Little Earthquakes:
Zur Dokumentargeschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) in Nordamerika
Im Februar 2009 erschien als Gemeinschaftsproduktion der Verlage PM Press (Oakland, USA) und Kersplebedeb (Montreal, Kanada) der erste Band einer zweibändigen «Documentary History» der RAF mit dem Titel Projectiles for the People. Die Bände beinhalten Übersetzungen von Original-RAF-Texten sowie ausführliche Einleitungen zum historischen und politischen Kontext. Das Projekt stellt den bisher bei weitem ambitioniertesten Versuch dar, die Geschichte der RAF auf Englisch zu dokumentieren. Gabriel Kuhn sprach mit den beiden kanadischen Herausgebern, André Moncourt und J. Smith, über ihre Beweggründe, über die historische Bedeutung des bewaffneten Kampfes in der Metropole und über die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Stadtguerillagruppen Nordamerikas und Deutschlands. Moncourt und Smith sind seit knapp dreißig Jahren in der radikalen Linken aktiv, vor allem in der Unterstützung anti-kolonialen Widerstands und in Gefangenenhilfsgruppen.
¿ 2007 wurden zahlreiche Events veranstaltet, um des Deutschen Herbstes zu gedenken. Ist es reiner Zufall, dass euer Buch kurz darauf erscheint?
André: Wir begannen schon 2004, das Projekt zu planen. Ich hätte nie gedacht, dass es so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Den einzigen Einfluss, den die Ereignisse von 2007 auf das Projekt genommen haben, war, dass wir die zahlreich erschienenen Artikel und – vor allem – Interviews mit früheren RAF-Mitgliedern heranziehen konnten.
¿ Ihr habt eine Menge Arbeit in dieses Projekt gesteckt. Was hat euch dazu motiviert?
André: Es gab da mehrere Faktoren. Wichtig für mich persönlich war, dass ich in den 1980er Jahren für längere Zeit in Deutschland gelebt und in antiimperialistischen und autonomen Kreisen zahlreiche persönliche Kontakte aufgebaut habe. Außerdem hat sich die nordamerikanische Linke immer sehr für linksradikale Politik in Deutschland interessiert.
¿ Kannst du die Gründe dafür nennen?
André: Der Hintergrund der weißen radikalen Linken in Nordamerika war dem der deutschen AktivistInnen sehr ähnlich. Radikale weiße Linke in Nordamerika kamen ebenfalls zum größten Teil aus der Jugend- und StudentInnenrevolte. Deshalb fühlten sie sich den Aktionen und der Rhetorik der westdeutschen Stadtguerilla näher als etwa dem proletarischen Kampf der Roten Brigaden. Auch nationale Befreiungsbewegungen wie jene der IRA oder ETA stießen außerhalb Québecs – wo es in den 1960er Jahren einen militanten Flügel der Unabhängigkeitsbewegung gab, die Front de liberation du Québec – nur auf wenig Interesse.
Es war im Übrigen nicht die RAF, die in radikalen Kreisen am meisten Aufmerksamkeit erregte. Es gab mehr Sympathien für die Revolutionären Zellen und die Rote Zora: die dezentrale Struktur, die Form der Anschläge und die Verankerung in breiten sozialen Bewegungen waren für viele nordamerikanische AktivistInnen besonders attraktiv.
¿ Lassen sich zwischen dem bewaffneten Kampf in Nordamerika und in Deutschland konkrete Parallelen ausmachen?
André: Wenn wir von den weiß dominierten Gruppen in Nordamerika sprechen, sicherlich. In beiden Fällen waren tödliche Attacken des Staates ein wesentlicher Radikalisierungsfaktor: in Deutschland die Ermordung Benno Ohnesorgs, in Nordamerika die der Protestierenden an den Universitäten Kent State und Jackson State im Jahre 1970. In beiden Fällen war der Krieg in Vietnam ein zentraler Bezugspunkt. Und in beiden Fällen waren die antiimperialistischen Fokussierungen der 1980er Jahre ähnliche: der Nahe Osten, Zentral- und Südamerika, Südafrika.
J. Smith: Wichtig anzumerken ist freilich, dass die revolutionäre Bewegung in Nordamerika immer sehr geprägt war vom Kampf unterschiedlicher Nationen1 im eigenen Land: indigene Gesellschaften, AfroamerikanerInnen und andere bilden in den USA und Kanada Kolonien bzw. unterdrückte Nationen im Inneren. Solche gab es in Westdeutschland nicht. Auch wenn sich die RAF an antiimperialistischen Kämpfen orientierte, war ihr konkreter Kontakt zu Kämpfen in der Dritten Welt auf die Erfahrungen reduziert, die sie in den 1970er Jahren in palästinensischen Camps machte. In Nordamerika verlangen Angehörige unterdrückter Nationen eine konkrete Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen derjenigen, die unmittelbar unter dem imperialistischen System zu leiden haben.
