Traditionen interessieren mich nicht so

Interview mit Peter Birke und Bernd Hüttner

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Vordergründiger Anlass dieses Interviews ist das 20-jährige Bestehen der Gruppe FelS. Dabei soll es allerdings nicht um einen Lobgesang auf die Tatsache gehen, dass eine linke Basisgruppe es zwei Dekaden lang geschafft hat, nicht auseinanderzubrechen und in internen Grabenkämpfen zu versacken. Die Tatsache, dass dauerhafte „Organisierung ohne Organisation“ in der Realität eher selten ist, ist zwar für alle Beteiligten erfreulich – und eine Basis auf der sich aufbauen lässt – dennoch ist Kontinuität allein noch kein Indikator für eine aktive Rolle innerhalb gesellschaftlicher Kämpfe um die Frage, wohin die Reise geht. Und auch wenn es keinen Grund für völlige Niedergeschlagenheit gibt: An den eigenen Ansprüchen gemessen sind die sozialen Bewegungen, ist linke Organisierung in der Bundesrepublik heute nach wie vor randständig. An diesem Befund führt kein Weg vorbei, FelS hin oder her.
Allerdings soll diese Erkenntnis auch nicht zur Untätigkeit verdammen, weder auf der Straße noch in der politischen Diskussion um Stand und Perspektiven des emanzipatorischen Projekts. Und so geht es uns darum, unsere eigene Perspektive auf linke Bewegungsgeschichte kritisch yzu reflektieren und zu schauen, was „unsere“ Stabilität bedeutet – oder auch nicht.
Für die arranca! sprach Heike mit dem Hamburger Historiker Peter Birke und dem Politikwissenschaftler und Gründer des Bremer Archivs der sozialen Bewegungen, Bernd Hüttner. Beide beschäftigen sich seit Jahren mit Bewegungskonjunkturen und der Geschichte sozialer Bewegungen.

¿Wenn ihr unsere, wie wir hoffen, nicht enthemmte, aber doch vorhandene Freude über „20 Jahre FelS“ seht, was fällt euch aus eurer Perspektive dazu ein? Was bedeuten 20 Jahre Stabilität einer linken Gruppe im bundesdeutschen (und gerne auch globalen) Kontext, wenn man die Tatsache, dass FelS eben kein Verein oder Verband, sondern ein (langsam aber doch stetig wachsender) Organisierungsversuch ist, berücksichtigt?

BH: Im Vergleich ist FelS damit eine Ausnahme. Und das bedeutet, dass FelS es geschafft hat, immer wieder eine neue Vision seines Daseinszweckes zu schaffen und auch neue Menschen dafür zu begeistern. Das verdient Respekt – und ich würde mir in der Bundesrepublik in noch ein Dutzend Städten Gruppen mit einer Ausstrahlungskraft und Kontinuität wie FelS wünschen.
PB: Ich finde das Vorhandensein von solchen Gruppen sehr bedeutend – und ich freue mich sehr für euch, hoffentlich gibts eine rauschende Party!

¿Machen wir, am 24. September in Berlin und sowohl ihr beiden als auch alle Leser_innen sind allerherzlichst eingeladen!

PB: Kompliment! Ich finde es sehr wichtig, dass ihr Eure Erfahrungen aufhebt, sie werden ja vielleicht noch gebraucht. Einer der sozialen und politischen Zusammenhänge, in dem ich mich in Hamburg bewege, die Gruppe Blauer Montag, hat das auch versucht. Wir haben sogar ein Buch darüber geschrieben.1 Eigentlich ist es eher eine kommentierte Textsammlung. Das Problem war, dass am Ende vor allem zu sehen war, dass vieles schon mal gesagt oder geschrieben worden ist. Anschließend hat man also nichts mehr zu sagen – und kann sich auflösen. Wir haben das zwar nicht gemacht, aber einfach war das nicht. Das heißt: Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen kann ziemlich riskant und schwierig sein. Das liegt vielleicht auch daran, dass man die Vergangenheit nicht einfach aufhäufen oder ansammeln kann, so wie man Briefmarken oder Klassenfotos sammelt. Vergangenheit ist nichts, was man einlagern kann. In die Vergangenheit blickt man – wenn man sich dafür entschieden hat – nicht klar und eindeutig, sondern eher wie durch einen zerbrochenen Spiegel. Das gilt meines Erachtens nicht nur individuell, sondern auch in Bezug auf unsere kollektive, politische Geschichte. Es geht insofern eher darum, Geschichte kritisch und systematisch zu reflektieren, als darum, Traditionen anzurufen in der Hoffnung, dass der Geist, den wir beschwören, irgendwann auf der Brüstung erscheint.

