Schwerpunkt

Auf den Teppich kotzen, auf dem man steht

Kann künstlerische Arbeit eine Militante Untersuchung sein?

Argentinien Januar 2002: Die ehemalige ‚Kornkammer der Welt’ und noch heute einer der wichtigsten Exporteure von Agrarprodukten und Rindfleisch, sieht sich gezwungen, den Notstand für Nahrungsmittel auszurufen. Nahezu 45 Prozent der Gesamtbevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Das Land ist bankrott und hat das größte Schuldenmoratorium in der Geschichte der Weltwirtschaft ausgerufen. Im internationalen Kontext scheint Argentinien lediglich die Spitze eines Eisbergs zu sein, das Symptom für eine weltweite Tendenz, die eine allgemeine Krise staatlicher Institutionen zeigt. Aus heutiger Sicht wirkt der Fall des Staatsbankrotts in Argentinien lächerlich angesichts der verzockten Milliarden US-amerikanischer und europäischer Banken. Die Krise staatlicher Institutionen ist eine Machtfrage. Deswegen gibt es hier eben keinen Staatsbankrott.

Erschienen in arranca! #39

Orientierungssinn

Zur Methodologie militanter Untersuchungen

2007 gaben Stevphen Shukaitis und David Graeber ein Buch über Militante Untersuchungen heraus, in dem einige eng an soziale Bewegungen geknüpfte Untersuchungsmethoden vorgestellt werden: Constituent Imagination. Beschrieben sind auch die Precarias a la Deriva, die wir bereits in der arranca! 31 interviewt haben. Ihre und eine weitere Methode aus dem Kapitel Drifting through the Knowledge Machine dokumentieren wir hier gekürzt.

Erschienen in arranca! #39

"Wer eine Sache nicht untersucht hat, hat kein Recht mitzureden" (Mao)

Student_innen in der Fabrik

Valtin wütet auf seinem Gabelstapler wie ein Stier. Er haut immer rein in die Arbeit. Steht keine Sekunde still. [...] Wenn er drei Ladungen zugleich erledigen soll, heißt, wenn drei Maschinen mit Material bedient werden müssen, spürt man so richtig, wie er reinhaut; der helle Schweiß steht ihm dann auf der Stirn – und der sagt: mich kriegen sie nicht klein, mich nicht; ich bleib beim Opel.

Erschienen in arranca! #39

Die Entdeckung des Eigensinns

Anmerkungen zur Geschichte der Militanten Untersuchung

In den langen 1950er Jahren wurde in vielen westeuropäischen Ländern eine alte Marx‘sche Vorhersage zur Realität: Der Anteil der Lohnarbeiter_innen an den Arbeitenden stieg auf einen historischen Höhepunkt, die große Mehrheit lebte vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Doch der Proletarisierung folgte keine Politisierung im Sinne der traditionellen Parteien und Gewerkschaften, die aus der Zweiten und Dritten Internationale hervorgegangen waren. Überall schien die Arbeiterklasse sich mehr für die neuen Konsummöglichkeiten und das individuelle Fortkommen zu interessieren als für die Revolution. Immer deutlicher wurde, wie die Hoffnung auf die Fabrik als ‚Organisatorin der Massen’ sich nicht erfüllen würde. Die Rebellion, die am Ende des Jahrzehnts auch die Fabriken und Büros ergriff, war vielmehr ein Aufstand gegen die Arbeit einschließlich ihrer stark entfremdeten und hierarchischen Organisationen.

Erschienen in arranca! #39

We may not like it, but we have to be part of it

Poulantzas, die Linke und der Staat

Man möchte meinen, dass das Ergebnis der Bundestagswahl wie Balsam auf die Seelen der Mitglieder des hiesigen Blocks an der Macht  wirkt. Weit gefehlt, folgt man einem aktuellen Kommentar der FAZ: «Wer es nicht mit Radikalsozialisten zu tun bekommen will, die Mehrheiten für Enteignungen organisieren, hat keinen Grund, sich über den Niedergang der Volkspartei SPD zu freuen». Das Beschwören des Gespenstes ‹Radikalsozialismus› hat sicherlich die Funktion, SPD-PolitikerInnen mit Sympathien für Rot-Rot-Grün das Wasser abzugraben. Aber es ist auch ein Ausdruck der Sorge darüber, dass sich die Anbindung von Lohnabhängigen an den politischen Mainstream lockert. Bei den Arbeitslosen hat die Linkspartei in ganz Deutschland am stärksten abgeschnitten.

