Sammeln, sortieren, ablegen
Unabhängige Archive und Bewegungsgeschichtsschreibung
Mehr als 200 Archive in der Bundesrepublik archivieren soziale Bewegungsgeschichte. Wir haben einige selbstorganisierte Archive zu ihrer Arbeit befragt. Alle von ihnen verstehen sich als politische Akteur_innen. Der Großteil ihrer Arbeit läuft selbstorganisiert und ohne Bezahlung.
Das Archiv der Sozialen Bewegungen (AdSB) Bremen gibt es seit 1999. Erklärtes Ziel ist es, die eigene Geschichte zu bewahren und dem eigenen Interesse für Geschichte und Theorie mehr Raum zu geben. Ausgangspunkt des Projektarchivs in Berlin war der Unimut-Streik an der FU 1988/89, weil die Erfahrung zeigte, dass studentische Initiativen immer wieder bei Null anfangen. Erkenntnisse aus der Vergangenheit sollten fortan besser verarbeitet werden. Das Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum e.V. (FFBIZ) in Berlin hat sich 1978 mit dem Ziel gegründet, Forschung, (Weiter-)Bildung und Information (Bibliothek/Archiv/Dokumentation) in einer Einrichtung zu verbinden. Das Papiertiger Archiv und Bibliothek der Sozialen Bewegungen gründete sich 1983 unter dem Motto „Von der Bewegung für die Bewegung“. Das Feministische Archiv Marburg (FemArchiv) wurde 1989 als Teil des Asta Marburg gegründet und versteht sich als Teil von Frauengegenstrukturen. Das Antifaschistische Pressearchiv- und Bildungszentrum Berlin e.V. (apabiz) wurde 1991 aus dem Teilbereich „Antifaschismus“ des Papiertiger-Archivs gegründet. Das Hans-Litten-Archiv (HLA) gibt es seit 2005. Die Vorgängereinrichtung, das Rote-Hilfe-Archiv, wurde zusammen mit der Bundesgeschäftsstelle der Roten Hilfe Ende der 1990er Jahre gegründet.
„Archive bieten theoretisch für heutige Initiativen Anknüpfungspunkte zu früheren Erfahrungen und Theorien und ermöglichen dadurch theoretische und praktische Kontinuität politischen Handelns, die auf Grund der spezifischen Bewegungsstrukturen sonst nicht hergestellt werden können.“ (Papiertiger)
¿Worin seht ihr euren Auftrag?
HLA: Das Sammeln und Archivieren von Dokumenten ist für uns kein Selbstzweck. Wir wollen die Erfahrungen der Vergangenheit aufbereiten, um sie für die Kämpfe der Gegenwart zu nutzen beziehungsweise denjenigen zur Verfügung zu stellen, die heute aktiv sind. Gerade junge GenossInnen lassen sich davon begeistern, dass die Wurzeln der Roten Hilfe in den großen Kämpfen der 1920er und 1930er Jahre liegen.
FFBIZ: Wegen unzureichender öffentlicher Finanzunterstützung bei wachsenden Beständen haben wir 1995 unsere Arbeit aufs Archivieren konzentriert. Dafür erhalten wir öffentliche Unterstützung durch das Land Berlin, allerdings unter dem ärgerlichen Label „Frauenprojekt“.
Papiertiger: Unser Auftrag ist immer noch derselbe - allerdings stellt sich manchmal die Sinnfrage bei der eher schwachen Nutzung des Angebotes durch die Szene. Ein großes Problem ist auch, dass wir als Dinosaurier nicht mehr im gleichen Umfang in der Szene aktiv und präsent sind und die heutigen Aktivist_innen andernorts verkehren.
FemArchiv: Wir verstehen uns als Dokumentations- und Wissen(schafts-)Raum, auch für feministische Aktivitäten im Raum Marburg, als politischer Erfahrungsraum für die Unterstützung von Aktionen und feministischer Gegenöffentlichkeit und als Raum für Menschen, die Diskriminierung durch patriarchale und heteronormative Strukturen erleben.
apabiz: Der Kreis unserer Nutzer_innen ist in den letzten Jahren gewachsen. Wir bekommen heute nicht mehr nur Anfragen von Einzelpersonen und antifaschistischen Initiativen, sondern zunehmend auch von Journalist_innen und Wissenschaftler_innen. Wichtiger geworden ist auch das Erstellen von Bildungsmaterialien.
¿Woher bekommt ihr eure Archivinhalte?
AdSB: Die Materialien kommen aus anonymen und personalisierten Privatspenden, von anderen Archiven, von Gruppen und Büros, die sich auflösen oder was abgeben. Außerdem über den laufenden Bezug von Periodika im Infoladen.