¿Dass sich Traditionen fast schon zur Groteske entwickeln können, lässt sich ja gerade in Berlin zu besonderen Events wie beispielsweise der LLL-Demonstration beobachten. Ich sage das – und gehe trotzdem jedes Jahr wieder hin, wie um mich zu vergewissern, dass es wirklich so merkwürdig ist, wie mein Gedächtnis mir sagt … Aber wie sieht es in Kontexten aus, die weniger parteiförmig, symbolisch aufgeladen und vielleicht auch weniger Nelken-affin sind?

PB: Ein einfaches Beispiel: Politische Kollektive in unserem Alter, auch wenn sie sich nicht parteiförmig konstituieren, neigen oft dazu, die eigenen Bewegungserfahrungen zum Maßstab zu machen, etwa in der Form, in der Kampagnen gemacht werden, durch inhaltliche Setzungen wie zum Beispiel eine bestimmte Art, nach „der Klasse“ zu fragen, über Vorstellungen über das Zusammenleben und die Organisierung. Aber wenn eine neue Soziale Bewegung beginnt, stehen in Wirklichkeit fast nie diese Fragen im Vordergrund. Man fragt sich eher, warum die Leute plötzlich so wütend sind und welcher Funke es war, der das Ganze zur Explosion gebracht hat. Das gilt grundsätzlich für alle Aufstände: Wer hätte damit gerechnet, dass ein prekärer Wissensarbeiter jenseits von Tunis eine „arabische Revolution“ auslösen könnte? Oder wer hat vorausgesagt, dass in Portugal ein paar Millionen Menschen über Facebook zu Massendemonstrationen gegen Prekarisierung mobilisiert werden können?
Ich will das nicht vergleichen oder sogar gleichsetzen. Aber solche Überraschungen können wir auch in einem lokalen Maßstab erleben. Ehrlich gesagt haben wir in Hamburg keine der Protestbewegungen der letzten mindestens zehn Jahre kommen sehen und gleichzeitig haben wir uns oft falsche Hoffnungen gemacht, wo eigentlich nur Stagnation war. Und ob es die großen sozialpolitischen Proteste, Bambule oder jetzt „Recht auf Stadt“ waren – wenn überhaupt, haben wir immer erst eingegriffen, wenn sich bereits etwas bewegte. Ich glaube, dass der richtige Umgang ist, sich eine forschende oder suchende Haltung zu bewahren, und zwar in Bezug auf die Vergangenheit und die Gegenwart und sogar in Bezug auf das, was früher als Zukunft erhofft wurde. Ich weiß, dass dieser Vorschlag vielleicht eher nach einem Glückwunsch zum Erreichen des Rentenalters klingt. Aber irgendwie ist es ja auch so: Im Vergleich zu den meisten anderen linksradikalen Gruppen haben wir nach 18 oder 20 Jahren Bestand ja schon so etwas wie das Rentenalter erreicht.

¿Da muss ich jetzt nachfragen: Seid ihr denn als Mitglieder des Blauen Montag gemeinsam gewachsen und ins „Rentenalter“ gekommen, also ist die Gruppe personell so stabil, dass man nach 18 Jahren seine Pappenheimer irgendwie kennt und weiß, wer heimlich die Schachfiguren frisst oder habt ihr wie wir eher eine hohe Fluktuation? Denn aus meiner Perspektive konterkariert diese Fluktuation bei FelS unser „Rentner_innendasein“ – sowohl in Hinsicht auf die schlechten Seiten wie Eingefahrenheit und eine gewisse Erschöpfung durch immer nur graduell gewonnene Schlachten als auch auf die guten Seiten wie Erfahrung, kontinuierliche Wissensakkumulation, Vertrautheit, eine gewisse Abgebrühtheit …

