Sicherheit, Ordnung und die Polizei in der Stadt

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Wer im prestigeträchtigen öffentlichen Raum einer deutschen Großstadt abhängt und dabei unordentlich, arm, jung, un-deutsch oder sonst wie verdächtig aussieht, ist heute genauso wenig willkommen wie vor 30 Jahren – oder jemals zuvor. In der kapitalistischen Stadt wurde die Bevölkerung schon immer durch die unsichtbare Hand des Marktes und die dank ihrer Uniformen gut sichtbaren Hände der Staatsgewalt so sortiert, dass jede_r an seinem/ihren Platz ist. Gleichwohl hat sich dabei in den letzten zehn bis 15 Jahren etwas verändert. Verdrängung findet heute unter dem Label ‚Kriminalität’ statt, sie wird von Polizei und Stadtverwaltungen als Sicherheitspolitik betrieben. Das war nicht immer so. Noch während der Hochphase des Fordismus wurden unschön anzusehende Randgruppen primär als ‚soziales’ und nicht als ‚Sicherheitsproblem’ ver- und behandelt. Zuständig waren dann nicht Polizei und Staatsanwaltschaft, sondern die Akteur_innen sozialer Arbeit. Diese Aufteilung der Zuständigkeiten wiederum war das Resultat eines langen Modernisierungsprozesses der Polizei.

Rückblick I

Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein konkurrierten zwei Vorstellungen davon, wie die Polizei arbeiten sollte. Auf der einen Seite existierte noch immer die Idee der frühneuzeitlichen Policey, mit der die Herstellung einer allumfassenden ‚Ordnung’ durch den Staat gemeint war und die die herrschenden Verhältnisse bis ins Alltagsleben hinein durchsetzen sollte. ‚Landstreicher’ waren für diese Polizei per se Störungen der Ordnung, um die es sich anhand von Partikularnormen zu kümmern galt. Auf der anderen Seite kam mit Industrialisierung und Urbanisierung eine weit engere Vorstellung von der Polizei als Garantin von ‚Sicherheit’ auf. Diese Vorstellung von der Polizei war ‚modern’ in vielerlei Hinsicht. Sie sollte spezialisierte Aufgaben mit technischen und wissenschaftlichen Hilfsmitteln bearbeiten und anhand bürokratischer Prinzipien organisiert sein. Sie sollte ausschließlich dem abstrakten, von sozialen Unterschieden formal absehenden Gesetz verpflichtet sein und sie sollte die Aufrechterhaltung der Ordnung zivilgesellschaftlichen Akteur_innen und städtischer Verwaltung überlassen. Für ‚Landstreicher’ war sie nur zuständig, wenn diese im Verdacht standen, straffällig geworden zu sein. Sonst waren sie Gegenstand der Armenpflege oder der Barmherzigkeit guter Christenmenschen. In der Praxis der Schutzpolizei dieser Zeit scheint die alte, erstgenannte Vorstellung noch lange Zeit handlungsleitend gewesen zu sein. In Polizeihandbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erscheint der ‚Verbrecher’ als „eine abstrakte Entität, die in unscharfer Weise mehrere Gruppen der Bevölkerung gleichzeitig bezeichnet: ‚Asoziale’ Störer der öffentlichen Ordnung ebenso wie Personen, die Gewalt- oder Eigentumsdelikte begangen haben.“ Diesem Verbrecher sieht man seine „moralische Minderwertigkeit“ an, es gilt das „physiognomische Prinzip“, also das „Prinzip der Erkennbarkeit des Charakters durch die Interpretation des Körpers“, so Peter Becker.