FemArchiv: Wir sammeln Plakate und Flyer zu feministischen Veranstaltungen in Marburg.
Die Quantität der Flyer hat im Vergleich zu früher zugenommen. Gleichzeitig läuft inzwischen viel über Verteiler oder Blogs, was wir nicht dokumentieren. Außerdem archivieren wir vor allem wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften.
Papiertiger: Früher haben Archivgruppen ihr thematisches Material selbst gesammelt. Mittlerweile kommt viel Material aus privaten Sammlungen, Wohnungsauflösungen oder auch aus Nachlässen.
¿Was hat sich verändert? Welche Themen spielten früher eine Rolle, was sind die Themen heute und wie sehen die typischen Nutzer_innen aus?
Papiertiger: Archiviert wurde schon immer alles aus Papier. Heute kommen immer weniger Aktivist_innen vorbei, dafür mehr Student_innen, Filmleute oder Autor_innen. In Zeiten des Internets ist mehr Material online zugänglich, außerdem gibt es generell ein geringeres Interesse an Geschichte. Damit einher geht eine Verflachung inhaltlicher Debatten und Rückschritte des politischen Bewusstseins. Aber vor zwanzig und wahrscheinlich auch vor dreißig Jahren war das Lamento der damals ‚alten‘ Aktivist_innen das gleiche – und genauso berechtigt oder unberechtigt wie heute.
FFBIZ: Im Verein arbeitet niemand mehr in anderen Ländern und schickt uns Material von dort. Als Thema geblieben ist Emanzipation – der Kampf gegen Herrschaft von Menschen über Menschen.
FemArchiv: Früher wurde mehr zu Reproduktions- und Gentechnologie und Geschichte der Frauenbewegungen gearbeitet. Heute liegen die Schwerpunkte eher auf feministischer und queerer Theorie und postcolonial Studies. Die typische heutige Nutzerin studiert, meist Sozial- oder Geisteswissenschaften, und ist meist recht kurze Zeit im femArchiv aktiv. Wir sehen hier einen Zusammenhang mit der Bologna-Reform und damit verbundenen eingeschränkten Freiräumen. Früher war die Verbindung von feministischer Politik und Wissenschaft stärker. Das liegt sicher auch an der Akademisierung und Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung.
apabiz: Inzwischen sind digitale Medien ein fester Bestandteil unserer Arbeit. Thematisch haben wir seit der Gründung des apabiz versucht uns nicht einzuschränken und das gesamte ideologische Spektrum der politischen Rechten zu dokumentieren.
HLA: Da sich das Archiv noch im Aufbau befindet, besteht der Kreis der Nutzer_innen derzeit überwiegend aus Aktivist_innen. Wir bekommen aber auch immer wieder Anfragen von Wissenschaftler_innen – auch aus dem Ausland – zur Geschichte der Roten Hilfe oder der Arbeiter_innenbewegung.
¿Gibt es Konjunkturen, in denen ihr besonders oft angefragt werdet?
Projektarchiv: Wenn es an der Uni brodelt, kommen Aktivist_innen und fragen, wie sie spontane Aufstände à la 1988/89 organisieren können.
Papiertiger: Jahrestage sind immer sehr beliebt: 30 Jahre Deutscher Herbst, 20 Jahre Mainzer Straße, 30 Jahre Hausbesetzer_innenbewegung …
apabiz: Wir werden beispielsweise vor oder nach Wahlen verstärkt nach unseren Einschätzungen und Analysen gefragt. Auch mediale Ereignisse wie Verbote von Gruppierungen bieten oft Anlass uns zu kontaktieren. Dabei handelt es sich in der Regel um Journalist_innen. Und natürlich werden wir in der vorlesungsfreien Zeit verstärkt von Studierenden genutzt.
¿Was sind eure Zukunftspläne?
HLA: Wir haben eine ganze Reihe schöner Originalplakate und Zeitschriften aus den 1920er und 1930er Jahren angekauft, die wir in Form von Kalendern und Postkarten veröffentlichen wollen.
FFBIZ: Wir gehen verstärkt in die Digitalisierung, für die uns aber leider meistens das Geld fehlt. Nur manchmal können wir unsere wertvollen Altbestände, beispielsweise eine hektografierte1 Frauenzeitschrift aus den 1950er Jahren, sichern.
AdSB: Unser Ziel ist, in den nächsten zwei Jahren alle derzeit noch unaufgearbeiteten Materialien entweder zu sortieren oder endlich wegzuwerfen.
- 1. Veraltetes Umdruckverfahren mittels einer abfärbenden Vorlage (Matritze).
Literatur
Bernd Hüttner: Archive von unten – Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, Neu-Ulm, 2003
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Erschienen in arranca! #44
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