"Ob von außen erstrittene Mindeststandards Perspektiven für weitergehende Forderungen eröffnen, halte ich für fragwürdig."

Solidarität und Gegenmacht im Produktionsprozess aus der Sicht indonesischer Gewerkschaften

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Anwar ‘Sastro’ Ma’ruf ist nationaler Vorsitzender der Working People’s Association und der Indonesian People’s Movement Confederation, zweier Organisationen der linken Bewegung Indonesiens, die sich gegen Ende des autoritären und antikommunistischen Suharto-Regimes (1966-1998) formierten und sich eine undogmatische Organisierung der Linken sowie die Zusammenarbeit unterschiedlicher sozialer Bewegungen zur Aufgabe machen. Sastros Engagement begann in den 1990er Jahren als Arbeiter in der Elektroindustrie, als er noch unter Bedingungen der Illegalisierung in autonomen Arbeiter_innenorganisationen aktiv war. Diese waren die Vorläufer der später entstandenen unabhängigen Gewerkschaften und arbeiten heute an einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Industriearbeiter_ innen, staatlichen Angestellten und anderen sozialen Bewegungen.

Momentan werden globale Produktionsketten öffentlichkeitswirksam vor allem von NGOs thematisiert. Die lokale Organisierung der Produzierenden bleibt wenig sichtbar. In Bezug auf die Stärkung indonesischer Arbeitnehmer_innen kritisiert unser Interviewpartner Sastro Kampagnen ethischen Konsums von NGOs im Globalen Norden, die aus seiner Sicht unabhängige Gewerkschaften und soziale Bewegungen in Indonesien schwächen können. Wir wollen von ihm wissen, was seine Kritik an dieser Form der »Solidarität« ist und was er für sinnvolle internationale Vernetzung hält.

¿Du kritisierst ja den Einsatz internationaler NGOs in Bezug auf sogenannte Codes of Conduct. Könntest du erklären, was diese Codes of Conduct sind?

Codes of Conduct sind Ethikkodizes, die insbesondere in Unternehmen der globalisierten Produktion eingesetzt werden, um Arbeitsverhältnisse in Billiglohnländern wie Indonesien zu verbessern. Die von den Managements, NGOs, internationalen Organisationen und Aktionär_innen festgelegten Kodizes haben eine Standardisierung von Löhnen, Arbeitsverhältnissen, Gesundheits- und Gewerkschaftsfragen zur Folge. Internationale Marken wie Nike, Adidas oder Reebok haben angefangen, solche Codes of Conduct in der Bekleidungsindustrie umzusetzen. Mittlerweile werden diese aber auch von indonesischen staatlichen Unternehmen im Energie- und Transportsektor, der Plantagenwirtschaft und der Telekommunikation eingesetzt. »Unternehmensverantwortung« soll dabei den Unternehmen ein besseres Image verschaffen. Nicht zuletzt werden Codes of Conduct aufgrund des Drucks von Konsument_innen im Globalen Norden eingeführt, die sich für gerechtere Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten und fairen Handel einsetzen. Vertreten werden die Konsument_innen von NGOs, die im Namen der internationalen Solidarität Druck auf Unternehmen und Staaten ausüben und beispielsweise die Nichteinhaltung von Mindestlöhnen oder Gewerkschaftsverbote skandalisieren.

¿Und was ist deine Kritik daran?

Das alles hört sich zunächst ganz gut an. Werden sie jedoch etwas näher unter die Lupe genommen, wird deutlich, dass die Einführung von Codes of Conduct eine Falle für die Arbeiter_innenbewegung darstellt. Codes of Conduct entschärfen die Forderungen nach besseren Löhnen oder besserer sozialer Absicherung der Arbeiter_innen selbst. Anstatt dass die Arbeiter_innen selbst die Höhe und Inhalte der Forderungen ihrer Kämpfe bestimmen, werden die Codes of Conduct zu ihrem Referenzrahmen. Dabei sind die lokalen Mindestlöhne, auf die sich die Codes of Conduct beziehen, weit davon entfernt, als ausreichend bezeichnet werden zu können. Von würdevoll wollen wir gar nicht erst sprechen. Was in den Codes of Conduct festgehalten ist, muss schließlich in der Realität nicht unbedingt auch umgesetzt werden. Arbeitsschutz zum Beispiel wird häufig nicht gewährt‒ erst dann, wenn Kontrollen durchgeführt werden. Das geht von Schutzmasken und Sitzmöglichkeiten über sanitäre Anlagen bis hin zur Bereitstellung von Trinkwasser.