PB: Du hast Recht, da gibt es einen Unterschied. Natürlich wollte ich weder die arabische Revolution und die „Recht auf Stadt“-Bewegung noch FelS und unseren bescheidenen Diskussionszirkel vergleichen. In Hamburg ist es meiner Wahrnehmung nach tatsächlich so, dass es einige Gruppen gibt, die sehr lange zusammenarbeiten, die viele, wichtige Erfahrungen gemacht haben, aber nur eine oder vielleicht anderthalb politische Generationen repräsentieren. Das ist eine Stärke und zugleich ist es eine Schwäche. Vielleicht habt ihr das Problem bei FelS nicht so oder anders. Aber eines ist wichtig: Auch Genoss_innen werden alt, sind überarbeitet, bekommen Kinder oder einen Burn-out, ziehen um, werden verzweifelt oder krank, einige sterben. Eine Stärke ist, dass wir lernen, mit diesen vielen und oft existenziellen Veränderungen umzugehen und uns nicht zu verlieren. Eine Schwäche ist mit Sicherheit, dass wir immer unzureichend damit umgehen. Aber es ist eine wichtige Herausforderung für eine Linke, die auf Dauer nicht aus ein paar wenigen Opas und einer Masse Jugendlichen bestehen will. Eine Erklärung für die kurze Verfallsdauer der Sozialen Bewegungen und das Gefühl, dass Erfahrungen immer wieder neu gemacht werden, sich aber irgendwie auch dauernd ähneln, ist: Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik sind fast immer, heimlich oder erklärtermaßen, Jugendbewegungen gewesen.

¿Diesen Befund teile ich absolut, obwohl ich von Heimlichkeit nicht viel entdecken kann … Aber hier lässt sich anschließen, denn ich wollte auf Bewegungszyklen zu sprechen kommen, also auf die These, dass es immer wiederkehrende Hoch- und Tiefphasen gibt, zwischen denen soziale Bewegungen oszillieren. Lässt sich das aus eurer Perspektive so behaupten? Wenn ja, sind es wiederkehrende ähnliche Gründe, die diese Auf- oder Abschwungphasen auslösen? Oder sind die Gründe oder Auslöser zufällig?

BH: Zufall ist ein wichtiges Prinzip des historischen Materialismus, um an dieser Stelle passender Weise Peter zu zitieren ... Ansonsten ist das die Henne-oder-Ei-Frage. Lösen Verwerfungen im Kapitalismus die Sozialen Bewegungen aus, oder umgekehrt? Keine Ahnung, beziehungsweise sowohl als auch.

¿Knapper und gleichzeitig nuancierter kann man die Antwort auf die Frage nach dem Zusammenspiel von Akteur_innen und Bedingungen, unter denen diese handeln, wohl nicht auf den Punkt bringen. Wobei ich mich immer wieder frage, ob die Sache mit dem Huhn und dem Ei in den jeweils konkreten Situationen nicht doch immer nach einer Antwort schreit, oder zumindest nach dem Versuch nach einer. Vielleicht aber doch noch mal zum ersten Teil meiner Frage, der Frage nach Bewegungszyklen.

PB: Eine positivistische Antwort, etwas ironisch: Die Forschung über soziale Bewegungen hat solche Zyklen entdeckt, also gibt es sie. Der Zyklus einer Student_innenbewegung endet zum Beispiel oft in den Semesterferien, und in der Adventszeit wird in Nordeuropa viel seltener gestreikt als in allen anderen Monaten. Eine Ausnahme ist hier natürlich Finnland, wo eigentlich immer gestreikt wird. Das wissen wir alles und bis ins Detail. Die Frage ist nur: Was wissen wir dann? Wir wissen zum Beispiel nichts über Kontingenz. Der November ist zum Beispiel – wie Heiner Müller ja auch mal bedauernd ausgedrückt hat – ein schlechter Monat für Revolutionen. Trotzdem haben einige bedeutende Revolutionen des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt in Deutschland, im November stattgefunden. Und trotzdem lag Heiner Müller mit seiner Feststellung nicht falsch. Nur: was ist das für eine Feststellung? Im Grunde genommen ist das eher eine Figur des Trauerns. Das ist nicht unwichtig, Trauerarbeit ist nötig, aber nur deshalb, weil sie eine Warnung vor der Wiederkehr der Katastrophe enthält. Die optimistische Fragestellung, die nach 1968 mit der Idee der Zyklen verbunden war, liegt zugleich aber auch in der Vorstellung, dass 1968 noch nicht das Ende der Revolten war und sich etwas von der Spur, die damals gelegt wurde, fortsetzen würde. Das ist zweifellos richtig, aber auch zweifellos falsch. 1968 hat einen Ausgangspunkt formuliert: Die meisten Sozialen Bewegungen haben sich danach von diesem Ausgangspunkt abgegrenzt. Das gilt für die neue Frauenbewegung ebenso wie für die der Hausbesetzungen, spätestens seit der Generation der 1980er Jahre. Mit der Vorstellung der Zyklen kann man diesen Prozess nicht erfassen: Es „fängt wieder an“, aber es ist zugleich „etwas Neues“.