Erschienen in arranca! #41

Scheiternhaufen

Der Fortbestand des Neoliberalismus in alltäglichen Kämpfen um Lebensweisen

Die neoliberalen Predigten von Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft, der Sorge um sich (und niemand anderen) sind immer begleitet (gewesen?) von der Bedrohung, an ihnen zu scheitern und dafür auch noch individuell verantwortlich gemacht zu werden. Als Person mit allen Denkweisen, Emotionen, Handlungsgewohnheiten in ein hegemoniales Projekt wie den Neoliberalismus eingebunden zu sein bedeutet, sich umfassend vermarkt- und verwertbar zu machen. Ein prominenter Ort, Menschen mit einer Mischung aus Zwang und Konsens in ein hegemoniales Projekt einzubinden, sind die so genannten Makeover-Shows.

Erschienen in arranca! #40

Die Lehren der Perestroika

Ein Gespräch zwischen Boris Kagarlitzky und Artjom Magun

War die Perestroika eine gescheiterte Revolution oder eine erfolgreiche Restauration? Die aktuelle Ausgabe Nr.19 der Zeitschrift Chto Delat? (Was tun?) blickt unter dem Titel »Was bedeutet es zu verlieren?« zurück auf den Untergang der Sowjetunion und die Jahre des Umbruchs in Russland. Das folgende Streitgespräch zwischen Artjom Magun – Philosoph aus St.Petersburg und Mit-Herausgeber von Chto Delat? – und dem Moskauer Soziologen Boris Kagarlitzky haben wir übersetzt und leicht gekürzt.

Erschienen in arranca! #40

Schönes Scheitern, hässliches Verlieren

Warum wir das Scheitern gegen das Krisenmanagement verteidigen müssen

Eine Sache, für die man nicht scheitern kann, ist nichts wert. Das gilt für Weltraumfahrer ebenso wie für Punk-Musiker: Würde man nämlich so einfach von A nach B gelangen und könnte sich dabei, wie sagt man, »treu bleiben« (und wären wenigstens die Blessuren halbwegs vorberechnet, die Begegnung mit dem intergalaktischen Körperfresser oder das Alt- und-Spießig-werden), dann wäre die ganze Bewegung ja gar nicht in der Zeit (sondern im Plan), also risikolos und unheroisch. Bleibend ist allein das Scheitern. Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass Nazis nicht scheitern können? (Wer bedingungslos an den Triumph der Stärke über das Schwache glaubt, für den ist Scheitern noch mehr als ein Unwert, nämlich ein Unwerden.)

Erschienen in arranca! #40

Das Andere, das jetzt auch mitspielen darf

Ich und das Scheitern

Verpönt, versteckt, dethematisiert. Lange Zeit führte das Scheitern ein Schattendasein neben seinem strahlenden Bruder Erfolg. Geweint über das eigene Scheitern wurde im stillen Kämmerlein hinter dem Rücken anderer über deren Misserfolg getuschelt. Höchstens verschrobene Gestalten wie Kafka rückten das Scheitern in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen.

Erschienen in arranca! #40

Julia's Calculations

Über Romantik, Wahrheit und »The Dismal Science«

Love Counts. Im Anfang war die Zahl, und die Zahl war bei Gott, und die Zahl war Gott, sie war im Anfang bei Gott. In der Liebe hab ich mich stets verrechnet, so dass aus Etwas Nichts geworden ist. Über die Jahre war ich mit einer mittleren Anzahl von Leuten zusammen. Wie Schwermetalle haben sich die Rückstände dieser Liebesgeschichten in meinem Körper angesammelt; Erinnerungen an Dinge, Sätze, Kleidungsstücke, die in Wohnungen deponiert und in Kartons oder Tragetaschen wieder abgeholt wurden. Kann mich an die Badezimmer erinnern, ein umfunktioniertes Zigarettenregal, einen Aufkleber auf einem Spiegel (reclaim your face), eine insektenhaft gesprungene Kachel und an gute Momente ganz für mich auf der Wannenkante, während in meinem Mund die Zahnbürste selbsttätig rotierte und jemand im Bett schon auf mich wartete.

Erschienen in arranca! #40

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