Solidarität für die politische Gegenwart

Interview mit David Featherstone

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David Featherstone ist Dozent für Humangeografie an der Universität Glasgow und unter anderem Autor von »Solidarity. Hidden Histories and Geographies of Internationalism.«

¿Du hast gerade ein Buch zu den Themen Internationalismus und Solidarität geschrieben. Was interessiert dich an diesen Themen?

Meine Hauptmotivation für die Arbeit an dem Buch war die Frustration darüber, dass sich zwar oft auf Solidarität berufen wird, es aber kaum zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Konzept kommt.

Die konkreten Ausprägungen von Solidarität werden oft einfach als naturgegeben hingenommen. Das verschleiert die Bedeutung von Solidarität als einer der wichtigsten Praxen der Linken.

Mein Ausgangspunkt bei alledem war die Annahme, dass die Konstruktion von Solidarität selbst einen kreativen und produktiven Prozess darstellt. Außerdem war ich der Überzeugung, dass sich ausgehend von Solidarität, als einer der zentralen politischen Fähigkeiten von Linken und sozialen Bewegungen und der von ihnen geschaffenen Beziehungen, viele unterschiedliche Geschichten über linke Politik erzählen ließen.

Ich wollte verstehen, wer oder was relevant für den Wandel internationalistischer Politik ist. Dem zu Grunde lag mein Ärger darüber, dass viele Auseinandersetzungen mit linkem Internationalismus den Schwerpunkt vor allem auf Führung und Institutionen gelegt haben. Ich hatte das Gefühl, dass für die Rolle der diversen subalternen Gruppen und Kämpfe und für ihren Einfluss auf die Formierung und Konstruktion von Internationalismus in dieser Lesart der Kämpfe kein Raum war. In diesem Sinne ist es eines meiner zentralen Ziele den von Peter Linebaugh und Marcus Rediker in ihrem für mich sehr inspirierenden Buch Die vielköpfige Hydra1 entwickelten Fokus auf multiethnische Solidarität von unten, auf die Kämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts zu übertragen.

Das Buch ist auch aus dem Wunsch heraus entstanden, mit den weit verbreiteten Vorurteilen über linke Politik aufzuräumen. Viel zu oft werden linke politische Traditionen als engstirnige, zurückgebliebene und chauvinistische Bewegungen kritisiert. Diesem karikierten Bild der Linken möchte ich widersprechen. Zwar möchte ich keinesfalls die Komplizenschaft linker Politik mit chauvinistischen Formen von Solidarität leugnen. Das Buch beschäftigt sich ausdrücklich auch mit vielen Schattenseiten linker Geschichte, zum Beispiel mit Ausgrenzung entlang der Kategorien Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe. Beispielsweise in der Auseinandersetzung mit der gewerkschaftlichen Organisierung der Seefahrt im frühen zwanzigsten Jahrhundert beschäftige ich mich auch explizit mit der Herausbildung von Arbeiterbewegungsinternationalismus entlang solcher Ausschlusslinien.

Aber gleichzeitig bestehe ich darauf, dass dies nicht die einzige Geschichte internationalistischer Solidarität ist. Wenn man sich nur auf diese Aspekte konzentriert, tut man der Geschichte der diversen politischen Bewegungen, die linke Politik in der Vergangenheit und der Gegenwart mitgeprägt haben, systematisch Gewalt an. Deshalb beleuchte ich in meinem Buch einige Beispiele multiethnischer Solidarität, die sich im Widerstand zu solchen ausschließenden Formen weißer Arbeiterbewegungssolidarität befinden. Dazu gehört zum Beispiel die Organisierungsarbeit der Industrial Workers of the World, vor allem im Hafen von Philadelphia, wo schwarze Wobblies wie Ben Fletcher die bedeutendsten Experimente gemischter Gewerkschaftsorganisierung der 1910er/20er Jahre unternahmen.

In diesem Sinn ist das Buch von einer starken Bindung an die diversen politischen Bewegungen getragen, die linken Internationalismus in der Vergangenheit und der Gegenwart geformt haben. Ich versuche einige Ansätze zu entkräften, die linke Politik vor allem in einem nationalstaatlich- zentrierten Rahmen denken, weil dies einige der machtvollen Geschichten und Geografien transnationaler Organisierung und Solidarität zum Schweigen zu bringen droht.