Rückblick II

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der BRD die zweite, ‚moderne’ Vorstellung von Polizei zunehmend dominant. Für die städtische Ordnung war diese nunmehr nur noch dann zuständig, wenn konkrete und rechtlich kodifizierte Abweichungen vorlagen. Die bloße Anwesenheit von Leuten, die nach hegemonialen Maßstäben moralisch minderwertig sind oder einfach nur unschön aussehen, fiel nicht mehr hierunter. So wird 1974 das Delikt der ‚Landstreicherei’ aus dem Strafgesetzbuch herausgenommen. Mit diesen Veränderungen in der Architektur lokaler Kontrolle waren auch im Fordismus nicht alle einverstanden, wie das folgende Zitat aus Pennbrüder und Stadtstreicher von Ernst Klee verdeutlicht:

„Ende 1977 startete der Deutsche Städtetag eine Aktion sauberes Stadtbild. Auf 42 Seiten wird geschildert, wie gegen die Stadtstreicher vorzugehen sei. […] Zunächst wird geschildert, dass ‚die neue Erscheinungsform des Landstreichers, der Stadtstreicher, offenbar soziologisch noch nicht recht erfasst (ist).’ Eine Beschreibung liefern die Saubermänner selbst: ‚Der Stadtstreicher ist in aller Regel nicht ein Krimineller. Er lebt am Rande der Kriminalität. Im Übrigen tritt er – gemessen an bürgerlichen Ordnungsbegriffen – teils unbekümmert, teils provozierend, teils aggressiv auf. Er ist unsauber, uriniert, fäkiert oft in der Öffentlichkeit, betrinkt sich dort, übernachtet in Hauseingängen, Geschäftseingängen, in öffentlichen Parks, rempelt Passanten an, redet sie an, bittet um Geld. […] Alkoholsüchtige finden sich in der Regel, Rauschgiftsüchtige oft unter den Stadtstreichern.’“

Derartige Forderungen, aus denen die ‚alte’ Vorstellung von der Polizei als allumfassende staatliche Ordnungsherstellerin spricht, waren zu jener Zeit aber nicht mehrheitsfähig. Im Fordismus galt hierzulande, dass nicht mehr alle irgendwie Abweichenden ausgeschlossen, sondern möglichst viele von ihnen ins ‚Modell Deutschland’ einbezogen werden sollten. Auch das Modell Deutschland hatte natürlich seine auszuschließenden inneren Feinde. Neben strafrechtlich verurteilten, also ‚Kriminellen’, waren dies vor allem (links-) radikale Abweichler_innen in Gewerkschaften, Schulen und Hochschulen, soziale Bewegungen und ‚Terroristen’ inklusive ihrer ‚Sympathisant_innen’. Für die einfach nur ‚Unordentlichen’ aber galt, dass sie nunmehr primär als vernutzbare Arbeitskräfte betrachtet wurden, von denen es zeitweise zu wenige zu geben schien. Damit ihr Preis nicht zu einem ernsthaften Problem für die Nationalökonomie wurde, etablierten sich verschiedenen Strategien. Von außen wurden bereits ab den 1950er Jahren ‚Gastarbeiter’ angeworben und auch im Inneren galt es, neue Potenziale auszuschöpfen. Aus ideologischen Gründen wurde an der Hausfrauisierung der Hälfte der ‚erwerbsfähigen Bevölkerung’ nur zögerlich gerüttelt, stattdessen wurden Abweichler_innen von der öffentlichen Ordnung tendenziell nicht mehr kriminalisiert, sondern akzeptiert oder, wenn es um die Qualität der Arbeitskraft zu schlecht bestellt war, zum Gegenstand sozialer Arbeit gemacht. Letztere Gruppe wurde damit natürlich nicht aus der staatlichen Kontrolle entlassen, diese wurde wegen des neuen Zwecks – Integration in den Arbeitsmarkt – nur anders durchgeführt.

