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Was ist ein Organ?

1. „Organ” vom altgriechischen „organon“ (ὄργανον): Werkzeug, Sinneswerkzeug.
2. Aristoteles’ Organon: beschreibt die Logik als Werkzeug der Wissenschaften.
3. Brechts Kleines Organon für das Theater: entwirft ein Theater, das nicht schöne Nutzlosigkeit oder spektakuläre Einzelschicksale vorgaukelt, sondern als Apparat von Aufklärung und Klassenkampf dient.
4. Lenins Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur: fordert, politische Zeitungen müssten „Organe“ werden und samt Verlagen, Lagern, Läden, Leseräumen etc. dem organisierten Proletariat unterstehen.

 

In der Biologie ist ein Organ ein Körperteil oder eine Funktionseinheit aus verschiedenen Geweben. Das Zentralorgan – bei Lenin ein Medium zur ständigen Einschätzung der politischen Lage und Vereinigung der lokalen Kämpfe durch Ermittlung einer gemeinsamen Linie – wäre in diesem Sinne wohl am ehesten Kopf oder Phallus: groß, singulär, mächtig. Prawda – du sollst keine andere Wahrheit neben mir haben! Wie steht es dagegen um die hier vorliegende Zeitschrift? Ist die arranca! bisher das Organ von FelS gewesen? Welches? Was sind ihre Aufgaben? Was heißt es für eine solche Zeitung zu arbeiten? Und was hat das mit dem Thema Organisierung zu tun?

Hirn, Herz, Hodensack?

Eine kleine Umfrage ergibt: Die Redaktionsmitglieder sahen die arranca! nicht als das Organ von FelS. Dazu sei sie zu unabhängig, laufe zu sehr nebenher. Doch wenn nicht das, sondern nur ein Organ der Organisation (irgendwie angebunden ist sie ja) – welches ist sie dann? Keine*r der Befragten nennt das umgangssprachliche (laute) Organ, das dem Einschüchtern von Feinden, Herbeirufen von Freunden, Ausstoßen von Schmerzens- und Freudenschreien dient. Zwar wird die arranca! überwiegend mit Kopf, Hirn, Augen verglichen. Auch etwas vom Herzen ist dabei. Aber das Verhältnis zum restlichen Organismus erinnert nicht gerade an eine vorwärts! schreiende Kommandozentrale. Es erscheint fremdelnd, antagonistisch, angespannt. Eine Befragte meint, die arranca! nervt manchmal ein bisschen, piekst und irritiert die anderen Teile. Ein anderer sieht sie als knurrenden Magen. Hunger, Wut, schlechte Ernährung?

Der zugehörige Organismus ist das Gegenteil eines klassisch humanoiden Körpers – dezentral organisiert: „Wie ein Wurm“, meint eine Befragte, „der hängt zusammen, kann aber auch reißen und trotzdem weiter leben“. Das Organ arranca! ist keinesfalls ein Sprechapparat für das Ganze, sondern bildet höchstens den inneren Zwist seiner Teile ab. Blockupy und seine Botschaften sind eindeutiger zuzuordnen und weiter zu hören als ihr differenziertes, vielstimmiges Gemurmel.

Dieser Körper ist eine Hydra mit Augen und Tastorganen an unterschiedlichen Stellen, der mit mehreren Mündern und Zungen zugleich, manchmal durcheinander und oft mit sich selbst spricht, für Außenstehende vielleicht schwer zu deuten, dafür aber mit der Mutanten-Schönheit einer (zumindest potentiell) wild wuchernden, exzessiven Kommunikation und Gestalt. Ist er überhaupt einem menschlichen Körper vergleichbar, der anderen Organismen gegenübersteht und, ausgestattet mit verschiedenen Organen, mit oder gegen sie agiert? Oder sollten wir ihn uns in einem umfassenderen Gefüge vorstellen: ein monströses, symbiotisches oder parasitäres Etwas, dessen Aufgabe es wäre, andere Organe zu stören, Immun- oder Hemmstoffe zu bilden? Aber hey: wer ist denn hier die Krebszelle?

Mauern und Breschen

Zurück zu Lenin, zu Macht, Mittel und Zweck. Bei ihm kommt das Organ vor allem als Werkzeug vor. In Was tun? (1902) vergleicht er die Parteizeitung mit Richtschnur und Baugerüst: das Gerüst „zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch organisierte Arbeit erzielten gemeinsamen Resultate zu überblicken“. Das leuchtet ein und begründet auch, warum so ein Zentralorgan singulär sein muss. Eine allen gemeinsame und sichtbare Linie soll es Gruppen und Individuen ermöglichen, ihr verstreutes Herumstümpern zu überwinden. Denn „das ist ja eben das Malheur, daß wir noch keine erfahrenen und gut aufeinander eingearbeiteten Maurer haben, daß die Steine oft ganz nutzlos gelegt werden, daß sie nicht nach einer gemeinsamen Schnur gelegt werden, sondern so verstreut, daß der Feind sie einfach fortbläst, als wären es nicht Steine, sondern Sandkörner“.