¿Vielleicht lässt sich hier an meine nächste Frage anschließen, an die Frage nach so etwas wie Orientierung an Vergangenem, der Suche nach gewissen Leitlinien und dem Wunsch, nicht immer wieder bei Null anzufangen, sondern bestimmte Erfahrungen auch nach dem Gong in die nächste Runde rüberzuretten. Wenn ich an FelS denke, dann gibt es beispielsweise bestimmte Kampagnen, bestimmte Ereignisse oder hart erkämpfte Entscheidungen, die öfter mal „hervorgeholt“ werden, um den Status quo zu rechtfertigen oder zu erklären, warum „wir“ bestimmte Dinge so und so machen. Welche Rolle spielt eurer Erfahrung nach historisches Erinnern für die Stabilität von Gruppen bzw. Akteur_innen innerhalb sozialer Bewegungen oder auch ihre Fähigkeit als Kollektiv zu wachsen? Lassen sich „Ergebnisprotokolle“ von Diskussionsverläufen festhalten? Ist der Verweis auf gewisse historische „Wegmarken“ eher hilfreich oder kann er auch destruktiv sein?

BH: Grundsätzlich denke ich, dass historische Erfahrungen eine geringe Rolle spielen. Eine Gruppe, die sich auf eine gemeinsame Sichtweise auf historische Ereignisse verständigt hat, ist sicher stabiler, was aber am kollektiven Diskussionsprozess und nicht am historischen Ereignis, das ja in gewissem Sinne eh eine kollektive Konstruktion ist, liegt.
PB: Sich auf Erfahrungen zu berufen, ist zwar nicht falsch, aber wenn du sagst, dass damit der Status quo gerechtfertigt wird, deutest du ja zugleich an, dass es sich um einen (internen oder externen) Diskurs handelt und damit um die Produktion von Macht. Erinnern ist nichts Harmloses: Es dient der Verständigung und Vergewisserung, aber auch der Normierung. Die Frage ist, wie man die Auseinandersetzung, den Konflikt um die Erinnerung sichtbar machen kann, die verschiedenen Konsequenzen, die daraus abgeleitet werden können. Diese Frage hat in der bundesdeutschen Linken durchaus eine wichtige Rolle gespielt und es ist aus meiner Sicht gut, weiter darüber nachzudenken. Dabei ist Erinnern ja in Wirklichkeit ein sehr komplexer Prozess. Es hat zum Beispiel eine wichtige biografische Dimension. Feiertage sind Erinnerungstage, an denen – sowohl von unserer als auch von der anderen Seite – diese biografische Dimension organisiert wird. Ich finde von diesem Ausgangspunkt aus die Vorstellung von Walter Benjamin wichtig, der in den Geschichtsthesen darauf hingewiesen hat, wie das Gedächtnis im herrschenden Diskurs enteignet wird, wie aber zugleich oppositionelles und kritisches Erinnern und Gedächtnis „im Augenblick der Gefahr“ aus der Latenz ins Licht geholt wird. Auch in dieser Vorstellung steht die Idee im Vordergrund, dass Erinnerungskultur untrennbar mit sozialen Konflikten verbunden ist. In der feministischen Erinnerungsarbeit der frühen 1970er Jahre oder in der frühen Oral-History-Bewegung waren solche Erfahrungen ja auch sehr präsent. Und Erinnerungen an Streiks werden oft durch Streiks produziert. Natürlich ist es wichtig, so etwas zu thematisieren, nicht als Historiker_in, sondern eher in einer Art des History Workshop, also in Kooperation mit dem, was du etwas vage „Akteur_innen“ genannt hast. Aber man darf sich so einen Workshop nicht einfach vorstellen: Es ist oft ein schmerzhafter und eingreifender Prozess, weil er sich nicht alleine nur auf die äußere, politische Geschichte bezieht, sondern auch eine Bedeutung dafür hat, wie wir unsere alltägliche Kooperation und unser persönliches und kollektives politisches Eingreifen organisieren.