¿Mit welchem geschichtlichen Zeitrahmen beschäftigst du dich in deinem Buch und welche Kämpfe um internationale Solidarität betrachtest du?

Das Buch beschäftigt sich vor allem mit den umkämpften Formen internationaler Solidarität des 20. Jahrhunderts. Eines meiner zentralen Anliegen war es, die unterschiedlichen Formen und den unterschiedlichen Charakter von Solidarität in dieser Epoche herauszustellen. Ich wollte mich auf Beispiele beziehen, die noch wenig beachtet wurden oder bekanntere Beispiele aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Dabei geht es um drei zentrale Themen: kolonialen und antikolonialen Internationalismus, Formen von Solidarität im Zusammenhang mit der Geopolitik des Kalten Krieges und Solidarität gegen und im Schatten des Neoliberalismus.

Ich untersuche zum Bespiel die Solidarität zwischen Exilchilen_innen und anderen Aktivist_innen zur Zeit des Militärputsches gegen Allende 1973. Es wird ein Teil des beeindruckenden Prozesses der Wiederbelebung der chilenischen Linken nachgezeichnet, aber auch wichtige Solidaritätsaktionen wie die Weigerung schottischer Arbeiter_innen, Flugzeugturbinen der chilenischen Luftwaffe zu warten, die zur Überholung nach Schottland transportiert wurden. Dieses Kapitel betont, wie wichtig antiimperialistische Positionen in dieser Solidarität waren.

Dieses chilenische Beispiel zeigt auch, dass der Neoliberalismus seit seinen Anfängen – einschließlich seiner autoritär-repressiven Einführung in Chile unter Pinochet – immer von dynamischen Formen des Widerstandes begleitet war. Dieser Punkt ist für die zweite Hälfte des Buches zentral. Darin versuche ich die in der Linken verbreitete Erzählung eines allmächtigen Neoliberalismus, der ohne nennenswerten Widerstand in die Welt exportiert wurde, zu widerlegen. Einige der britischen Exilchilen_innen waren zum Beispiel daran beteiligt, die Solidarität gegen den Angriff des Thatcherismus auf die Bergarbeiter während des langen Streiks von 1984/85 zu organisieren. Diese transnationalen Artikulationen des Widerstands gegen den Neoliberalismus sollten viel ernster genommen werden.

Der letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage nach Solidarität als integralem Bestandteil von Vorstellungen einer anderen Zukunft jenseits des Neoliberalismus. In Auseinandersetzung mit der globalisierungskritischen Bewegung versuche ich in verschiedenen Kontexten zu zeigen, dass die von dieser Bewegung organisierte Solidarität im Hinblick auf die Kategorien gender und race zwar nicht konfliktfrei, aber dennoch äußerst produktiv war. Transnationaler Feminismus war für die globalisierungskritische Bewegung sehr wichtig, das wird oft nicht genügend beachtet. Das Schlusskapitel untersucht die Formen von Solidarität in der Klimabewegung und dreht sich vor allem um die Proteste in Kopenhagen, blickt aber auch auf deren Verbindungen mit bolivianischen Diskursen von Klimagerechtigkeit.

¿Internationale Solidarität birgt viele Fallstricke. Für den deutschen Kontext scheinen die Romantisierung nationaler Befreiungsbewegungen, die damit zusammenhängende Projektion eigener revolutionärer Sehnsüchte und die ernüchternde Landung auf dem Boden der Realität internationale Solidarität ziemlich diskreditiert zu haben. Auch wenn es mit der globalisierungskritischen Bewegung und den Kämpfen der Zapatistas gegenläufige Bewegungen gab, scheint es sich bei der Geschichte internationaler Solidarität in Deutschland vor allem um eine Geschichte des Niedergangs zu handeln. Ist das ein deutscher Sonderfall, oder handelt es sich dabei um ein globales Phänomen? Gibt es eine solidere Grundlage für zeitgenössische Ansätze internationaler Solidarität?

Mit einer Erzählung des Niedergangs wäre ich vorsichtig. Zwar gab es all die Spannungen und Fallstricke, die du im Zusammenhang mit den politischen Kulturen von Internationalismus ansprichst. Aber auch den Einfallsreichtum der Solidarität und des Internationalismus und die Lebendigkeit der Verbindungen und Beziehungen verschiedener Kämpfe unter ganz unterschiedlichen Bedingungen darf man nicht unterschätzen.