Für die Polizei hieß das, dass sie ganz nach der zweiten oben genannten Logik funktionieren sollte, sich also nicht um die Herstellung der Ordnung, sondern nur noch um die Sicherheit kümmern sollte. Ein Mittel dieser Umstellung waren Recht und Gesetz. Im Strafrecht wird bundesweit festgelegt, welche Abweichungen wirklich polizeilich zu verfolgen sind. In der großen Strafrechtsreform der 1950er und 1960er Jahre wurden moralische Verfehlungen ganz oder teilweise aus dem StGB entfernt. Seit den 1970ern wird den Polizeien zudem in den Landespolizeigesetzen exakt vorgeschrieben, was sie tun dürfen. Seitdem finden sich dort ‚Standardmaßnahmen’ wie Befragung, Beobachtung, Platzverweis etc., deren Einsatz an Voraussetzungen gebunden ist. Es bedurfte nunmehr einer Begründung für Maßnahmen, die nicht als Standardmaßnahme aufgeführt sind.
Und diese Begründung muss immer darauf hinauslaufen, dass eine Straftat droht.

Die Polizei sollte sich im Fordismus auf Abweichungen vom Strafrecht konzentrieren, also auf die Bekämpfung von Kriminalität, und nicht auf ‚Stadtstreicher’. Dass sie dies trotzdem auch tat, etwa indem sie ‚Penner’ an den Stadtrand ‚verbrachte’, soll nicht bezweifelt werden, aber in den 1970er Jahren und bis weit in die 1980er hinein galt zumindest tendenziell, dass Unordnung und Kriminalität getrennt betrachtet und unterschiedlich behandelt wurden.

Die aktuelle Entwicklung

Seit rund zehn bis 15 Jahren ist in der BRD eine erneute Neukonfigurierung von Sicherheit und Ordnung zu verzeichnen, die sich vor allem in den Städten zeigt. Am deutlichsten wird dies bei Programmen und Aktivitäten aus dem Bereich der kommunalen Kriminalprävention. Um Kriminalität im städtischen Raum zu verhindern, bevor sie passiert, so die Vorstellung, müssen alle relevanten Akteure an einem Strang ziehen und „den Anfängen wehren“. Was oberflächlich überzeugend klingt – wer hätte schon etwas dagegen, wenn Vergewaltigungen nicht mehr stattfinden würden? – beinhaltet eine Ausweitung der staatlichen Zuständigkeit auf Bereiche, aus denen sich die Polizei gerade erst zurückgezogen hatte. Auf einmal gilt es wieder, die öffentliche Ordnung herzustellen. Das fordern Politiker_innen, sekundiert von Präventionsexpert_innen und Rechtswissenschaftler_innen, seit den 1990ern, ändern Gesetze (zurück) und erlassen auf lokaler Ebene Verordnungen, in denen „aggressives Betteln“, „Lagern in der Öffentlichkeit“ und Ähnliches verboten werden. Neu ist daran vor allem die Begründung: Kriminalität soll auf diese Weise verhindert werden, den Anfängen soll so gewehrt werden. Gewalttaten, so die bescheuerteste und zugleich wahrscheinlich erfolgreichste ‚Theorie’ dazu, die Broken-Windows- These, gedeihe dort, wo es unordentlich aussieht. Die namensgebenden zerbrochenen Fensterscheiben müssen repariert werden (keine schlechte Idee eigentlich, sonst zieht‘s) und, und das ist der Clou, unordentliche Leute dürfen nicht im öffentlichen Raum zu sehen sein. Denn das würde mangelnde soziale Kontrolle signalisieren und Schwerverbrecher anziehen. Die Begründung für die Vertreibung kommt dabei ganz ohne Moralin aus, jede_r darf arm, krank oder undeutsch sein, aber eben nicht auf der Straße – weil das zu Gewaltkriminalität führt!