Das klassisch autonome Werkzeug wäre dagegen wohl etwas wie ein Brecheisen oder eine Sprühdose, von Einzelnen oder kleinen Gruppen einsetzbar, mehr zum Ab- oder Aufbruch als zum Aufbau geeignet, eher in Hütten oder Zelten, als auf Großbaustellen anzutreffen. Also ein Bataillon von Maurer*innen werden und eine eigene Welt errichten … – oder desertieren und in den Rissen einer fremden Welt zelten, um sie zu sprengen? Zwischen diesen Welten, über den Gegensatz hinweg versucht sich die postautonome Linke aufzustellen. Mit welchen tools? Die arranca-Mitglieder sehen ihre Zeitung – anders als ihr Ruf vermuten lässt – nicht als Spaltholz oder Flaschenpost, sondern liegen von Lenins Linie gar nicht so weit entfernt. Da ist ein Synthesizer, mit dem die steife Organisation vielleicht in Schwingung und seine Teile in einen kollektiven Rhythmus versetzt werden könnten. Da ist, weniger hedo, dafür schön handfest, ein Leim-Vergleich. Einer der Befragten nennt gar Hammer und Sichel. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass hier Zeitnot mit Ironie kompensiert wird.

Welcome to Machine

„Nieder mit den parteilosen Literaten! […] Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem 'Rädchen und Schräubchen' des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden“ (Lenin, Parteiorganisation und Parteiliteratur).

Wer stolpert nicht über einen solchen Vergleich? Wird so nicht das Denken, die Freiheit des Menschen zu einem schnöden Maschinenteil herabgewürdigt, abgetötet, bürokratisiert? Doch halten wir unsere antrainierten humanistischen Reflexe für einen Moment zurück! Lenins Schräubchen-Aufsatz erschien Ende 1905, nachdem der Zar, als Reaktion auf massive revolutionäre Unruhen, die Einführung bürgerlicher Freiheitsrechte und eine gesetzgebende Versammlung von Volksvertreter*innen versprochen hatte. In diesem Moment – an der Schwelle zu so etwas wie einer modernen bürgerlichen Gesellschaft – fragt er uns: wie ist es möglich, Schreiben, Lesen, Denken so zu organisieren, dass sie sich nicht nur gegen die „traditionelle“ Repression durch Polizei und staatliche Zensur richten, sondern auch gegen die kapitalistische Vereinzelung und sanfter daherkommende, ideologische Unterdrückungsmechanismen, wie Konkurrenz, Karrierismus, Abhängigkeit von Verleger*innen etc. Widerstand leisten? 

Das Organ kollektiviert, vollzieht den Schritt von der allzu menschlichen Empörung hin zu den Dingen, von den Meinungen zu den Wahrheiten, die Wirkungen sind. Das mag beängstigen. Denn es verlässt den Kreis bürgerlicher Selbstverständlichkeiten. Doch auch das bürgerliche Subjekt ist Teil einer Maschine! Mit dem Unterschied, dass es umso geschmierter funktioniert, wie es diese Tatsache verdrängt und vergisst. Auch die Bildzeitung, die Apothekenrundschau oder das Fachblatt für Ornithologie sind Organe. Noch in der Wüste füllst du den Magen eines Schakals. Moralische Empörung ist selbstgenügsam. Das Gegenteil ist Organisierung – nicht, weil wir alle so abgeklärt wären, sondern weil ein Organ sich über seine Wechselwirkungen mit anderen Organen, seine Funktion in ihrem Zusammenhang, den Nutzen für die gemeinsame Sache definiert und legitimiert. Eine politisch organisierte Zeitung ist nicht selbst schon der Zweck. Sie verschreibt sich nicht dem reinen Denken, sondern dient als Medium der Orientierung, Kommunikation und Koordination dem kollektiven Handeln.

Die Frage ist also: Nicht ob, sondern wie und als welches Organ, Werkzeug, Maschinenteil wollen wir funktionieren? Die Verdinglichung mit ihren eigenen Waffen schlagen, statt ihrer menschlichen Maske auf den Leim zu gehen! Und zwar nicht als Philosoph*in, sondern als Ingenieur*in, Mechaniker*in, Hacker*in des Denkens. Vielleicht braucht es heute mehr leninsche Linientreue und mehr antiautoritären Zorn, mehr Gift & Galle-Gazette und mehr Vereinsblatt mit Kopf, Herz und Aktivist*in des Monats, statt dazwischen in einer vermeintlichen Komfort-Zone herumzuschunkeln. Nicht wie sich der Einfluss der Organisation auf die Zeitung gering halten lässt, ist zu fragen, sondern wie wir die gegenseitigen Einflüsse maximieren und multiplizieren, das Schreiben und die Redaktionsarbeit dynamischer, effektiver, experimenteller mit dem Kollektiv verschalten können. Wollen wir nicht ein Schräubchen sein? So ein Schräubchen ist mehr als nützlich. Es arbeitet oder schreibt auch besser, weil politisch, vielleicht sogar fröhlicher, da es sich auch, aber nicht nur um sich selber dreht.

 

Erschienen in arranca! #48

„Die Linke unter den Großen“

Ein Gespräch mit Ivo vom NEUEN DEUTSCHLAND

Ein Gespräch mit Ivo über seine Erfahrungen in der Redaktion des ND.

Erschienen in arranca! #2

Özgür Gündem. Zeitung machen gegen den Tod

Portrait einer türkisch-kurdischen Zeitung

Wenn mensch die Situation im türkischen Staat betrachtet, entsteht der Eindruck, daß es beim Zeitungsmachen eigentlich nur ein Problem gibt: Überleben.

Erschienen in arranca! #2

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