¿Am Punkt der potentiellen „Schmerzhaftigkeit des Erinnerns“ würde ich gerne einhaken: So betrachtet wäre historisches Erinnern weder ein Instrument, also so etwas wie der Kitt, der Bewegungen oder Gruppen zusammenhält und als solches gepflegt werden muss, noch ein naturwüchsiger oder fast beiläufiger Prozess, sondern irgendetwas Drittes …

BH: Historisches Erinnern im Sinne einer Aufarbeitung vergangener Erfahrungen gibt es in der radikalen Linken ja kaum. Dass geschichtspolitische Deutungen instrumentell eingesetzt werden, gibt es ja eher in traditionell linken Milieus. Dort, zum Beispiel in der Partei „Die Linke“, sind geschichtspolitische Diskurse viel mehr Gegenstand von Tagespolitik und Konflikten.
PB: Historisches Erinnern ist kein Instrument, sonst ist es nicht viel mehr als Traditionspflege. Es gibt natürlich viele Projekte, gerade in der bundesdeutschen Linken, die sich der Tradition verpflichten. Ich glaube aber, das führt kaum weiter: Es ist vor allem die Herstellung von problematischen Identifikationen und – im Sinne dessen, was ich oben in Bezug auf Heiner Müller gesagt habe – von Melancholie. Diesen melancholischen und zugleich sicherlich auch faszinierenden Aspekt hat es auch, wenn Linke sich hinter den Masken der Vergangenheit bewegen oder in der Sprache Lenins und Rosa Luxemburgs sprechen. Man muss sich klar machen, dass man sich damit auf vergangene Formen beruft und dass die Identifikationen mit dieser Vergangenheit ambivalent sind: es ist auch die Identifikation mit unseren Niederlagen.

¿Es gibt ja die These, dass in der Bundesrepublik ein massives Problem mit fehlenden „Vorbildern“ existiert, dass es wenige gibt, die die Schallgrenzen zwischen Schul/Unizeit und Berufseintritt oder Familiengründung als Aktivist_innen überstehen. Glaubt ihr, dass das wirklich eine Rolle spielt und wenn ja, warum ist das ein Problem?

BH: Es spielt eine Rolle. Gleichzeitig gibt es heute durchaus viele
radikale Linke, die über 40 sind. Sogar welche die Kinder haben. Das ist auch eine Frage der materiellen Reproduktion. Diese basierte bis Hartz IV ja auf individuellen Nischen, die es jetzt so nicht mehr gibt. Insofern hat in den letzten Jahren die erzwungene Unterwürfigkeit der radikalen Linken zugenommen.
PB: Und ich möchte hinzufügen: auch die roten Großväter, so sehr ich sie persönlich schätze, haben sich in den Widersprüchen ihrer Gesellschaft bewegt. Entsprechend sind viele Biografien, auch unsere eigenen, in Wirklichkeit ziemlich bunt, nicht nur deutsch, fast nie nur revolutionär. Und wir produzieren unsere eigenen blinden Flecken, die die Generationen nach uns aufarbeiten werden müssen.

¿Da stimme ich vollends zu, aber ich wollte auch auf den Stellenwert von Vorbildern für bestimmte Formen des Transfers von „Bewegungswissen“ oder „gelebter Subversion“, auf den Zusammenhang von alten und neuen Widerstandsformen hinaus. Wie wichtig sind tradierte Formen und alltägliche Praxen des politischen Engagements für die Reichweite und „Durchschlagkraft“ sowohl von Revolten als auch tagtäglichem politischen Engagement?

