrifugalkräften des Lebens erwischt und ins Außen geschleudert. Manche Nicht-mehr-Aktivist_innen resignieren, verstummen, ziehen sich verletzt zurück. Manche bekommen vielleicht Kinder und sind auf feste Vernetzungen angewiesen, die sie in fluktuierenden Szenen nicht selbstverständlich antreffen.
Doch unsere vielfältigen Erfahrungen als Aktivist_innen sind wertvoll und wir können sie weiter nutzen und in unsere Biographien integrieren, auch wenn wir - älter geworden - uns vielleicht aus der Szene lösen. Wenn es uns gelingt, statt eines kurzen metropolitanen Lifestyle der Politik-Machens ein langfristiges Politisch-Sein als Lebensentwurf zu ermöglichen, dann können wir mit unserer ganzen Energie in die alltäglichen Realitäten, sozialen Beziehungen und notwendigen Kämpfe gegen Diskriminierungen, Herrschaft und Ausbeutung eingreifen. „Die Freiheit ist nicht die Geste, uns von unseren Verbundenheiten loszulösen, sondern die praktische Fähigkeit, auf sie einzuwirken, sich in ihnen zu bewegen, sie zu erschaffen oder zu durchtrennen (Das unsichtbare Komitee: Der kommende Aufstand).

Charlotte Spielmann (war in den 1990er Jahren aktiv bei FelS und in der arranca!)

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Erschienen in arranca! #44

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