Es ist gefährlich, wenn Arbeiter_innen die Forderungen ihrer Kämpfe nicht selbst definieren. Es geht dabei nicht allein um Löhne, sondern um Arbeitsschutz, um Zulagen für Bildung und Transport, um Wohnverhältnisse usw. In ihren Kämpfen sollten Arbeiter_innen selbst errechnen, welche Löhne angemessen sind, um zumindest ihre materiellen, mentalen und sozialen Grundbedürfnisse und die ihrer Familien erfüllen zu können.

Die Kritik unabhängiger Gewerkschaften richtet sich in diesem Zusammenhang gegen internationale Kampagnen, die die Einführung von Codes of Conduct fordern. Unserer Erfahrung nach tragen diese zu einer Deradikalisierung der Bewegung bei. Sie führen nicht nur zu einer Mäßigung der Forderungen in sozialen Kämpfen, sondern auch dazu, dass sich Gewerkschaften vor allem auf Kampagnenarbeit konzentrieren und weniger darauf, sich zu organisieren und an Stärke zu gewinnen. Um ein Beispiel zu nennen: Bei einem Zulieferbetrieb von Nike wurden Konflikte um ein Gewerkschaftsverbot und Vertragsarbeit ausgefochten. Die verbotene Gewerkschaft wandte sich an Organisationen, die sich an internationalen Kampagnen beteiligen, und durch den Druck von außen auf das Unternehmen war es ein Leichtes, die Zulassung der Gewerkschaft durchzusetzen. Die Organisierungs-, Bildungsund Unterstützungsarbeit nach innen, die ein wichtiger Teil von Gewerkschaftskämpfen ist, wurde dabei vernachlässigt. Durch diese Kampagnen findet eine Verschiebung des Verständnisses internationaler Solidarität statt, hin zu einer durch NGOs vermittelten Solidarität.

Der Umstand, dass eine Transnationalisierung des Kapitals nicht mit einer Transnationalisierung von Kämpfen einher geht, wird durch solch eine vermittelte internationale Arbeit verstärkt: Lokale Gewerkschaften wenden sich an lokale NGOs, die die gewerkschaftliche Interessenvertretung übernehmen. Diese arbeiten mit internationalen NGOs zusammen, die die Markenunternehmen adressieren. Durch diese Verlängerung der »Solidaritätskette« werden die jeweiligen Kämpfe also nicht gestärkt, sondern Arbeiter_innen voneinander ferngehalten.

¿Warum ist das eigentlich so schwierig mit der Transnationalisierung der Kämpfe entlang von Wertschöpfungsketten?

Produktions- und Wertschöpfungsketten stellen selbst einen Versuch unter vielen anderen dar, die Arbeiter_innenbewegung unter Kontrolle zu halten. Weil Forderungen an den vielen unterschiedlichen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstätten des gleichen Produkts gestellt werden, scheint es keinen gemeinsamen Gegner (die Kapitaleigentümer_ innen am Ende der Produktions- und Wertschöpfungskette) zu geben, auf den sich die gemeinsamen Kämpfe beziehen können. Codes of Conducts sind Mittel einer »Teile-und-Herrsche«-Politik. An den Stätten, wo für den globalen Markt produziert wird, ist die Duldung gewerkschaftlicher Organisierung eine der zentralen in den Codes of Conduct der Abnehmerunternehmen festgeschriebenen Forderungen. So kann es sein, dass sämtliche Beschäftigte eines Unternehmens Gewerkschaftsmitglieder sind. Allerdings handelt es sich dabei häufig um »gelbe« Pseudogewerkschaften, die in der Regel enge Beziehungen zum Personalmanagement halten oder um Gewerkschaften, die vom Unternehmen selbst eingesetzt werden. Diese gelben Gewerkschaften sind Abspaltungen und Nachfolgeorganisationen der staatlichen Gewerkschaft während des Suharto-Regimes, die damals vor allem der Kontrolle der Arbeiter_innen diente, während unabhängige Gewerkschaften verboten waren.

Unabhängige Gewerkschaften sind auch heute noch Ziel repressiver union busting-Maßnahmen: Arbeiter_innen, die in unabhängigen Gewerkschaften organisiert sind, werden kriminalisiert, gefeuert und als Unruhestifter stigmatisiert.