Aus der Theorie internationaler Beziehungen kommt dazu ein passender Begriff, der der Versicherheitlichung oder Securitization. Damit ist auf die ideologische Leistung verwiesen, die es bedeutet, wenn Phänomene als Sicherheitsphänomene, wenn Probleme als Sicherheitsprobleme ver- und behandelt werden. Die Lösung dieser Probleme erscheint dann als rein technische, die Sicherheit – also das Gute – wiederherstellende, scheinbar unpolitische Aufgabe. So funktionieren auch Diskurs und Praxis der Politiker_innen: Immer neue Bereiche werden als kriminogen, also als Kriminalität befördernd ausgemacht und immer neue Kontrollbefugnisse und -praktiken werden direkt mitgeliefert. Die Sicherheitsverwahrung nach Ende einer Haftstrafe, die Vorratsdatenspeicherung oder Bettelverbote werden mit eben dieser Masche durchgesetzt. Umkämpft ist dabei in den Städten noch die Arbeitsteilung. Für die ‚normale’ Landespolizei gibt es neuerdings Konkurrenz: Bundespolizei (ehemals BGS), in einzelnen Bundesländern ‚Polizeihelfer‘ und ‚Hilfspolizeien‘, vermehrt uniformiertes Vollzugspersonal der Ordnungsämter und schließlich private Sicherheitsdienste tummeln sich ebenfalls auf dem Markt der Sicherheitsanbieter_ innen. Prognosen gehen davon aus, dass die ‚eigentlichen’ Polizeien, die gut ausgebildeten und damit teuren Landes- und Bundespolizeien sich auf das Kerngeschäft der Gewaltausübung konzentrieren werden und an ihre Stelle zunehmend die genannten (und weit billigeren) Alternativen treten. Diese sind heute schon mit weiter gehenden polizeilichen Kompetenzen ausgestattet als etwa die fordistischen Ordnungsämter und sie sind angehalten, in Kooperation mit der ‚echten’ Polizei zu agieren. Auf diese indirekte Weise, durch Auslagerung, Einbeziehung in ‚Partnerschaften‘ und auch durch die rechtlichen Vorgaben, an die sich die neuen Sicherheitsanbieter_innen zu halten haben, weitet der Gewaltmonopolist seinen Zugriff auf unser aller Alltagsleben aus. Störende Gestalten werden heute also mit neuer Begründung, auf der Basis neuer Gesetze und Verordnungen und von teilweise neuem Personal aus den Innenstädten vertrieben. Gar nicht so neu hingegen sind die Gründe, warum es sichtbares Elend in den Städten gibt. Kapitalismus und Rassismus waren die Triebfedern auch der oben genannten Auffassungen von Polizei. Gar nicht neu ist die Segregation der Städte in arme und reiche, in gute und schlechte Viertel, in denen dann unterschiedliche ‚Ordnungen’ gelten; gar nicht neu ist auch die Zuständigkeit der Staatsapparate für Sicherheit und Ordnung, die sich unter anderem in Vertreibungen äußert. Und ebenfalls gar nicht neu ist das Bemühen, dies auf eine Weise zu begründen, die auf jeden Fall nichts mit Ausbeutung und Rassismus zu tun hat.
Die Kritik an der aktuellen Vertreibungspolitik in den Städten muss auf zwei Ebenen stattfinden. Zum einen bedeutet es eine tatsächliche Verschlechterung der Situation, wenn sich mies ausgebildete Vollzugskräfte auf der Basis von moralischen und Alltags-Vorstellungen von ‚Ordnung’ in die Lebensäußerungen aller möglicher Randgruppen einmischen, Leute schlecht behandeln und in ‚Reststadtteile‘ abschieben. Dies gilt es zu kritisieren, auch und gerade bezüglich der Gesetze und Regelungen, die dies ermöglichen. Zum anderen kann es aber nicht darum gehen, die kurz skizzierten Vorläufer dieses Modells zu glorifizieren, die zu anderen Zeiten auf andere Weise den Laden am Laufen halten und die Verlierer_innen von Ausbeutung und Herrschaft maßregeln sollten. Die Gründe für Armut und Rassismus haben sich nicht grundsätzlich geändert. Sie gilt es jenseits der aktuellen Entwicklungen des Umgangs mit ihnen zu kritisieren.

Zum Weiterlesen:

Peter Becker: Vom „Haltlosen“ zur „Bestie“. Das polizeiliche Bild des „Verbrechers“ im 19. Jahrhundert. In: Alf Lüdtke (Hg.): „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert.

Ernst Klee: Pennbrüder und Stadtstreicher.

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Erschienen in arranca! #39

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