Schwerpunkt

Re-Bordering Europe

Migrationspolitik als neokoloniale Geopolitik

Als im „arabischen Frühling“ 2011 zunächst in Tunesien, dann in Algerien, Ägypten und schließlich in Libyen die Menschen massenhaft auf die Straßen drängten, kehrte plötzlich auch ein Thema auf die mediale und politische Agenda zurück, dem man sich in Europa längst entledigt zu haben hoffte: Hunderte meist junger Männer hatten die undurchsichtige politische Situation in Nordafrika genutzt, um auf Booten die Reise nach Europa anzutreten. Die Bilder, ebenso wie die meist von Rassismus getränkten Reaktionen diesseits des Mittelmeers, erinnerten dabei an eine ähnliche Situation, die sich knapp fünf Jahre zuvor auf den kanarischen Inseln in Spanien ereignet hatte. Im Jahr 2006 waren hier schätzungsweise 32.000 afrikanische Migrant_innen in heillos überfüllten Fischerbooten (spanisch: cayucos bzw. pateras) an den Stränden gelandet – glückliche Überlebende der 2000 Kilometer langen Überfahrt, die für die Meisten in Mauretanien und Senegal begonnen und für Tausende vorzeitig in den Weiten des Atlantiks geendet hatte.

Erschienen in arranca! #45

Krise in Bewegung

Im Oktober 2011 war es soweit: Der Startschuss für Krisenproteste von unten fiel, Deutschland beteiligte sich am weltweiten Aktionstag der Occupy-Bewegung, Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und jeden Alters protestierten gegen die Macht der Banken. In Berlin demonstrierten gut 10 000, in Frankfurt mobilisierte Attac einige Tausend, auch in Städten wie München gingen Bürger_innen auf die Straße.

Bis dahin war es lange Zeit still gewesen in Deutschland. Die Linke hatte es nicht geschafft, die Menschen gegen die neoliberale Politik in der Finanzkrise zu mobilisieren. Proteste im Herbst 2010 gegen das Sparpaket der Bundesregierung waren ein Flop. Eine Bankenblockade in Frankfurt am Main wurde wegen zu geringer Beteiligung abgesagt. Schlechtes Wetter, Terrorwarnungen, die Wahl eines Wochentages und mangelhafte Vorbereitung führten dazu, dass zu der Bundestagsbelagerung des Berliner Krisenbündnisses im November 2010 in Berlin nicht die erhofften Massen kamen.

Erschienen in arranca! #45

Sieben Tage Europa

How Paris broke my Heart

Laß deinen Zorn und Hader, schönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen; ich bin es, die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!

Erschienen in arranca! #45

Ladyfest Europe - eine queer-feministische europäische Bewegung?

Interview mit Alek Ommert

Als Praxisform linker, queer-feministischer Politik fanden in den letzten zehn Jahren in vielen europäischen Ländern Ladyfeste statt. Exemplarisch für verschiedene transnationalisierte Aktionsformen der Post-Autonomen fragten wir nach dem Europäischen an Ladyfesten oder wie europäisch queer-feministische Praxis ist.

Erschienen in arranca! #45

Greening the economy?

Die EU-Energiepolitik zwischen Integration, Transformation und Energiekämpfen

Wettbewerbsfähig, nachhaltig und sicher soll sie sein, die europäische Energie. Dies sind zumindest die Schlagworte der im November 2010 vorgestellten Energiestrategie der Europäischen Kommission bis zum Jahr 2020. Allerdings gehört die Energiepolitik zu den Bereichen, die auf europäischer Ebene bisher kaum integriert sind. Das europäische Energiesystem gleicht einem Flickenteppich, 27 Mitgliedsstaaten haben 27 unterschiedliche Energiesysteme, ein gemeinsamer Energiebinnenmarkt liegt in weiter Ferne.

Erschienen in arranca! #45

V de Vivienda und die anonyme Mail

Am Anfang stand eine anonyme Mail, die im Frühjahr 2006 durch das Internet zirkulierte. Über E-Mail-Listen, Blogs, Foren, SMS und soziale Netzwerke breitete sich die Forderung nach würdigem Wohnraum aus. In den folgenden Wochen beteiligten sich tausende Jugendliche an Sit-ins in spanischen Großstädten. Die Bewegung V de Vivienda entstand. Das erste Sit-in fand im Mai 2006 auf der Puerta del Sol in Madrid statt, es folgten Versammlungen in Barcelona, Zaragoza, Sevilla, Cordoba, Bilbao, Granada, Murcia und Logrono. Einen Monat lang versammelten sich jeden Sonntag Jugendliche auf öffentlichen Plätzen. Schilder mit selbst geschriebenen Sprüchen wie „Hypothek: lebenslängliches Zuchthaus“ prägten die Versammlungen. Herkömmliche politische Parolen fehlten.

Erschienen in arranca! #44

Wer von Vereinnahmung redet darf von Erfolgen nicht schweigen

Erfahrungen aus 30 Jahren Besetzungsbewegung

Hausbesetzungen sind eines der Zauberwörter linker Bewegungen: Sie sind unmittelbar radikal, sie brechen mit der Eigentumslogik, sie schaffen reale Freiräume, in denen es möglich scheint, kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen zumindest teilweise zu entgehen. Hausbesetzungen haben eine glorreiche Geschichte. Mit ihnen verbinden sich Erinnerungen an kurze Sommer der Anarchie, wie es sie in vielen europäischen Städten gegeben hat.
Nach den großen Berliner Hausbesetzungsbewegungen der 1980er und 1990er Jahre wird die Legendenbildung überlagert von einer weniger ‚glorreichen’ Wahrnehmung. Angesichts der kompromisslosen Berliner Räumungspolitik erreichen Besetzungen oft nur noch symbolische Wirkung. Sie werden als szeneradikale Rituale wahrgenommen, die städtische Machtverhältnisse kaum in Frage stellen. Und spätestens seit das Wort Gentrifizierung in aller Munde ist und die Kritik daran ergänzt wird durch eine Selbstkritik der eigenen Pionierrolle, rücken auch (ex-)besetzte Häuser in ein anderes Licht. Eine in Mode gekommene Debatte um die Vereinnahmung linker Bewegungen beschreibt Hausprojekte als subkulturelle Farbtupfer, die zu steigenden Mieten und Verdrängung beigetragen hätten.