Was internationale Verbindungen angeht, sind die gelben Gewerkschaften in Indonesien aufgrund ihrer Ressourcen besser vernetzt als die unabhängigen Gewerkschaften: Sie sind Teil des Internationalen Gewerkschaftsbundes und als Berater_innen in Foren von internationalen Organisationen wie der WTO, der Weltbank, der Asian Development Bank oder etwa als Vertreter_innen bei der ILO oder der UN vertreten. Aber statt gemeinsame Streiks und Kämpfe zu koordinieren, legitimieren die internationalen Gewerkschaftsstrukturen sogar die arbeiter_innenfeindliche Politik von Regierungen und internationalen Organisationen wie zum Beispiel Leiharbeit und Outsourcing.

Neben diesen subtilen und gewaltvollen Strategien zur Deradikalisierung der Arbeiter_innenbewegung erschwert die Fragmentierung der Arbeiter_innenbewegung die Transnationalisierung der Kämpfe. Schon im nationalen Kontext alleine ist es ja schwierig, die zersplitterten Gewerkschaften zusammenzubringen. Eine ganz andere Herausforderung ist es, wenn das über Kontinente hinweg geschehen soll, wo ganz unterschiedliche Lebens- und Arbeitsverhältnisse mit unterschiedlichen Löhnen und sozialen Absicherungen vorherrschen.

¿Könntest du das mit der vermittelten Solidarität noch einmal ausführen? Man könnte ja meinen, dass die Einführung von – auch von außen erstrittenen – Mindeststandards Perspektiven eröffnet und zu weitergehender Organisierung und weitergehenden Forderungen beiträgt …

NGOs nehmen eine Überwachungsfunktion in der Umsetzung von Codes of Conduct ein. Das heißt, sie mischen sich ein, wenn Arbeiter_innen gefeuert werden, wenn Löhne unter dem Mindeststandard gezahlt werden, wenn das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung nicht gewährleistet wird usw. Weil die Gewerkschaften auf der Fabrikebene nicht stark genug sind oder sich die Basis von der Gewerkschaftsführung nicht vertreten sieht, verlassen sich die Gewerkschaften – gelbe wie auch zum Teil unabhängige – auf den Druck von außenstehenden NGOs. Damit können zwar Erfolge erzielt werden, die Rolle der Gewerkschaften insgesamt wird jedoch geschwächt. NGOs gelten durch ihre schnellen Erfolge als diejenigen Akteur_innen, die die Interessen der Arbeiter_innen am besten vertreten können, nicht nur auf der Fabrikebene, sondern auch international. Die Gewerkschaften werden in internationale Kampagnen involviert und zu internationalen Foren eingeladen, werden aber dort lediglich als Opfer von Ausbeutung oder als Forschungsobjekte eingebunden und nicht als Subjekte ihrer Kämpfe adressiert.

Ob von außen erstrittene Mindeststandards Perspektiven für weitergehende Forderungen eröffnen, halte ich für fragwürdig, wenn die Arbeiter_innen die Interessenvertretung bereits an andere Akteur_innen wie die NGOs abgegeben haben. Problematisch ist, wenn jene Mindeststandards das Höchstmaß von Lohnpolitik und sozialer Absicherung darstellen. Genau das kann aber passieren, wenn die Arbeiter_innen »verlernt« haben, ihre Forderungen selbst zu stellen.

¿Gibt es eine Zusammenarbeit eurer Bewegung mit internationalen Gruppen oder NGOs? Wie sieht diese aus?

Mit internationalen NGOs, bisher insbesondere aus Südost- und Ostasien, arbeiten wir in der gemeinsamen Wissensproduktion, um globale und regionale Zusammenhänge wie etwa die Folgen der Arbeitsmarktflexibilisierung zu verstehen, Analysen zu schärfen und uns über emanzipative Praxen auszutauschen. Das sind NGOs, die sich als Unterstützungsstruktur der unabhängigen Gewerkschaftsbewegungen verstehen und gemeinsame programmatische Ziele verfolgen. In der Frage der Zusammenarbeit mit internationalen und lokalen NGOs haben wir aus Erfahrungen der Zeit nach dem Sturz des Suharto-Regimes gelernt. NGOs dominierten damals die gerade erstarkenden unabhängigen Grassrootsbewegungen. Sie leisteten vor allem Fallarbeit und bestimmten die inhaltliche Arbeit, als die Unterstützung der Arbeiter_ innen gerade auf der Agenda der Geldgeber_innen stand, also bevor die Schwerpunkte auf Themen wie HIV/AIDS und Mikrokredite gelegt wurden. Diese Art der Unterstützung durch NGOs führte zu einer Deradikalisierung der Bewegungen ähnlich wie bei den bereits beschriebenen Beispielen. Mittlerweile haben sich viele Organisationen unserer Bewegung aber von der Dominanz der NGOs emanzipiert und die Rollen von Grassrootsbewegung und NGOs wurden neu verteilt.