Ich wende mich in meinem Buch energisch gegen das Leugnen dieser politischen Kulturen, weil damit bereits großer Schaden angerichtet wurde. Eine Konsequenz daraus ist zum Beispiel, dass die Bedeutung und das Vorhandensein von anti- und postkolonialen politischen Interventionen in der Konstituierung der europäischen Linken ausgeblendet wird, was zu einem extrem reduzierten Verständnis von zentralen politischen Ereignissen wie etwa '68 geführt hat.

Das hatte wirklich schädliche Folgen. Denn dadurch konnte die Erfahrung von 1968 in Deutschland, Frankreich und Großbritannien als bloßer Vorbote eines entpolitisierenden Individualismus gedeutet werden, als Teil des unaufhaltsamen Wegs zu einer neoliberalen Gesellschaft. Das beruht auf der Nichtthematisierung des Einflusses antiimperialistischer Bewegungen und verbannt nichtwestliche Akteure, sowohl in ihrer Anwesenheit und ihrem Austausch mit europäischen Linken, als auch in Bezug auf diverse Kämpfe, die sich oft der »erbarmungslosen binären Logik des Kalten Krieges« in produktiver und innovativer Weise entzogen haben. Wie Quinn Slobodian in seinem aktuellen Buch Foreign Front schreibt, verblasst die Erinnerung an diese Traditionen im Laufe der Zeit zusehends.2

Der Bedeutung dieser Verbindungen wieder Geltung zu verschaffen, stellt Erzählungen in Frage, die Solidarität und Internationalismus vor allem als Projektion sehen. Solche Erzählungen tendieren dazu, politisches Handeln aus den Verbindungen zwischen unterschiedlichen Bewegungen herauszulösen. Ich bin der Ansicht, dass diese Verbindungen integraler Teil von Praxen und Erfahrungen von Solidarität sind. Für mich folgt aus dem Nachdenken über die verschiedenen transnationalen Verbindungen, Solidarität als Teil anhaltenden Austausches und anhaltender Verbindungen zu sehen.

Dabei ist es mir wichtig herauszustellen, dass es bei Solidarität in den seltensten Fällen um eine Identifikation mit den »entfernten, entkörperlichten « Anderen geht, sondern vielmehr um die Konstruktion von vielfältigen Verbindungen und Beziehungen. Dabei ist es offensichtlich, dass die Rahmenbedingungen, unter denen diese Verbindungen hergestellt wurden, oft zweifelhaft und ungleich waren. Ich versuche zu zeigen, dass diese Bedingungen zugleich aber auch umstritten waren, kritisiert und umgearbeitet wurden. In diesem Zusammenhang geht es mir mehr um ein Verständnis von Solidarität als gemeinsames Handeln, als Austausch und Zusammenarbeit und somit um ein Untergraben der Darstellung von Internationalismus als etwas, bei dem es vor allem um Projektion geht.

Das Ganze macht die Suche nach einer neuen Grundlage für internationale Solidarität nicht einfacher. Wofür ich mich stattdessen stark mache, ist ein Verständnis von Solidarität, das die Aushandlung und das Herstellen von umkämpften Verbindungen einschließt. Also »Solidarität ohne Garantien«, hergestellt durch Artikulationen und Verbindungen von verschiedenen Kämpfen. Das kann ein ziemlich nervenaufreibender Prozess sein, aber auch ein sehr produktiver. Die von dir erwähnten Zapatistas spielen eine wichtige Rolle bei der Umformung der Sprache politischer Kämpfe. Das ist in erster Linie ihrem Konzept einer vielfältigen Solidarität gegen den Neoliberalismus als gemeinsamen Feind zu verdanken.

¿Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise scheinen weite Teile der europäischen sozialen Bewegungen nervös darum bemüht zu sein, Verbindungen zu Bewegungen in anderen Teilen (vor allem Süd-)Europas neu aufzubauen. In Bezug auf die lange Geschichte des Internationalismus – welches sind deiner Ansicht nach die Gefahren die dabei lauern und was sollten diese Bewegungen von vorangegangenen Bewegungen lernen?