Erschienen in arranca! #44

Anti-Atom in Bewegung: Solidarisch, bündnisfähig, radikal!

(Was Heinz Schenk noch nicht wusste und so vielleicht nicht zu hoffen gewagt hätte)

„Die Verbindung mit denen, die vor uns am Werk gewesen waren, war immer gleichbedeutend mit einer Eröffnung des Wegs ins Zukünftige. In diesem Sinn sind wir Traditionalisten, sagte Katz. An nichts Kommendes können wir glauben, wenn wir Vergangenes nicht zu würdigen wissen.“
(Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands)

Beginnen wir sozusagen mit einem doppelten Zitat. Mit dieser lakonischen Einstimmung begann nämlich 1991 ebenfalls der Text „Die Autonomen machen keine Fehler, sie sind der Fehler!!!“ (Autorenkollektiv Heinz Schenk). Der damals in Zeiten relativer Stärke der autonomen Bewegung provokante Titel war im Stil einer Endabrechnung formuliert, wurde aber auch von vielen Autonomen als radikale Manöver(Selbst-)kritik genutzt. So übernehmen wir mit diesem Artikel zwanzig Jahre später das Staffelholz und fragen, was an der Kritik angesichts erfolgreicher linker Massenmobilisierungen in Heiligendamm, Dresden und im Wendland zwischenzeitlich stattgefundenen Bewegungs-„Zeitenwende“ noch aktuell ist? Welche Bedeutung haben die Kernkritikpunkte der Autoren – Militanzfetisch, Organisierungsfeindlichkeit, Theorie- und Geschichtslosigkeit und bündnis- und somit gesellschaftsunfähige Selbstghettoisierung – heute noch?

Erschienen in arranca! #44

Sammeln, sortieren, ablegen

Unabhängige Archive und Bewegungsgeschichtsschreibung

Mehr als 200 Archive in der Bundesrepublik archivieren soziale Bewegungsgeschichte. Wir haben einige selbstorganisierte Archive zu ihrer Arbeit befragt. Alle von ihnen verstehen sich als politische Akteur_innen. Der Großteil ihrer Arbeit läuft selbstorganisiert und ohne Bezahlung.

Das Archiv der Sozialen Bewegungen (AdSB) Bremen gibt es seit 1999. Erklärtes Ziel ist es, die eigene Geschichte zu bewahren und dem eigenen Interesse für Geschichte und Theorie mehr Raum zu geben. Ausgangspunkt des Projektarchivs in Berlin war der Unimut-Streik an der FU 1988/89, weil die Erfahrung zeigte, dass studentische Initiativen immer wieder bei Null anfangen. Erkenntnisse aus der Vergangenheit sollten fortan besser verarbeitet werden. Das Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum e.V. (FFBIZ) in Berlin hat sich 1978 mit dem Ziel gegründet, Forschung, (Weiter-)Bildung und Information (Bibliothek/Archiv/Dokumentation) in einer Einrichtung zu verbinden. Das Papiertiger Archiv und Bibliothek der Sozialen Bewegungen gründete sich 1983 unter dem Motto „Von der Bewegung für die Bewegung“. Das Feministische Archiv Marburg (FemArchiv) wurde 1989 als Teil des Asta Marburg gegründet und versteht sich als Teil von Frauengegenstrukturen. Das Antifaschistische Pressearchiv- und Bildungszentrum Berlin e.V. (apabiz) wurde 1991 aus dem Teilbereich „Antifaschismus“ des Papiertiger-Archivs gegründet. Das Hans-Litten-Archiv (HLA) gibt es seit 2005. Die Vorgängereinrichtung, das Rote-Hilfe-Archiv, wurde zusammen mit der Bundesgeschäftsstelle der Roten Hilfe Ende der 1990er Jahre gegründet.

Erschienen in arranca! #44

Give me a break!

Bruch und Kontinuität in linken Biographien

Momentaufnahme dieser Tage in Europa: Frankreich, Stéphane Hessel, 94 Jahre alt, Autor der Broschüre „Empört Euch“, Widerstandskämpfer der Résistance, ruft die Jugendlichen Europas auf zu widerstehen. „Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegungen und der Kampfgruppen des freien Frankreich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben.“ In Spanien nehmen Tausende von prekarisierten Jugendlichen seine Ideen auf und besetzen zentrale Plätze. In Griechenland unterstützen die Ikonen des antifaschistischen Widerstandes Mikis Theodorakis und Manolis Glezos den militanten Kampf der Bürger_innen des Ortes Keratea gegen eine Mülldeponie. In diesen alten Männern lebt die Flamme des antifaschistischen Widerstandes, offenbart sich dessen geschichtliche Bedeutung und eröffnet den Horizont, dass ein Leben in Opposition möglich ist. Und in Deutschland?

Erschienen in arranca! #44

Inhalt abgleichen