¿Was ist mit sozialen Bewegungen, die nicht klassische Gewerkschaften oder NGOs sind? Siehst du hier transnationale Anknüpfungspunkte für gemeinsame Kämpfe?

Wir arbeiten an einer regionalen Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen, der Landlosenbewegung, der Arbeiter_ innen- und Fischer_innenbewegung, feministischer Bewegungen und Umweltbewegungen in Südostasien. Diese multisektorale Zusammenarbeit befindet sich noch auf der Ebene eines Austausches darüber, welche Erfahrungen es mit multisektoralen Bündnissen und multisektoraler Organisierung in den jeweiligen nationalen Kontexten gibt. Ein Anknüpfungspunkt für gemeinsame Kämpfe sind dabei etwa einschneidende Informalisierungsprozesse in ganz Südostasien, die sowohl Beschäftigte auf dem formalen Arbeitsmarkt in Folge der Arbeitsmarktflexibilisierung, als auch die Bevölkerung auf dem Land aufgrund der massiven Expansion von Agrar- und Rohstoffindustrie zu spüren bekommen und die damit einhergehende Aushöhlung der politischen Macht dieser Gruppen.

¿Welche Art internationaler Unterstützung ist für eure Kämpfe sinnvoll?

Auf jeden Fall sollte Solidarität die Stärkung der Bewegung und nicht das Wohlwollen der Unternehmen zum Ziel haben. Das kann die gegenseitige Unterstützung von Organisationsstrukturen beinhalten, aber auch Erfahrungs- und Wissensaustausch oder die Unterstützung von selbstverwalteten ökonomischen Strukturen. Ein konkretes Beispiel einer horizontalen Solidarität zwischen Arbeiter_innen auf der internationalen Ebene ist eine Zusammenarbeit zwischen Arbeiter_innen besetzter Fabriken aus Indonesien, Thailand, den Philippinen und Argentinien. Wir wünschen uns eine gemeinsame internationale Arbeit, die konkreter ist als die Solidaritätsstatements appellativen Charakters, auch wenn sie erst einmal kleinteilig anfängt. Oft sind wir irritiert darüber, dass Solidarität häufig im karitativen Sinne als Solidarität von Organisationen im Globalen Norden mit Bewegungen im Globalen Süden verstanden wird. Warum sollten die Organisationen im Globalen Norden nicht auch mal unsere Unterstützung brauchen?

¿Dass Konsument_innen im Globalen Norden sich lieber als verantwortungsvolle Spender_ innen verstehen denn als Teil globaler Herrschaftsverhältnisse spiegelt sich ja in Kampagnen wider, die statt mit Bildern widerständiger Arbeiter_innen lieber mit Bildern von Armut arbeiten. Gibt es beim Konsumverhalten der Leute im Globalen Norden denn Anknüpfungspunkte für Solidarität? Oder siehst du diese ausschließlich auf Produzent_innenseite?

Die Solidarität von Konsument_innen ist wichtig als eine Form der Kontrolle des Produktionsprozesses, solange sie jene Solidarität zwischen den Produzent_innen, den Arbeiter_innen im Transport, im Vertrieb und Verkauf nicht ersetzt. Die Gegenmacht, die im Produktionsprozess verortet ist, darf nicht vergessen werden. Dass sich die Konsument_innen um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter_innen in den Zulieferbetrieben in globalen Produktions- und Wertschöpfungsketten kümmern, sie sich Gedanken darum machen, woher die Produkte kommen, die sie konsumieren, ob sich die Menschen die Produkte, die sie herstellen, überhaupt selbst leisten können usw., all das hat noch zu keinen großen Veränderungen geführt. Ein Anknüpfungspunkt für eine Solidarität der Konsument_innen wäre zum Beispiel, wenn diese direkt von selbstverwalteten Betrieben der besetzten Fabriken kaufen würden.

¿Welche Art der Unterstützung brauchen die Organisationen im Norden denn aus deiner Sicht?

Vielleicht können Bewegungen aus dem Globalen Norden von Organisierungserfahrungen aus dem Süden lernen. Die Bewegungen im Globalen Norden wurden lange genug vom Kapitalismus und seinem Wohlfahrtsstaat in den Schlaf gesungen. Vielleicht irre ich mich auch, aber große Teile der Gesellschaft scheinen eingeschlafen zu sein und tun sich heute schwer, sich zu organisieren.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit für die Fragen genommen hast, danke auch an die_den Übersetzer_in!

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Erschienen in arranca! #46

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