PB: „Bilder“ sind etwas, was in der eigenen Wahrnehmung zusammengesetzt wird, auch Bilder aus der Vergangenheit, also „Vor“-Bilder. Klar brauchen wir solche Bilder, und es ist auch falsch, davon auszugehen, dass sie in der Bundesrepublik oder sonst irgendwo nicht sowieso existieren. Mir geht es mehr darum, den Prozess ihres Entstehens zu reflektieren und eine Verständigung über diese Bilder zu suchen. Eine erste Frage wäre dabei, inwiefern es sich um verdichtete Erfahrungen handelt. Was bedeutet das Bild, das du, ich oder wir uns zum Beispiel von dem historischen Handeln und den Texten (und vielleicht auch von den Liebesbriefen) von Rosa Luxemburg machen, für das, was du „gelebte Subversion“ nennst? Welche Praxen verbinden sich mit diesem Bild? Was können wir in diesem Bild verstehen, was wird uns ein Rätsel bleiben? Das sind meines Erachtens sehr wichtige Fragen, die man nicht delegieren sollte, vor allem nicht an die HistorikerInnen, gegenüber deren Definitionsmacht ja im Grunde höchstes Misstrauen angebracht ist.

¿„Misstrauen gegenüber HistorikerInnen“ ist vielleicht ein gutes Stichwort für meine vorerst letzte Frage, in der es um das Archivieren und Konservieren von historischen Zeugnissen gehen soll. Sind linke Gruppen und Akteur_innen darin eigentlich eher gut, oder eher ganz hoffnungslos „rückständig“, wenn ich dieses etwas ungeschickte Wort hier nehmen darf?

PB: Es gibt sehr wichtige Archive der Linken: die „Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“ ist ein Beispiel, Bewegungsarchive sind ein anderes. Es ist eine sehr wichtige, aber im Moment sicherlich nicht einfache Aufgabe, solche Archive zu erhalten.
BH: Das längerfristige Archivieren ist oftmals ein Steckenpferd einiger älterer oder altgewordener linksradikaler Nerds. Der Mehrheit der aktuell agierenden Bewegung ist ihre eigene Geschichte nicht so wichtig, und die Aufbewahrung von Dokumenten herzlich egal. Zumal auch die staatlichen Archive langsam die Bedeutung dieser Dokumente für die Geschichtsschreibung der 1970er und 1980er Jahre erkennen. Wichtige und vor allem: gut geführte Archive zu den Neuen Sozialen Bewegungen sind eh halbstaatlich, etwa das der Böllstiftung oder das des Hamburger Institut für Sozialforschung.

¿Aber findest du, dass Archivierung als Steckenpferd einiger „Nerds“ auch ausreicht, bzw. dass linke Gruppen das besser staatlichen Archiven oder Stiftungen überlassen sollten? Oder gibt es schlagende Argumente, hier viel mehr Energie und Ressourcen hineinzustecken?

BH: Bei der Frage der Zugänglichkeit der Hinterlassenschaften bin ich pragmatisch. Bevor Material verloren geht, soll es ruhig von einem staatlichen Archiv übernommen werden, wenn jenes es zugänglich hält. Zumal staatliche Archive auch noch in 50 Jahren existieren werden, das können wir bei Bewegungsarchiven nicht annehmen. Ich klage mittlerweile die linke Bewegung weniger als früher dafür an, dass sie geschichtslos ist. Auch wenn ich weiterhin der Meinung bin, aus der Geschichte könne gelernt werden, nämlich indem Fragen aus heutiger Sicht an die Vergangenheit gestellt werden – das wäre dann was anderes als Traditionen, die mich nicht so interessieren. Vielleicht wäre das sogar das Gegenteil von Tradition.

¿Das ist ein sehr gutes Schlusswort, finde ich! Herzlichen Dank für das Gespräch!

  • 1. Gruppe Blauer Montag (Hrsg.): Risse im Putz. Autonomie, Prekarisierung und autoritärer Sozialstaat, Hamburg, 2008.

Peter Birke, Jahrgang 1965, ist Historiker und arbeitet unter anderem an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Gruppe Blauer Montag und in Hamburg stadtpolitisch aktiv. Gemeinsam mit Max Henninger ist er koordinierender Redakteur von Sozial.Geschichte Online.

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, hat zusammen mit Peter Birke, Gottfried Oy und Christiane Leidinger einige Bücher zur Geschichte und Geschichtsschreibung sozialer Bewegungen herausgegeben, zuletzt Handbuch Alternativmedien (AG SPAK, Neu-Ulm 2011). Seit 2006 ist er Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen und dort auch für die Geschichtsarbeit zuständig.

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Erschienen in arranca! #44

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