Ich glaube, das alles hat ein großes Potential. Angesichts der Verheerungen, die mit der europaweiten Austeritätspolitik einhergehen, ist das auch dringend notwendig. Eins darf man dabei nicht vergessen: der Neoliberalismus war bereits vor der derzeitigen Krise umkämpft. Man denke an die schon erwähnten Zapatistas und die globalisierungskritische Bewegung. Dass verschiedene Bewegungen bereits gegen die Durchsetzung des neoliberalen Projekts gekämpft haben, ist eine wichtige Botschaft. Denn dadurch, dass diese Tatsache geltend gemacht wird, kann sich der politische Krisendiskurs verschieben und es können sich neue politische Möglichkeiten ergeben.

Eine zentrale Herausforderung ist die Auseinandersetzung um die Begriffe, mit denen wir die Krise zu begreifen versuchen. Mir scheint, dass viele der linken Analysen die Linke in Bezug auf die Krise bestenfalls in der Verteidigerrolle positionieren. Die Linke wird dafür gescholten, nicht vorausschauend und strategisch genug gehandelt zu haben. Ich denke dabei vor allem an Artikel in der New Left Review oder dem Socialist Register. Andere Möglichkeiten würden sich bieten, wenn man die jüngsten Auseinandersetzungen als Teil der andauernden Kämpfe gegen den Neoliberalismus sehen würde. So wären diese Bewegungen und Kämpfe nicht lediglich als Reaktion auf die Krise zu interpretieren, sondern als Teil einer fortlaufenden Geschichte, so wie auch die Übereinkunft der linken Mitte mit dem Finanzmarkt-Kapitalismus eine fortlaufende Geschichte ist.

Was sind die Bedingungen, unter denen sich Solidarität zwischen der Bewegung der Indignados und einer jungen urbanen Linken herstellen lässt? Wie stellt die Klimagerechtigkeitsbewegung Solidarität mit Bergarbeiter_innen her, die unter schrecklichen und unterdrückerischen ökonomischen Bedingungen leben? Vor diesen Herausforderungen sollte man sich nicht drücken, man muss sich auf sie einlassen.

Es gibt viele Ansatzpunkte für einen produktiven wechselseitigen Austausch. Damit gehen allerdings auch einige Herausforderungen für die politische Sprache und Vorstellungskraft in Bezug auf die Krise einher. Als gelungenes Beispiel hierfür würde ich zuallererst die von der Occupy-Bewegung geprägte Rede von den »99 Prozent« zählen, die als popularer Schachzug eine zentrale Stärke aufweist und einigen Erfolg in der Artikulation von Opposition jenseits aktivistischer Subkulturen hatte. Natürlich lauern auch hier wieder Konflikte, vor allem was Beziehungen und Spannungen innerhalb der sogenannten 99 Prozent betrifft. Das wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie werden Unterschiede verhandelt? Welche Stimmen und Erfahrungen werden wie anerkannt? Diese Fragen wurden in den einflussreichen Werken der jüngeren globalisierungskritischen Bewegung eher vermieden, so zum Beispiel in Hardt und Negris Konzept der Multitude, dem die Tendenz innewohnt, ganz unterschiedliche Gruppen ohne jedes Problembewusstsein einfach zusammenzuwerfen. Ich glaube, es ist notwendig etwas feinfühliger mit unterschiedlichen und manchmal konfliktreichen politischen Bewegungen zu sein.

Die Krise in Beziehung zu fortlaufenden Kämpfen zu sehen, eröffnet Möglichkeiten den Einfluss der Rechten über die Krisenerzählung zurückzudrängen. Der politische Raum hat sich durch das eindeutige Scheitern des Neoliberalismus deutlich geöffnet. Verschiedene Formen von Solidarität zwischen Kämpfen gegen die Austeritätspolitik haben wirkliches Potential für das Entstehen eines gegenhegemonialen Moments geschaffen. In diesem Sinne denke ich, dass Solidarität und internationalistische Verbindungen eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, wie die Krise von der Linken artikuliert werden kann.

Das Interview führte Patrick Stary.

  • 1. Peter Linebaugh/Markus Rediker: Die vielköpfige Hydra: Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Assoziation A, 2008.
  • 2. Quinn Slobodian: Foreign Front: Third World Politics in Sixties West Germany, Duke University Press, 2012.

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Erschienen in arranca! #46

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