Es gibt auch einen Unterschied, was den Hintergrund der weißen AktivistInnen betrifft. Wenn wir etwa die Aktivitäten des Weather Underground mit denen der RAF vergleichen, dann erscheinen – je nach politischer Einschätzung – die RAF-Mitglieder als fanatische Mörder oder die Angehörigen des Weather Underground als verweichlichte Hippies. Entscheidend dabei scheint, dass die RAF-Mitglieder aus einer postfaschistischen Gesellschaft kamen, in der Lehrer, Bullen, Richter und oft genug die eigenen Eltern in den Holocaust involviert waren. Das lässt im politischen Kampf andere Maßnahmen notwendig erscheinen. Es ist interessant, dass die RAF in ihrer Entschlossenheit und in ihren Mitteln mehr mit einer Gruppe wie der Black Liberation Army gemeinsam hat als mit dem Weather Underground, obwohl sie mit diesem ihre Verankerung in der Unterdrückergesellschaft teilt.
¿ Kannst du die Aktivitäten und Taktiken des Weather Underground kurz umreißen?
J.: Innerhalb der Students for a Democratic Society, dem nordamerikanischen SDS, übernahm 1969 eine Gruppe das Kommando, die sich Weatherman nannte nach der Textzeile von Bob Dylan: «You don’t need a weatherman to know which way the wind blows.» Als sich einige aus der Gruppe entschlossen, in den Untergrund zu gehen, wurde aus Weatherman die Weather Underground Organization.
Bald nach dieser Entscheidung kam es zu einem traumatischen Ereignis, als sich einige der Weather-AktivistInnen beim Bombenbasteln selbst in die Luft sprengten. Dies stellte für viele die ‹militaristische› Ausrichtung der Gruppe in Frage und die Überlebenden konzentrierten sich nunmehr ausschließlich auf Sachbeschädigung. Dieser Schritt wird von Linksliberalen seit jeher als weise gefeiert, beispielsweise auch von Jeremy Varon in seinem Buch Bringing the War Home. Der Schritt bedeutete jedoch auch, sich politischer Verantwortung zu entziehen. Weather war angetreten, um militante Gruppen zu unterstützen, die den unterdrückten Nationen entstammten, beispielsweise die Black Panther Party. Indigene und schwarze AktivistInnen wurden jedoch weiterhin abgeknallt, als diese selbsternannte Avantgarde der weißen Jugend meinte, sich auf rein symbolische Aktionen beschränken zu können.
Der Versuch junger weißer KommunistInnen, die Gesellschaft radikal zu verändern, war ohne Zweifel lobenswert. Aber die Mythologie der 1960er Jahre verleiht Weather zuviel Bedeutung. Von den Tausenden bewaffneter Aktionen, die damals durchgeführt wurden, ging nur eine kleine Zahl auf das Konto von Weather. Der Großteil der Weather-AktivistInnen tauchte irgendwann wieder auf, bat um Amnestie und machte legale Politik. Unterdessen sitzen immer noch Dutzende radikaler GenossInnen aus jener Zeit im Gefängnis.
¿ Warum habt ihr euch dazu entschieden, zur RAF zu arbeiten, obwohl andere westdeutsche Guerillagruppen offenbar stärkeres Interesse in der radikalen Linken Nordamerikas weckten?
André: Wir arbeiten auch an Bänden zur Bewegung 2. Juni und zu den Revolutionären Zellen bzw. zur Roten Zora. Wir haben uns aber entschlossen, in unserer Aufarbeitung chronologisch vorzugehen.
Was die RAF betrifft, so ist vieles an ihr einzigartig und sie kann tatsächlich als archetypische Guerillabewegung der Ersten Welt während des Kalten Krieges gelten. Aus ihrer Geschichte gibt es viel zu lernen; zumal es keine vergleichbare Gruppe gibt, die eine ähnlich umfangreiche Textsammlung hinterlassen hat.
¿ Was hältst du für das Wichtigste, das es aus der Geschichte der RAF zu lernen gibt?
André: Wie praktisch immer gibt es Positives und Negatives. Der RAF gelang es, in ihren ersten zwei Jahren eine Infrastruktur und eine Ideologie aufzubauen, die es ihr ermöglichten, weiter zu bestehen, auch nachdem ihre GründerInnen in Haft oder tot waren. Die RAF schaffte es, sich mindestens viermal in ihrer 30-jährigen Geschichte quasi von Null auf neu zu bilden. Die Gefangenen haben uns gezeigt, wie Gerichtsverfahren und Hungerstreiks als Überlebensmechanismen und Kommunikationsmittel verwendet werden können. Außerdem bewies die RAF, dass eine kleine Gruppe organisierter und entschlossener Individuen dem Staat und seinen RepräsentantInnen einige ausgesprochen starke Schläge versetzen kann.
Problematisch war sicherlich die Entscheidung, komplett in den Untergrund zu gehen. Dies isolierte die Gruppe von alltäglichen gesellschaftlichen Entwicklungen und auch von weiten Teilen der militanten Linken. Die Entscheidung der RAF, von den Verhaftungen 1972 bis zum Deutschen Herbst 1977 rhetorisch eine ziemlich klassisch antiimperialistische Linie zu verfolgen, während sie sich praktisch ganz auf die Befreiung der Gefangenen konzentrierte, ist verständlich – war aber aus heutiger Sicht falsch.
¿ Bisher war Tom Vagues Televisionaries: The Red Army Faction Story das einzige englische Buch, das sich ausschließlich mit der Geschichte der RAF beschäftigt hat. Was ist eure Einschätzung dieses Werks?
J.: Televisionaries ist sehr lesbar und manchmal lustig, basiert aber fast ausschließlich auf Stefan Aust, dessen Buch Der Baader- Meinhof-Komplex 1987 ins Englische übersetzt wurde. Allerdings muss ich gestehen, dass es schwierig ist, ganz um Austs Buch herumzukommen. Auch wir haben es als Quelle benutzt – aber nicht als die einzige und mit der gebotenen Vorsicht.
¿ Hofft ihr, dass eure Bände zu einer Diskussion um zeitgenössische Perspektiven des bewaffneten Kampfes in der Metropole anregen können?
André: Wenn es zu einer solchen Debatte kommt, verdient die Geschichte der RAF zweifelsohne Berücksichtigung. Was die Aussichten des bewaffneten Kampfes betrifft, so müssen dabei für mich zwei Bedingungen erfüllt sein: es muss eine Massenbewegung geben, innerhalb derer sich die bewaffneten Aktionen vollziehen; und es muss ein klares Ziel geben, das mit den Aktionen verbunden ist.
J.: Zu bewaffnetem Widerstand wird es kommen, ob wir das nun gutheißen oder nicht. Wie viel die Leute dabei über die RAF wissen, wird nicht ausschlaggebend sein. Aber ich denke, dass wir gewisse Fehler vermeiden können, wenn wir die Geschichte der RAF und ähnlicher Gruppen analysieren.
In Nordamerika gibt es die bedauerliche Tendenz, die Fehler, die in der Geschichte des bewaffneten Widerstands begangen wurden, nicht zu benennen. Aber für jede Niederlage den Staat und das Counter Intelligence Program des FBI (COINTELPRO) anzuklagen, tut weder den RevolutionärInnen von morgen etwas Gutes, noch wird es den GenossInnen gerecht, die im Kampf ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Einer der Vorteile, eine bewaffnete Gruppe zu studieren, die zwar in der Ersten Welt aber außerhalb Nordamerikas operierte, liegt darin, die Dynamiken dieses Kampfs weniger voreingenommen betrachten zu können: ohne den Stolz und die zwanghafte Rechtfertigung, die oft im Wege stehen, wenn es um die eigene Geschichte geht.
¿ Warum bist du so sicher, dass es zu bewaffnetem Widerstand kommen wird? Gilt das auch für die USA und Kanada?
J.: Der Kapitalismus produziert weiterhin enorme soziale Widersprüche. Diese werden sich ohne das Ende des Kapitalismus nicht auflösen lassen. Irgendwann – hoffentlich früher als später – werden revolutionäre Bewegungen entstehen. Manche Menschen werden sich dabei verborgenen, illegalen und auch gewalttätigen Taktiken zuwenden. Das hat nichts mit Teleologie zu tun, sondern mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Der Kapitalismus wird nicht verschwinden, wenn er nicht aktiv zerstört wird.
Dies gilt generell und ist nicht beschränkt auf einzelne Länder. Aber um auf die Situation in Nordamerika Antwort zu geben: In den USA und Kanada kommt es in der Linken seit Jahren nur zu sporadischen und vereinzelten symbolischen Angriffen auf Staatseinrichtungen und Konzerneigentum. Keine dieser Angriffe geschehen im Namen von Organisationen, sondern werden von Individuen oder Kleingruppen durchgeführt, die im besten Fall über einen vagen gemeinsamen Aufhänger verbunden sind – die Aktionen, die in den 1990er Jahren unter dem Banner der Earth Liberation Front durchgeführt wurden, sind dafür wohl das beste Beispiel. Aber ohne starke Strukturen reichen solche Aktionen nur bis zu einem gewissen Punkt.
Die Ausnahme bilden vor allem hier in Kanada indigene Nationen. Dort ist die Tradition bewaffneten Widerstands weiterhin am Leben und zeigt sich alle paar Jahre in Konfrontationen mit dem Staat. Aber es geht hier eher um Selbstverteidigung, den Schutz bestimmter Gebiete usw. Der Widerstand dient hauptsächlich dazu, die Gewalt des Staates einzudämmen. Stadtguerilla ist etwas anderes.
1 Der Begriff ‹Nation› kann nicht unmittelbar aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt werden. So werden in Nordamerika beispielsweise indianische Ethnien als ‹First Nations› bezeichnet. Eine derart essentialistische Verwendung des Begriffes erscheint uns dennoch problematisch. [Anm. d. Red.]
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Erschienen in arranca! #41
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